01. August 2018 — Demokratisierung

Es gab eine Zeit, da meinte ich, die Angst schützen zu müssen. Aus dieser Zeit hängt ein schwarzer Zettel mit einem Zitat von Erich Kästner an meinem weißen Kleiderschrank: »Wer keine Angst hat, hat auch keine Phantasie.«

Es war die Zeit, als Therapeuten sich gefühlt an jeder Ecke niederließen und jede menschliche Macke anfing der Therapiewürdigkeit verdächtig zu werden. Junge Frauen legten sich im Studium nach dem Besuch in der Bibliothek auf die Couch und die Visitenkarte eines Jeden, der etwas auf sich hielt, war seine Angststörung. Angst war ein Gefühl, das es einmal zu retten galt, vor all jenen, die es therapieren wollten. Inzwischen will man es nicht mehr therapieren. Angst ist eine politische Kategorie geworden: Wer Angst hat, der hat recht.

Doch wessen Angst hat politisch Gewicht? Was zählt die Angst der Menschen, die sich aus einem Krisengebiet aufmachen und nicht wissen, ob sie die Menschen wiedersehen, die sie lieben? Was zählt die Angst derer, die in deutschen Unterkünften Angst vor Anschlägen haben? Was zählt die Angst derer, die den Mund nicht mehr aufmachen wollen, weil Hass und Pöbelei Normalität geworden sind? Die Ängste einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe, die Angst vor Wandel hat, besetzen den Begriff und machen ihn zum politischen Druckmittel. Nur ihre Angst scheint zu zählen. Wandel meint hier jedoch nicht künstliche Intelligenz, Forschung, Umweltkatastrophen und demografischen Wandel. Wandel meint vor allem Menschen, die man nicht kennt.

Dichtung war einmal ein Weg, sich die Welt zu erdichten. Willst du etwas erleben, geh nicht unter die Dichter, geh unter die Politiker, Reichen und Abenteurer, sagte der US-Schriftsteller Cormac McCarthy in einem seiner wenigen Interviews. Wer das Wort sucht, sucht es, um die Welt zu vermeiden. Zumindest verzichtet er in der Zeit, in der er dichtet, darauf, der Welt im Außen zu begegnen. Besonders im deutschsprachigen Raum ist dieser Rückzug eine angesehene Phantasie: Was hat die Kunst schon mit der Welt zu tun? Die Kultur dient hierzulande oft als Schutzraum für die Verletzlichen, Sensiblen, Äußerungsbedürftigen aber Reaktionsfürchtigen. Als wären alle jenseits des Kulturbetriebs Menschenmaschinen, mit denen die Gesellschaft arbeiten kann – und der Kulturbetrieb sammelt den kleinen Bodensatz an Revoluzzern, Rebellen und Regressiven in einem Reagenzglas, auf dass sie von dieser Welt nicht verletzt werden.

Dieses Sammeln findet dann in Kulturzentren statt, ironischerweise häufig innerhalb von Ausbeutungsbetrieben. Wenn ich es richtig erinnere, war es Marlene Streeruwitz, die einmal in einem Interview die These aufstellte: Die rebellischen Kräfte habe man in Deutschland in Theatern ruhiggestellt. Ja, und was tun sie dort? Sie reiben sich ab an den Brettern, die die Welt bedeuten – und nicht an der Welt an sich. Sie erreichen einen geringen, kulturaffinen Teil der Gesellschaft: das theaterinteressierte Publikum. Das Problem ist nicht mehr die Kultur, sondern die klar eingegrenzten Räume, die geschaffen wurden, sie zu konsumieren; sowie die Tatsache, dass diese künstlich geschaffenen Räume viel zu vielen Menschen außerhalb dieser Räume suggerieren: Dich geht das alles nichts an, das dort sind die Dysfunktionalen, für die unsere Gesellschaft gewisse Räume lässt. Diese Wahrnehmung ist auch Symptom einer Krise der Kulturinstitutionen: Wie erhält das, was wir tun, in der heutigen, aufgewühlten Zeit eine Relevanz, ohne dass es Kreativen die Möglichkeit nimmt, Gegenwelt zu sein? Und wo sind die Kulturschaffenden selbst zu verorten in einer Zeit, in der die Institutionen sich in der Krise befinden?

