16. Januar 2019 — Demokratisierung

Auch alle Fragen machen weiter, wie alle Antworten weitermachen. Der Raum macht weiter. Ich mache die Augen auf und sehe auf ein weißes Stück Papier.

— Rolf Dieter Brinkmann

Es kann nicht an der Zeit sein,
Gedichte zu schreiben, doch jetzt nicht,
heute nicht,
überhaupt nie nicht.

Denn die Romane machen weiter.
Die NS-Romane und
die DDR-Romane und
die Wende-Romane und Nachwende-Romane
und die Nachnachwende-Romane
machen alle weiter.

Die Wendeschleifen machen weiter.
Die Kreisverkehre und Kreuzungen machen weiter.
Die Ein- und Ausfallstraßen.
Die Städte machen weiter.
Die ländlichen Räume auch.
Die Rittergüter und Landschlösser.
Die Jugendzentren.
Die Seniorenbegegnungsstätten.
Die Arbeiterwohlfahrtsstuben,
sie machen weiter.

Die Plakate machen weiter.
Die Wahlen machen weiter.
Die Urnen für die Stimmabgabe machen weiter.
Und die Urnen für die Abgabe der sterblichen Überreste
auch.

Und du,
du stehst da,
du kleines bißchen in die Jahre gekommen Demokratie,1
und ich winke dir mit dem letzten Hemd
zu, das mein Großvater mir überließ,
kurz bevor er –2

Exzess.
Rappzapp.
Schnickschnack.

Schon wieder ein Jahr
vorüber. Ich hab
schon wieder ein Jahr
über.

Und alle machen weiter.

Die Wahl macht weiter.3
Die Klassen machen weiter.4
Die Alten machen weiter.5
Die Jungen auch.6
Die Freude macht weiter.7
Und der Norden macht weiter.
Und der Norden macht weiter.
Und der Norden Norden macht weiter.
Und der Norden Norden Norden
macht
weiter.

Das global warming macht weiter.
Die Bienen summen.
Und die Frösche hüpfen.
Und die Zugvögel ziehen.
Und Beatrix vom Storch macht weiter und weiß,
wer am Klimawandel schuld ist:
die Sonne.

KANN SIE NICHT MAL WENIGER HEISS SEIN,
DIE LINKSGRÜN VERSIFFTE SAU?

Die Sonne macht weiter.
Der Regen macht weiter, vor allem
der Regen über dem Münsterland.
Die Dämmerung macht weiter.
Die Wolken machen weiter und verdecken
die Sterne, die weitermachen,
bis sie schon lange fort sind.

Das Verschwinden macht weiter.
Das Verwinden macht weiter.
Das Verwarnen.
Das Verwohnen.
Das Vertonen.
Das Erstaunen.
Das Verstauen.
Das Verdauen macht weiter.

Und die Kanalisation macht weiter.
Die Müllabfuhr macht weiter.
Der SPAM macht weiter und
der Nicht-SPAM auch.
Die Followermachen weiter.
Die Influencer zum Glück auch.
Die einen hier, die anderen dort.
Ja, Twitter twittert weiter.
Und die anderen, nicht ganz so sozialen Medien
machen nicht nur weiter,
die machen durch, von Montag bis Montag,
von einem Jahr bis ins nächste
machen die durch.8
Fox News newst weiter.
Donald Trump trumpt weiter.
Und Teresa May?9
Und Angela Merkel macht es noch.
Und Sebastian macht kurz den Mund auf,
aber zu spät.

Wie spät?
Ganz Wien schläft lang und will gar nicht mehr aufstehen,
als läge ein Sack Zement in allen Gliedern.

RÜHR IHN NICHT AN!10

Die Zementmischer mischen weiter.
Die Gabelstapler stapeln weiter.
Die Kräne hieven weiter.
Die Baubrigaden 11
bauen weiter.
Es muß doch weiter gebaut werden,
am Gemeindebau.12
Es muß doch gebaut werden.

And in the meantime,
in the mean, mean meantime,
während alle anderen schlafen.13

NEIN!

Nicht alle schlafen.

