07. Juni 2017 — Migration

milleniumsprolog in freien versen
am 01.05. 1999 wird marcus omofuma während einer abschiebung von wien nach österreich von drei österreichischen polizisten getötet.

wladimir putin wird neuer russischer präsident.

„national befreite zone“ wird zum unwort des jahres erklärt.
in hannover findet die erste weltausstellung in deutschland statt, die expo 2000.

der pyrenäen steinbock stirbt aus.

im juni entdecken britische zollbeamte fünfundachtzig leichen hinter tomatenkisten bei einer routinekontrolle eines lkws.
dr. baschar al-assad wird staatspräsident von syrien.

die aldabra schnecke stirbt aus.

der euro erreicht sein bisheriges allzeittief gegenüber dem dollar.
angela merkel wird bundesvorsitzende der cdu.

seit dem jahr 2000 wurde kein lebendes exemplar des kletterbeutlers mehr gesichtet.

am 05.05.2000 kommt es um 10:08 mesz zu einer sehr seltenen planetenkonstellation: von der sonne aus gesehen zu einer syzygie, von der erde aus gesehen zu einer konjunktion, bei der erde, mond, sonne, merkur, venus, mars, jupiter und saturn fast auf einer linie stehen.

die nächste solche konstellation kommt erst wieder 2675.

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und ein chor sitzt vorm rechner und überlegt immer noch, was das mit der zeit eigentlich einmal gewesen sein wird, also dann, wenn er, der chor, einmal nicht mehr sein wird, was das dann alles bedeutet haben wird, wie man darüber sprechen wird, was sich schubhaftbeamte zum beispiel gedacht haben werden, an ihrem letzten arbeitstag, bevor sie sich für die moderjahre auf die veranda zurückziehen, die pension haben wir uns ja hart erkämpft am schreibtisch, denken die sich vielleicht, oder: wir haben die massive zuwanderung in unsere sozialsysteme mit allen uns zur verfügung stehenden mitteln tapfer verteidigt!

genau, weil damals im ersten viertel des einundzwanzigsten jahrhunderts haben wir keine uniformen mehr gebraucht, wir haben keine schützengräben mehr durch die landschaft gezogen, wir haben keine mauern gebaut, unsere panzer sind nur zur einschüchterung herumgefahren und an staatsfeiertagen, stattdessen haben wir von unseren schreibtischen aus handelskriege geführt, wir sind von unseren schreibtischen aus drohneneinsätze geflogen und wir haben von unseren schrei-tischen aus soziale kürzungen für ortsfremde durchgesetzt, wir waren in der opferrolle lange bevor es die anderen sein wollten, die wie die barbaren über uns einhergefallen sind, wir haben unsere sozialsysteme von unserem schrei-tisch aus mit flaggen, twitter und trompeten geschützt vor zuwanderung, vor unterwanderung, vor dem kollaps, wir haben unser system verteidigt, alternativlos, das größte und schönste system der geschichte, das sich der mensch je ausdenken konnte, der mensch, also wir, und darauf können wir heute jahrzehnte später stolz sein, wie wir es denen damals gezeigt haben, die in unsere sozialsysteme sich hineinschleichen wollten, wie man das anderswo, in unzivilisierten landstrichen vielleicht machen kann, aber sicher nicht bei uns, sicher nicht hier, wo der humanismus ausgerufen wurde für einen kleinen teil der welt, der statuen von sich in die zeit hineingebaut hat und bilder gemalt hat und überhaupt der freie mensch und aber die sozialsysteme, die gehören bitte uns und unseren frauen, unseren kindern, unserer zukunft, die haben wir mit viel kraft wiederaufgebaut die sozialsysteme, nachdem die schon einmal in trümmern lagen zu beginn des letzten jahrhunderts und in der mitte des letzten jahrhunderts und halt jetzt auch quasi zu beginn dieses jahrhunderts, aber auch dieses mal konnten wir sie verteidigen gegen die überflüssigen, gegen die sozialschmarotzer, die sich an unseren töpfen bereichern wollen, die haben wir alle wieder zurückgebracht, damit sie sich um ihre eigenen sozialsysteme kümmern können, die wir zwar seit jahrhunderten ruiniert und unterwandert haben, waffendeals und tribal wars, clan, families, sheiks, diktatorenwunderwelt, aber wie wir immer so schön sagen, ein jeder ist seines sozialsystems schmied. oder: wir verkaufen waffen, keine utopien. darwin-win forever. last man standing claims our respect.