Es gibt da derzeit diesen unerträglichen Widerspruch: dass Angst, Verletzbarkeit, Zerbrechlichkeit Zustände sind, die uns über das Menschsein erzählen. Und dass Angst plötzlich ein politischer Begriff geworden ist, der für eine Agenda herhalten muss, die für das Gegenteil von Verletzbarkeit und Zerbrechlichkeit steht, nämlich Dominanz, Kontrolle, Aggression, Überlegenheit.

Unser Beitrag? Dass wir keine Angst vor der Angst haben.

Dass wir sie dichten und singen können, dass wir sie tanzen können, dass wir sie spielend zerreden und anziehen können, dass wir nicht von ihr beherrscht werden und sie auch nicht zu beherrschen suchen.

Politik darf nicht zur Sphäre der Angst werden.

Kluge Entscheidungen werden nicht auf dem Rücken ängstlicher Demokraten gefällt. Schon gar nicht, wenn diese Ängstlichkeit egoistisch, kleingärtnerisch ist und bequem. Wenn sie das eigene Glück vor alles andere stellt. Was, wenn die Ängstlichen den Politikern den Weg diktieren – oder nutzt ein bestimmter Typus Politiker die Ängste als Ausrede für eine immer autoritärere Politik? Wer heizt hier wen auf? Wer benutzt die Ängst?

Wenn German Ängst zur Weltanschauung erhoben werden soll, dann ist es Zeit, dass die Ängstlichsten kommen, die Schriftsteller und Künstler, all jene, die zeigen, es geht auch ohne all das:
Deine Macht ist die Grundlage dafür, dass mein Publikum lacht. Deine Wichtigtuerei wird zur Kraft, die mein Text durch die Entblößung dieser Wichtigtuerei findet. They fuel us.

Der Progressive ist heute der Furchtlose

Es ist viel die Rede davon, dass die Alternativen nun die Reaktionären geworden sind. Und wir keine Antworten mehr haben auf die Fragen der Zeit. Der Progressive ist heute der Furchtlose. Einer, der von der Welt um sich herum verlangt, dass sie erwachsen ist, dass sie ihren Teil sieht und die Möglichkeit, zu wirken. Es ist schon eine erbärmliche Zeit, in der die Künstler erwachsen werden müssen – aber man muss noch Träume an die Stelle setzen können, an der Ängste sind.
Man muss eine Utopie des Zusammenlebens wagen ohne Angst, sich der Lächerlichkeit preiszugeben.

Man muss die Welt, die man erdichtet hat, ebenso verteidigen, wie die Welt, die es einem ermöglicht, zu dichten.
Das Technokratische darf das Poetische nicht in einer dekorativen Ecke unserer Zeit verorten.
Und das Poetische kann nicht einfach dastehen, die Hand aufhalten und hoffen, dass einer hersieht. Wir können Funken sprühen: Funken der Phantasie und der Menschlichkeit. Abgründe ausleuchten, schonungslos und frei von Abhängigkeit. Denn mehr als dem Gemeinwesen gehören die Künste ihrer Poesie, ihrer Phantasie – eine Freiheit, die sie vom Diktat des Gemeinwesens befreit.

Ich möchte eine Szene erzählen aus den Zeiten, als Jugoslawien zerfiel, als sich abzeichnete, dass dieses Land untergehen würde. Brüderschaft war einer der Leitbegriffe dieses Landes, Fraternité; noch im Sommer zuvor waren die Menschen dieses Landes friedlich an den Esstischen gesessen. Rade Šerbedžija, Schauspieler, nutzte damals die Live-Übertragung eines Friedenskonzerts für Jugendliche, um sich mit einem Gedicht zu widersetzen.

