09. Mai 2018 — Land/Stadt

Let us take, as a key example, the much proclaimed conservatism of the peasantry, their resistance to change; the whole complex of attitudes and reactions which often [not invariably] allows a peasantry to be counted as force for the right wing. ... A class of survivors can not afford to believe in an arrival point of assured security or well-being. The only, but great, future hope is survival.— John Berger, Pig Earth, Blumsbury, 1979

2016:
Sagt mir ein Apfelbauer im Dorf: Alle Weinbauern sind blau.
Ja eh. Denk ich mir.
Na nix eh. Sagt der mir.
Ich red von der Wahl, der Stichwahl. Grün oder Blau.
Denk ich mir: Aber wo packts die? Denen gehts ja am besten. Die Weinberge liegen auf der Sonnenseite. Deren Höfe wachsen am höchsten. Denen gehen die Zahlen ja schon jahrelang schwarz.

Nach der Wahl 2016 war das Dorf auf der Landkarte blau gezeichnet.

Wer schwarz war, kann nicht grün werden. Sagt der Apfelbauer, hat halt weiß gewählt, denn grün kann er auch nicht. Grün wie die norm-gekrümmten Gurken. Grün wie die, mit den Idealen und dann Grenzen auf, EU und EU Vorschrift! Kommen die italienischen Pfirsiche und die Registrierkassen in den Hofladen. Und dann Vorschrift! Darf das eigene Quellwasser nicht länger für die Marmeladen verwendet werden, sondern da müssen Leitungen, 40 km Leitungen gelegt werden, tausende Euros für Chlorwasser aus dem Flachland. Die schauen nicht auf uns. Sagt er.

The twentieht-century struggle between capitalism and socialism is, at an ideological level, a fight about the content of progress. [...] Cultures of progress envisage future expansion. The future is envisaged as the opposite of what classical perspective does to a road. Instead of appearing to become ever narrower as it recedes into the distance, it becomes ever wider. A culture of survival envisages the future a sequence of repeated acts for survival. Each act pushes a thread through the eye of a needle and the thread is tradition. No. overall increase is envisaged. This may help to explain why an experience within a culture of survival can have the opposite significance to the comparable experience within a culture progress.

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Der Apfelbauer sagt: Politisch hat blau hier vorher nie eine Rolle gespielt. Die braun riechende Heimatverbundenheit, das peinliche Rockstargetu mit Volksmusik, hat ja mit den Bauern und Bäuerinnen nichts zu tun. Bei uns sind 80% schwarz. Und viele der 80% sind unzufrieden geworden. Die Roten sind für die Arbeiter und die Städte gut. Aber wenn schwarz die Zahlen nicht mehr vom rot werden schützt, gehen manche abends ins Wirtshaus und kommen eben blau nach Hause.

Nach der Wahl 2017 war das Dorf auf der Landkarte türkis gezeichnet.

Der Bauer sagt: Das ist schwarz.

Ich sage: Nein, das ist türkis und türkis ist fast blau.

Er sagt: Schwarz verschwindet nicht.

...he cannot contemplate the disappearance of what gives meaning to everything he knows, which is, precisely, his will to survive. No worker is ever in that position, for what gives meaning to his life is either the revolutionary hope of transforming it, or money, which is received in exchange against his life as a wage earner, to be spent in his “true life“ as a consumer. Any transformation of which the peasant dreams involves his re-becoming “the peasant“ he once was.

Im türkis-blauen Regierungsprogramm, Kapitel LANDWIRTSCHAFT UND LÄNDLICHER RAUM beginnt alles mit:

DAS SCHICKSAL

unserer Heimat ist eng mit der Landwirtschaft verbunden.

Österreich kann nur

frei sein,

wenn seine Landwirtschaft imstande ist, die Bevölkerung mit einem Selbstversorgungsgrad von 100 Prozent mit gesunden Lebensmitteln zu versorgen.

2018? Wie jetzt? Frei? 1955? Als es gelungen war, die ursprünglich geplante Schlussformel über die Mitschuld der Österreicher an den Nazi-Verbrechen herauszureklamieren? Hä? Österreich Selbstversorgungsgrad von 100 Prozent? 2018? Wo und in welchem Jahr befinde ich mich? Der Bauernstand muss frei und leistungsfähig sein. Hallo? Sagt der Bauer: Vor 10, vor 15 Jahren, sah das mit der Direkten-Förderung noch rosiger aus. Für die Bauern hat sich mit der EU schön was verschlechtert, die Grenzen frei und die Einfuhr ist nicht länger kontrollierbar. Beispiel: Früher mal hat der österreichische Pfirsich eine Rolle gespielt, eine marktfähige Rolle. Aber in Italien sind die Pfirsiche drei Wochen früher reif. Und wenn unsere Pfirsiche dann da sind, sind alle vollgegessen und haben keine Lust den höheren Preis zu zahlen.

... the peasant is unprotected. Each day a peasant experiences more change more closely than any other class ... a slight change for the worse - a harvest which yield twenty-five per cent less than the previous year, a fall in the market price - can have disastrous or near-disastrous consequences. [...]

