04. Juli 2018 — Demagogie

Die Ängst kommt.

Die Ängst kommt.

Die Ängst kommt gleich, nein, sie kommt jetzt, nein, sie ist schon da.

Der Blick auf das Bild mit dem alleinstehenden Koffer, erstmals gesichtet in einer U-Bahn in New York, darüber die Frage, die mich verfolgt: What is wrong with this picture?

Ängst davor, dass die eigene Identität nicht selbstverständlich ist, dass du auch ganz anders sein könntest, dass du einen ganz anderen Erfahrungshorizont haben, einen ganz anderen Wahrnehmungsradius haben, einen ganz anderen Zugang zur Welt haben könntest.

Ängst davor, dass du die Marker nie loswerden wirst, die dich bezeichnen, bestimmen, kategorisieren, dass deine Haut die Grenze ist, diese Haut, das Geschlecht, das Gesicht, die Herkunft, die Talente und Unzulänglichkeiten, die dir zugeschrieben werden, nach denen du beurteilt wirst.

Achten Sie auf herumstehende Gegenstände.

Die Ängst war immer schon da.

Die Ängst vor dem ICH. Die Ängst vor dem WIR.

Die Ängst ist die Enge in deiner Kehle.

Dubravka Ugrešić schreibt: „Leichter wurde mir ums Herz, als ich in einem japanischen Bestseller den Satz las: „Komm, ich stell dich meiner Mama vor, die früher mein Papa war.“ Der Satz hat mir gefallen. Zum ersten Mal fiel mir ein, dass sich die Menschen an ihre Identität klammern, weil sie wissen, dass sie auswechselbar ist. Darum sollte man ein neues Wort in Umlauf bringen: Integrität. Denn integer können auch Menschen ohne Identität sein. Identität kann man wechseln wie einen Pass. Integrität nicht.“

Ängst vor der Frage: Was tun? Wie handeln? Wie sich positionieren? Und aus welcher Perspektive heraus?

Ängst auch vor der Sprache, der allgemein gültigen Sprache, vor dem, was als NORMAL gilt. Kann man Begriffe wie VOLK IDENTITÄT HEIMAT ET CETERA neu denken, pluralistisch und demokratisch füllen?

Die Ängst ist eigentlich ein Problem der linksliberalen Gutmenschen, so die rechte Philosophin Caroline Sommerfeld im Identitären-You-Tube-Kanal, denn nicht sie, die Rechten, würden die Gesellschaft durch Angst spalten, sondern erst das dauernde Gutmenschengerede der Linksliberalen, das den Rechten die Angstmacherei erst andichten würde, so die rechte Philosophin. Die Linken verdrehen die Worte und Sätze, so die rechte Philosophin, und dann setzt sie an, den natürlichen und gesunden Hass zu verteidigen. Der würde ihnen ja auch nur unterstellt.

Ängst, die Arbeit zu verlieren.

Ängst, keine Arbeit mehr zu finden.

Ängst nach unten durchzurutschen, einfach so.

Ängst, die keine Klasse kennt, die kennt die nicht, die Ängst, die Klasse, die braucht die nicht, die Ängst, die Klasse, ganz im Gegenteil, die Ängst wird größer, je einsamer ich bin.

Ängst vor Einsamkeit, die wird größer, je mehr ich unter Menschen bin.

Ängst vor dem Anderen, vor den Anderen, vor dem Fremden.

Ängst, die keine Lösung sucht, die nur sich selbst als Produktivkraft sucht.

Ängst vor dem, was scheinbar immer schon da war. Ängst vor der TRÄDITION.

Ängst, die die Menschen an die Urne bringt, so oder so, Ängst hin oder her, ängstfreie Politik, was war das noch einmal.

Die Ängst vor der Ängst.

Isolde Charim schreibt: „Homogen ist eine Gesellschaft nicht, wenn es keine Unterschiede gibt. Homogen ist eine Gesellschaft, wenn die Unterschiede zweitrangig werden, wenn die Unterschiede sekundär werden – angesichts des Gemeinsamen.“

Die Ängst öffnet dir die Augen, was?

Die Ängst reißt dir die Augen auf, es kommt so viel Licht rein, und du weißt gar nicht mehr, was du siehst.

Achtung: Niemals einen Koffer einfach vor der Österreichischen Botschaft in Washington abstellen und dann gemütlich einen Kaffee holen gehen.

Andreas Weber schreibt: „Die Toxizität von Menschen ist immer eine Verschwörung gegen die Lebendigkeit – auch gegen die eigene. Toxisch verhält sich jemand, der nicht mich sieht, wie ich bin oder zu sein versuche, sondern mich, gefiltert durch die eigenen Ängste und Bedürfnisse.“

Von Ängsten wurde genug geredet.

Mit Ängsten wurde genug manipuliert.

Von Ängsten wurde genug geredet.

Mit Ängsten wurde genug polarisiert.

Von Ängsten wurde genug geredet.

Reden wir von Mut.