Ein Gedicht aufsagen, um sie aufzuhalten.
Es gibt ein YouTube Video von dieser Übertragung. Man sieht ihn backstage neben einer Moderatorin fluchen, fassungslos, dass sein Land in den Krieg ziehen wird. Er rennt auf die Bühne und spricht zu den Tausenden Jugendlichen:
»Lasst uns gemeinsam auf dem Boden liegen, dass sie uns so filmen und dieses Bild durch alle Hauptstädte geht«, sagte er.
»1, 2, 3 ... jetzt!«
[Und tausende junge Menschen legten sich auf den Boden]
»Und dann sollen sie auf uns herumtreten, wenn sie wollen.
Und ich werde im Liegen ein Lied von Tin Ujević sprechen:

Kako je teško biti slab,
kako je teško biti sam,
i biti star, a biti mlad!
[…]
I gaziti po cestama,
i biti gažen u blatu,
bez sjaja zvijezde na nebu.
[…]
O Bože, Bože, sjeti se
svih obećanja blistavih,
što si ih meni zadao.

I prekidam pesmu Tina Ujevića, samo da kazem svima i celoj Jugoslaviji
Da smo mi legli, pa ako hoce da gaze neka gaze pičku materine. Ljubim vas!«

»Wie schwierig ist es, schwach zu sein
Wie schwierig, schwach allein zu sein
Und alt zu sein
Und doch so jung
[…]
Und auf den Straßen zu treten
Und im Matsch getreten zu werden
Ohne den Glanz eines Sterns am Himmel
[…]
Oh Gott, Gott erinnere dich an deine funkelnden Versprechen
die du mir aufgetragen hast.

Und ich unterbreche das Gedicht von Tin Ujević um allen in ganz Jugoslawien zu sagen: Wir haben uns auf den Boden gelegt, wenn sie wollen, sollen sie uns zertreten, pičku materinu. Ich küsse euch!«

Ich lerne daraus, dass wir Gedichte rezitieren sollen, ohne uns zu fragen, was sie bewirken werden. Sie haben nicht in den Lauf der Geschichte eingegriffen, aber sie haben gewirkt, bis heute, zum Beispiel in mich hinein – und in euch jetzt. Ich habe gelernt, dass wir das Schwache in uns lieben müssen und uns nicht durch den Hass in hassende Fratzen verwandeln lassen dürfen. Aber aufrecht stehen bleiben sollten wir dieses Mal, mit Kraft und Liebe zu menschlicher Verletzlichkeit stehen, um die Welt zu verteidigen, die man für lebenswert erachtet. Ljubim vas.

Dieser Text war die Grundlage für die frei gehaltene Eröffnungsrede
von Jagoda Marinić zur Literaturkonferenz Ängst is Now a Weltanschauung
von Nazis und Goldmund im Ballhaus Ost am 14. Juni 2018

––

Ein Interview mit der Jagoda Marinić führte Juliane Noßack im Rahmen des Blogs zur Konferenz >> konferenz.nazisundgoldmund.net/blog/im-gespraech-mit-jagoda-marinic-gegen-die-verrechtsung-der-welt


Jagoda Marinić — HRV/DEU Autorin, Publizistin und Kulturmanagerin. Studium der Politikwissenschaft, Germanistik und Anglistik an der Universität Heidelberg. Zahlreiche Publikationen, zuletzt 2016 Made in Germany – Was ist deutsch in Deutschland?, Hoffmann und Campe. Schreibt regelmäßig für die taz, Süddeutsche Zeitung, und Deutsche Welle. Seit 2012 verantwortlich für die Konzeption und Gründung des Interkulturellen Zentrums der Stadt Heidelberg. Vorstandssprecherin der bundesweiten Stiftung Internationale Wochen gegen Rassismus.

→ https://www.jagodamarinic.de/→ Twitter→ Instagram