Da steht im schwarzen äh türkis-blauen Regierungsprogramm:
Generelle Reduktion der Bürokratie für Klein- und Mittelbetriebe in allen Branchen. Rahmenbedingungen für die bäuerliche Direktvermarktung verbessern. Ausweitung des Versicherungsschutzes in der Land- und Forstwirtschaft, um Klimawandel, Seuchen und Wetterextreme besser abzudecken. Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der österreichischen Land- und Forstwirtschaft im Steuerrecht forcieren. Der Arbeitsplatz Bauernhof ist ein hohes Gut.

Klingt gut?

Klingt super.

Was bekommst du für einen Kilo Äpfel?

Haben wir ein Vollertragsjahr gibt es für unsere Äpfel 30 Cent pro Kilo. Haben wir ein Jahr mit geringerer Ernte kommen wir auf 50 Cent pro Kilo. Gibt es wenige Äpfel, bleiben die Äpfel im Land. Gibt es zu viele werden sie exportiert und der Preis sinkt in den Keller. Die europäische Produktion will wachsen, aber die Bevölkerung steigt nicht. Wir überproduzieren.

Im Regierungsprogramm steht nicht: Überproduktion.

Warum gehts den Weinbauern besser?

In der Steiermark gibt es viele Äpfel und es gibt wenig Wein und der wenige Wein hat ein starke Lobby. Ein Achterl ist interessanter als ein Apfelkomplott. Aber ist ja super für alle, dass es denen gut läuft. Die bringen Touristen und die Touristen kaufen im Hofladen.

Im Regierungsprogramm steht nicht: Lobby.

Der Arbeitsplatz Bauernhof ist ein hohes Gut. Der Wasserhaushalt ein wertvolles

Produkt.

Der Weg vom Landwirt zum Lebenswirt als Zukunftsicherer der Gesellschaft ergibt sich aus der Öffnung neuer Marktfelder.

Was ist ein Lebenswirt?

Das weiß der Apfelbauer auch nicht.

Im Regierungsprogramm steht: Die Struktur der bäuerlichen Familienbetriebe als Vollerwerbsbetriebe ist vor den Verzerrungen der europäischen Agrarförderpolitik zu schützen.

Von welcher Familie sprechen die denn?

Der Apfelbauer, seine Kollegen und Kolleginnen zählen sich und ihre Ahnen.
Sie wissen, haben sie Kinder, werden die sehr wahrscheinlich keine Bäuerinnen und Bauern. Bauer und Bäurin suchen Partner und PartnerInnen mit möglichst hohem Eigeneinkommen, Erbschaft, innovativen Geschäftsideen und viel, sehr viel Freizeit.

Der Apfelbauer fragt: Wer kann denn noch Bauer sein? Die Reichen aus der Stadt in Frühpension am Hobbyhof? Die Nebenerwerbler? Die Auslaufbetriebler? Die, die ihre Fläche bequem bewirtschaften und denen die kleine Subvention dazu gut kommt? Die privat verkaufen in Stadtnähe? Das geht unter keine Kuhhaut, gibt ja auch keine Kühe mehr bei uns. Ein Milchbauer mit Mutterkuhhaltung auf einer Alm war ja sowieso immer bio. Für den passen die neuen Richtlinien. Und die Grünen glauben: Die Landwirtschaft ist echt bei allen so. Dabei leben auf die Art vielleicht 5% der Bauern. Die Grünen sitzen in der grauen Stadt und verstehen etwas vom Einkaufen. Was ja auch wichtig ist. Aber uns hier nichts bringt.

Also er bleibt schwarz. Egal wie türkis es ist.

Peasant conservatism, within the context of peasant experience, has nothing in common with the conservatism of a privileged ruling class or the conservatism of a sycophantic petty-bourgeoise. The first is an attempt, however vain, to make their privileges absolute, the second is a way of siding with the powerful in exchange for a little delegated power over other classes. Peasant conservatism scarcely defends any privilege. Which is one reason why, much to the surprise of urban political and social theorists, small peasants have so often rallied to the defence of richer peasants. It is a conservatism not of power but of meaning.

Österreich braucht freie Bauern, die ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen können, die faire Preise erhalten und somit nicht von Subventionen abhängig sind.

Was steht da? Steht da: Die Bauern müssen frei von Subventionen ihr Schicksal, selbst in die Hand nehmen?

Die Subvention spielt ja eh keine Rolle. Sagt der Apfelbauer.
Also die Direkt-Förderung. Bei einem kleinen bis mittelgroßen Betrieb kommt die vielleicht auf 3000 Euro im Jahr. Was hilft ist die Investitionsförderung von 25%. Wenn man halt das Geld hat zu investieren. Das ist halt genau so, wie wenn der Kurz schreibt: Für junge Menschen ist #Eigentum die beste Maßnahme gegen #Altersarmut.

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Ich starre auf die Grafik. Ich sehe die Nadel hat den Faden verloren. Ich sehe ein Gewebe, das verwundbar ist. Ich sehe ein Gewebe, das lose wird. Ich sehe die stechende Spitze.
Ich sehe die Nadel steuert zu auf ein schwarzes Loch.
Verzeihung, ein türkises.


Natascha Gangl — geboren 1986 in der Steiermark. Schreibt Theatertexte, erarbeitet Hörstücke und Installationen. Lebt und arbeitet „zwischen“ Österreich und Mexiko, schloss Studien der Philosophie an der Universität Wien und des Szenischen Schreibens bei DRAMA FORUM ab. Ihr Prosa-Debüt Wendy fährt nach Mexiko erschien 2015 im Ritter Verlag.

→ http://www.gangl.klingt.org