Die Theater machen weiter.
Die Museen und Galerien machen weiter.
Die Literaturhäuser machen weiter.
Die Konzerthäuser machen weiter.
Die Konzerte machen weiter,
die Neujahrs-, die Altjahrs-, die Altlast-
Konzerte machen weiter.
Die Clubs machen weiter.
Die Schulen machen weiter.

Die letzten Holocaust-Überlebenden machen weiter.14
Die Gedenkstätten machen weiter.
Die Erinnerungskultur macht weiter,
sie macht sich auf, noch weiter auf,
sie MUSS weitermachen, sie kann nicht
anders, sie bemüht sich nach Herzen, nicht
mehr nur vorgestellt zu werden, sondern sich
dem Erinnern zu stellen,
zu stemmen, sich gegen den neuen
Faschismus zu stemmen, denn wenn
sie sich nicht gegen ihn stemmt, war ihre gesamte Existenz
sinnlos, mit einem Schlag.
Das Erinnern macht weiter.15

Die Schläge machen weiter.
Und die Ehe macht weiter, denn sie ist, wie sie ist,
und sie ist schon immer gewesen, wie sie früher war.

Und die Frau macht weiter.
Die Frau, die, selbst wenn sie das nicht will, immer alle Frauen ist, macht weiter und weiter.
Die Schwulen und Lesben und Bisexuellen machen weiter
ihre Paraden.
Die Transgender machen weiter,
die Gender Studies auch.
Die Menschenrechte machen weiter.
Und Europa macht weiter, dieses Fantasma der Fantasmen.

Und es ist an der Zeit, Reden zu schreiben
über Europa, nicht: anderen Reden zuzuschreiben,
aber: andere Reden zu schreiben.

Denn die Faschisten
machen weiter.
Die Neonazis machen weiter.
Die Identitären machen weiter.
Die schlagenden Verbindungen,
bis in die Ministerien hinein durchschlagenden Ver-
bindungen machen weiter.
Die Wie-sie-sich-noch-so-nennen-in-ihren-Schafspelzen
machen weiter, schnell schnell,
husch husch.


Und die Grenzen machen weiter, sie sind
(sich) sicher.
Und der Raum macht weiter.
Und die Zeit zwangsläufig auch.

Und die Flüsse machen weiter:
die Donau und der Rhein und die Ruhr,
Und das Ruhrgebiet macht weiter,
der letzten Zeche
Schließung zum Trotz.

Und mein Boyfriend?
Fängt sich eine
Erkältung ein.
Ich vermisse ihn und
stelle mir vor, wie er im Bett liegt
und fiebert und von diesem Haus träumt, das nennt sich
Demokratie. Währenddessen träume ich von ihm,
ebenso fiebernd, wie immer, wenn ich von ihm träume,
von dem Fisch, tätowiert auf sein
linkes Bein, und der Fisch
freut sich
über seine Freiheit, in den Händen
eines Menschen.

Und dann wache ich auf.

Und die Ängst macht weiter.
Der Optimismus macht weiter.
Die Optimierung macht weiter.
Die Lässigkeit.
Die Fahrlässigkeit.
Die Übergriffigkeit.
Die Überwachung.
Die Überwindung.
Die Übersendung.
Die Übersetzung macht weiter.
Das Original hinkt hinterher und
flitzt voraus, zur selben Zeit.
Die Imitationen machen weiter.
Die Limitationen machen weiter.
Die Sympathien.

Und wieder mal begeben wir uns in eine
Umarmung, doch
alle Umarmungen sind asymmetrisch,
und da streikt das Symmetriebestreben meines Boyfriends,
er ist Architekt.

Aber wenn ich dich
umarme,
dann nur, um dich und mich in dieser Umarmung
gleich zu dekonstruieren.
Und zu flüstern:

Wir machen weiter.

Mein Boyfriend macht weiter.
Und ich, ich mache weiter und schicke
ihm Kußemojis, die es gar nicht gibt.
Die Emojis machen weiter.
Die Küsse machen weiter.
Die Gedanken gehen weiter und wollen nicht
akzeptieren, daß sie anhalten
sollen. Es gibt keine
weißen Papiere mehr.
Die Gedichte machen weiter.
Und diejenigen, die sie schreiben.
Und diejenigen, die sie nicht schreiben?
Und diejenigen, die nicht schreiben, sogar auch.

