04. April 2018 — Migration

Mitte März – wenige Stunden bevor ich zum zweiten Mal nach Wien reise, um am dortigen Schauspiel all jenes über Mitwisserschaft zu erfahren, was bei der Übersetzung von Prestuplenije i nakasanie verloren gegangen ist – sitze ich auf einer Bank im Londoner Hyde Park und lasse ein Yo-Yo auf- und abschnellen, das ich für den Preis von nur einem Pfund in der Feinkost des Warenhauses Harrods gekauft habe. Trotz des Golfstroms bedecken Schneereste den Rasen, der erst kürzlich neu verlegt worden ist, weil sich dort, wo nun meine Turnschuhe in der letzten Lake des Winters stehen, für die Dauer der Adventszeit eine Kirmes nach deutschem Vorbild befand, das Winter Wonderland, dessen Besucherzahlen wohl auch der Angst vor Terroranschlägen wegen einbrachen, obwohl seit jenem Tag im Oktober, als wir in diese Stadt gezogen sind, kein junger Mann mehr dahingehend einen Versuch unternommen hatte. Und während der Frühling also auf sich warten lässt und Martin dreißig Meilen weiter nördlich die Einreise ins Vereinigte Königreich verwehrt wird, nimmt Neil Herron, Anführer der Metric Martyrs, neben mir Platz. Wir plaudern eine Weile über die Bürgerinitiative und ihren Kampf gegen das metrische System, decimetre, centimetre, manometre, sagt Neil und reißt ein Pint London Pride auf, das er bis eben in seinem Bomberjäckchen versteckt gehalten hat. Ich lache und lege mein Yo-Yo auf die Bank. Fuck them all, ergänzt Neil und trinkt die Dose in einem Zug leer. Am Flughafen London Luton wird Martin derweil von einem Beamten des Home Office in einen fensterlosen Raum geführt, der eigentlich gar kein Raum ist, sondern bloß eine Anordnung von Wänden in einer großen Halle. Martin will twittern: »Im Enddarm der Transitzone«, oder eine Instagram-Story posten, will beweisen, dass er in dieser Zelle, wo er nun die Abschiebehaft erwartet, wirklich den Koran unter die Bibel geschoben hat, dass er diesen Kreuzzug des kleines Mannes – den er selbst Deus-Vult-Protest nennt – also knallhart durchgezogen hat, aber er kann nicht, weil ihm das Smartphone weggenommen wurde. Weggenommen von einem muslimischen Kleinstbeamten, denkt Martin trotzig. Neil zerdrückt währenddessen die Büchse in seiner Faust. Aktuell engagiere er sich ja vor allem im Kampf gegen Knöllchen, parking spaces, circumstances, erklärt er und fährt mit der Innenfläche der Hand über seinen glattrasierten Schädel. Martin hingegen langweilt sich und denkt an seine Mutter, daran, wie sie ihm, als er noch ein Kind gewesen ist, alles über die Tücken der Wiederbetätigung erzählt hat, und daran, wie sehr sie Jane Austen und englische Landhäuser mag – dann schließt er die Augen und sieht das liebe Gesicht der Mutter, die ihm am Easy-Jet-Schalter ein schönes Lunchpaket überreichte, Lebewohl sagte und ihn ermahnte, er solle, wenn er seine Rede am Speakers’ Corner halte, laut und deutlich sprechen und die Brille absetzen, weil er mit Brille einfach urfad aussehe. Brexit, fuck, grunzt Neil und bietet mir einen Schluck aus einer Dose an, die bis eben in seiner linken Socke gesteckt hat. Ein Mann ohne Knast ist wie ein Baum ohne Ast, denkt Martin und beginnt den Ärmel seines Fred-Perry-Polos zu zerbeißen. Neil und ich sind jedoch allerbester Dinge, stehen von der Bank auf und laufen so rum, vorbei am Diana Memorial Fountain, von dem er mir erzählt, seine Begehbarkeit sei ein Symbol für den volksnahen Charakter der Prinzessin, sie habe ja gut mit den Untertanen gekonnt, vielleicht, überlegt Neil, weil die Prinzessin selbst nur Hauptschulabschluss gehabt habe, jedenfalls seien kurz nach der Eröffnung einige Besucherinnen auf den nassen Steinen des Brunnens ausgerutscht und hätten sich beim Sturz ihre Steißbeine geprellt (oder schlimmeres!), und das habe natürlich, resümiert Neil, alles in allem einen sehr britischen Beigeschmack. Als Martin aus einem Dokument des Home Office, das ihn als »unacceptable character« ausweist, ein Origami-Eichhörnchen zu falten anfängt, und wir am Teich des Kensington Palace entlang spazieren, wo eine Möwe auf Neils Glatze landet (die er sofort mit essigsauren Chips zu füttern beginnt), bricht zwischen den Wolken endlich