Während ich dich küsse und mit der Zunge deinen Oberkörper entlangfahre und in deine Achsel eindringe und dann nach unten gleite und deinen Schwanz in den Mund nehme, kann ich nur daran denken, dass das, all das, das hier, zwischen uns, all das, was uns ausmacht, was ausmacht, dass du und ich überhaupt ein gemeinsames Du-und-Ich wurden, dass das bis vor vierundzwanzig Jahren noch strafbar war (bis vier Jahre nach deiner Geburt) und für die, die da draußen stehen und voll sind, voll mit VOLLK, noch immer strafbar ist, bestrafbar, und die einzige Strafe ist der Tod, und ich versuche, das wegzudrängen, während ich mit dir schlafe, aber jedes Mal, wenn die Prozentzahlen der Umfragen steigen, gelingt es mir weniger, und ich denke nur: Ruhig, ruhig, Blut. Doch mein Blut kann sich nicht mehr beruhigen. Darin war es schon immer schlecht.

Von Ängsten wurde genug geredet.

Reden wir mit Ängst.

Achille Mbembe schreibt: Die Ängst wird gebraucht, denn die Ängst ist schöpferisch, sie erfindet ihr eigenes Objekt. „Und da dieses Objekt in Wirklichkeit niemals existiert hat, nicht existiert und auch niemals existieren wird, muss es unablässig erfunden werden.“

Die Ängst reißt dir die Augen auf, weitet sie, bis es weh tut. Und verengt zugleich den Blick.

Wo sitzt deine Ängst?

Der Blick in den Spiegel und darin die Frage, die mich noch immer verfolgt: What is wrong with this picture?

Meine Weltanschauung verträgt so viel mehr als nur die eine Tonleiter, die mir diese endlose Ängstoperette andauernd vorjammert, so viel mehr Dissonanz, Differenz, Diversität, die verträgt sogar die Jammerängst, ok, die man ja auch ernst nehmen müsse, ja, wir nehmen euch ernst.

Achtung: Niemals im Umkreis von Regierungsgebäuden mit deiner Verlegerin oder deinem Verleger ein Telefonat über einen Text führen, in dem Schusswaffen vorkommen oder das Wort „Bombe“.

Gibt es eine erste Ängst?

Was war deine erste Ängst?

Die weiteste Ängst. Und die engste Ängst. Und die Ängst, die mir am nächsten ist, ist die, dass du, ja, genau du da, der du gerade in mein Leben gekommen bist und mir, einfach, indem du da warst, gesagt hast, dass nicht alles auf diesem zugrunde gehenden Planeten nur nach Marktwert gemessen wird, dass manches an mir auch existieren kann, ohne Geld abzuwerfen, dass du mich in der Nacht, während wir auf den Rädern nebeneinander herfahren, fragst, ob ich nicht bei dir übernachten möchte, und wir radeln durch diese Stadt, in der die AfD unter fünf Prozent blieb bei der Bundestagswahl, und am nächsten Morgen, als ich neben dir aufwache, ist das alles vorbei, weil du mich, als ich dir sage, dass es schön ist mit dir, anschaust, als hätte ich in dem Moment, wo ich das sagte, all meinen Wert verloren, von einer Mikrosekunde zur anderen, einfach, weil ich meine Liebe nicht mehr verbergen konnte. Aber das Tolle ist: Du schaust mich nicht so an. Denn ich sage gar nicht, es ist schön mit dir. Du bist es, der es sagt. Und die Ängst, diese Scheißängst, diese Scheißscheißängstängstängst ist nichts, woran du denkst.

Achtung: Dein Kind, das du auf die Welt bringst, kennt noch keine Ängst.

Achtung: Dieses Wort hier verändert die Wirklichkeit.

Rafft sich auf und formuliert eine Position.

Eine Handlungsposition.

ZUM BEISPIEL.

Und die Ängst, dass ich schreibe und schreibe und schreibe und dennoch ändert sich nichts an der Wirklichkeit.

Die Ängst kann mich mal.

Echt jetzt.

Von Ängsten wurde genug geredet.

Reden wir mit Ängst.

Transferiert sie.

Transkomponiert sie.

Katapultiert sie.

Die Ängst, für immer allein zu bleiben, ein Atom, das nur für sich arbeitet, in einem Universum, das so zersplittert ist, dass es gar kein Universum ist, diese Ängst verschwindet.

Die Ängst, alt zu werden und nicht jung genug zu bleiben, und mit Siebzig von den fünf Cent Rente aus der Künstlersozialkasse nicht mal mehr den Strick kaufen zu können, um das zu beenden, diese Ängst verschwindet.

Die Ängst, an die Wand gestellt zu werden, nur weil ich mich immer in Menschen verliebe, die das Geschlecht haben, in das ich mich nicht verlieben soll, die verschwindet.

Die Ängst, dass es wieder nur zwei Geschlechter gibt, verschwindet.

Die Ängst, dass Gleichberechtigung nur drei Minuten dauert, verschwindet.

Die Ängst, keine Stimme zu haben, keinen Platz in der Welt, nicht gehört zu werden, die Angst vor Bedeutungslosigkeit, verschwindet.

Die Ängst, dass es wieder nur ein herrschendes Geschlecht, eine Hautfarbe, eine Religion, eine Stimme, ein Volk, einen Kontinent und eine Art, zu lieben, gibt, diese Ängst verschwindet.

Die Ängst verschwindet.

Die Ängst kommt.

Die Ängst war immer schon da.

Egal.

Die Ängst kommt und verschwindet.

Sie hinterlässt Spuren der Begreifbarkeit.

Veränderbarkeit.

Veränderbarkeit.

Veränderbarkeit.

Ist immer schon da.


Der Text entstand für die Eröffnung der Literaturkonferenz "Ängst is now a Weltanschauung", die von 14. bis 17. Juni 2018 im Ballhaus Ost in Berlin stattfand.