Denn auch Autocorrect macht weiter,
die DUCKING Autocorrect gibt niemals auf.
Und, Baby,
wenn ich irgendwann
(betrunken)
ICH LIEBE DICH schreiben sollte,
war das Autocorrect.

Also schreiben wir
weiter.


  1. Und ich denke noch: Ich lerne dich gerade erst kennen, mich stört es nicht, daß du schon siebzig bist. 

  2. Und niemand wußte mehr, in welcher Division er nun gewesen war, und ob der 19. Buchstabe des Alphabets, des lateinischen, darin vorkam, doppelt gar. Und niemand wollte es wissen. Nicht, als er noch lebte. Nicht, als er nicht mehr lebte. Nicht, solange wir leben. A B C D E F G H I J K L M N O P Q R 

  3. Die Wahl zwischen Rassismus und Sexismus, dabei gehen sie Hand in Hand. 

  4. Und alle sagen: Sag nicht Klasse! Sag: Schicht! Sag: Background! Sag: Milieu! 

  5. Nur nicht die Alten, die arm sind. 

  6. Nur nicht die Jungen, die Europa lieben. 

  7. Die Herrschaftsfreude, die früher mal Imperialismus hieß oder Kolonialismus, auch die sehnt sich wieder und immer noch und immer wieder nach mehr. 

  8. Und manche sind schon durch, sind durchgestoßen, sind gelandet, auf dem Index, als Lügenpresse. 

  9. Mei. 

  10. Doch ist er schon angerührt, der wird eher noch fester mit der Zeit, verfestigt sich in der Zeit. 

  11. Die keine mehr sind, die nicht mehr bestehen, oder: die nur noch bestehen aus Illegalen und Unterbezahlten, aus Legalen und Unbezahlten. 

  12. Am gemeinen Bau, er ist nicht gemein genug, denn die liberale Demokratie, sie muß umgebaut werden. 

  13. Schlafen, aus Erschöpfung, weil nur im Traum, nur jenseits aller Realität die Kraft da ist, zu verstehen, daß es wieder zu einer faschistischen Gesellschaft kommen kann, ein paar Jahrzehntelsekunden nach Ende des Krieges. 

  14. Sie gehen von Schule zu Schule und erzählen, erzählen, was ihnen widerfahren ist, doch niemand hört zu, sie erzählen die falsche Geschichte, von falscher Schuld, wir wollen doch die Entschuldung, nein, wie heißt das, Entschuldigung, also, wollen doch nicht schuld sein. Und ich weiß immer noch nicht, wo genau in diesem verdammten Krieg mein Großvater nun was wem angetan hat. 

  15. Doch es liegt schief, das Erinnern, es kennt nicht die Schönheit, wenn zwei Seiten einer Sache auf sich selbst abgebildet werden können, weil sie sich entsprechen, es gibt meinen Großvater, der nichts getan hat, von dem die Dorfgemeinschaft klar sagte, der hat nichts getan, und es gibt meinen Großvater, von dem niemand weiß, was genau er getan hat, und so kommt keine Symmetrie zustande, und dazwischen gibt es noch etwas Drittes, etwas, das weder HAT NICHTS GETAN heißt, noch HAT WAS GETAN, es gibt etwas zwischen den beiden, das wieder alle Logiken von Recht und Gerechtigkeit unmöglicht macht, doch das auszuhalten und damit zu kämpfen, ist das nun Theater des Erinnerns oder das Erinnern selbst? 


Jörg Albrecht — geboren 1981 in Bonn, aufgewachsen in Dortmund, lebt in Berlin. Er schreibt Prosa, Essays, Hörspiele sowie Texte für Theater und Performance. Seit 2018 baut er als Gründungsdirektor das Center for Literature auf Burg Hülshoff bei Münster auf. Jörg Albrecht ist Mitglied des PEN-Zentrums Deutschland.

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