die Sonne durch. Was er denn eigentlich von Harrys Verlobung halte, will ich wissen und da fletscht Neil die Zähne, Meghan Markle, mixed race, lacht er und schüttelt eine Hand, als habe er sie unter zu heißes Wasser gehalten, mit der anderen fingert er weiterhin in der Chipstüte herum. Als die Möwe davongeflogen ist, denkt Martin dreißig Meilen weiter nördlich zum ersten Mal seit Stunden an seine Freundin, die nebenan in einer Frauenzelle sitzt, durchaus sorgenvoll, weil er sich ausmalt, dass es die ein oder andere muslimische Rapegang auf die amerikanische Patriotin abgesehen haben könnte – Martin hat da so manches im Internet gelesen beziehungsweise selbst geschrieben, wer ist er, um dazwischen zu unterscheiden – und während er also über Massenvergewaltigung und die eigene Machtlosigkeit nachsinnt, verspürt Martin plötzlich seine einsetzende Erregung. Du kleiner Cuckhold, schimpft er selbstkritisch und drückt mit beiden Handballen auf den Reißverschluss seiner Hose. Am Albert Memorial öffnet Neil das, wie er feststellt, letzte Pint. Afrika, Asien, Amerika und Europa, Kamel, Elefant, Büffel und Stier, erklärt er und deutet mit dem Bier auf die allegorischen Darstellungen der Kontinente. Es sei zwar schade, dass sich das imperiale System in den alten Kolonien nicht überall habe halten können – okay, America, fair enough – aber man müsse ja auch mit der Zeit gehen und überhaupt, zumindest seien die Leute jetzt hier und also allesamt Briten und das sei schon nicht wenig, sagt Neil und lächelt grimmig dem goldenen Prinzen entgegen. Durch die Erektion in den politischen Modus versetzt, denkt Martin über die Lage der indigenen Engländer nach. Düstere, endzeitliche Gedanken befallen ihn. Er findet, der totalitäre multiethnische Staat vernichte nicht bloß die Kelten und Angeln und Sachsen, sondern auch ihn, Martin, ja, mehr noch, Theresa gebe sie alle dem Tode preis. Schon hält er sich für Gramsci, schon beginnt er eine Gefängnisrede auf die gefalteten Pfötchen des Eichhörnchens zu schreiben, derweil Neil mir im Hyde Park verrät, dass das männliche Intimpiercing aus Gründen nach Prinz Albert benannt worden sei. Feixend schlagen wir den Weg zurück in die Stadt ein, um im Nobu noch ein warmes Gläschen Sake zu schlürfen, als Martin vor den Beamten des Home Office mit seinem Stuhl kippelt und fragt, ob man ihn, wenn Österreich schon nicht ginge, wenigstens in ein anderes deutsches Land ausfliegen könne, Deutschland zum Beispiel, schlägt Martin blauäugig vor, aber die Beamten verstehen nicht, ratlos blicken die beiden sich an, dann sagt der eine zum anderen, die Zeit könne selbst der Zoll nicht zurückdrehen, haha, machen sie und zu Martin gewandt, er müsse da jetzt durch, nein, wieso denn?, Abschiebehaft, das klinge doch gar nicht nett, nein, man fahre ihn gleich in eine Art, hoho, Hostel, und da kapituliert Martin schließlich und erinnert sich an den Putzplan des Schiffes C-Star, der ihm letztes Jahr im Sommer – als er und seine Freunde auf dem Mittelmeer versuchten, Menschen vom Schlauchboot zu treten – immer dann unnötig erschien, wenn er selbst an der Reihe war, weswegen der Abort dort, wohin man ihn nun bringen würde, keinesfalls schlimmer aussehen könnte – das also denkt Martin noch, dann greift sich Neil das Mikro der Karaokemaschine und singt:

I guess now it’s time for me to give up
I feel it’s time
Got a picture of you beside me
Got your lipstick mark still on your coffee cup
Oh yeah
Got a fist of pure emotion
Got a head of shattered dreams
Gotta leave it, gotta leave it all behind now
Whatever I said, whatever I did
I didn’t mean it
I just want you back for good
Want you back, want you back, want you back for good
Whenever I’m wrong
Just tell me the song and I’ll sing it
You’ll be right and understood
Want you back, want you back, want you back for good
I want you back for good


Pascal Richmann — geboren 1987 in Dortmund. Er schreibt Theatertexte, Essays, Erzählungen und ist Mitglied der Akademie für Letalität und Lösungen. 2017 erschien sein essayistischer Bildungsroman Über Deutschland, über alles im Carl Hanser Verlag .

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