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nein wirklich, denkt sich der chor, der komplett abgeschweift ist, was ihm immer passiert, wenn er zu lange in den rechner hineinschaut und glaubt, es bringt der welt irgendwas, wenn er da hineinschaut, aber eigentlich bringt das niemandem was, nicht einmal ihm, dem chor, der sich umschaut und erschrickt, weil er sein zimmer sieht und die stadt und seine freunde und sich fragt, was das eigentlich alles hier einmal gewesen sein wird - also alles das hier wird einmal nur eine erinnerung vom chor gewesen sein oder eine erzählung und was für erinnerungen werden das einmal gewesen sein an diese welt, das ist doch die große frage hier: wie wird diese welt einmal ausgesehen haben - genau diese welt hier. die wir jetzt gerade erlassen, diese welt, die wir jetzt gerade hier zulassen, die wir jetzt gerade hier erlauben, die wir jetzt gerade hier gestatten und bewilligen, die wir jetzt gerade hier für die geschichte autorisieren, diese welt, genau die, wie wird man später einmal davon sprechen von dieser welt, was wird man sich erzählen, und wer wird dann eigentlich „man“ gewesen sein? wer wird am ende eigentlich dieses „man“ gewesen sein, dass sich dann wieder eine gute geschichte zu erzählen weiß, vom sieg über das dunkle vielleicht, das man in ein flugzeug setzt, wenn es nicht freiwillig weichen will und unter ungeklärten umständen erstickt. oder die gute alte geschichte von einer besseren welt, die dann doch noch gekommen sein wird, wenn erst einmal die trümmer der geschichte wieder unterm teppich verschwunden sein werden, über den der herr schubhaftbeamte aus traiskirchen jetzt hinüberspaziert, mit seinen hausschlapfen, die er sich beim amazon bestellt hat, weil die so schnell liefern und ihn nicht stören auf seiner moderveranda, wo er seinen campari genießen kann, bis der letzte sozialsystemsschmarotzer dieses land, wenn nötig bis zum ersticken festgezurrt, verlassen hat, oder sich das leben genommen hat, weil das kann ja heute ein jeder, das machen ja eh andauernd alle, denkt sich der schubhaftbeamte mit den hausschlapfen vom amazon auf dem teppich der geschichte stehend, unter dem die toten liegen, die ihn nichts mehr angehen, sobald das flugzeug startet, jeder seines sozialsystems schmied, sagt er sich immer mit dem campari in den hausschlapfen vom amazon dot com.

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und jetzt wird der chor aber rabiat und denkt sich, wieso das so schwierig zu verstehen ist, er, der chor ist ja auch kein prophet aber eines ist doch sicher: da wird nichts mehr kommen in dieser welt, da wird nichts mehr kommen auf erden. das wars, sagt sich der chor, bis hierher. jetzt sind wir uns selbst überlassen und warum das so schwer zu verstehen ist, das mit der solidarität, das mit der gemeinschaft, wenn da nichts sonst ist auf dieser welt? es gibt nur eines das auf den menschen noch wartet hier, der tod. sonst nichts. da wartet nichts. draußen: finsternis, kälte, ausgedehnter raum, schreit der chor, ausgedehnter raum, sonst nichts und da wird einfach nichts mehr kommen, sagt sich der chor und betont das noch einmal, damit es auch wirklich der allerletzte schubhaftbeamte hört, der hinterletzteste grenzwärter, der hinterwäldlerischste türsteher, der überflüssigste blackwater prekäre mit seiner uzi im anschlag, der hinterallerletzte drohnenpilot aus dem allerletztesten shock & awe strategiezentrum, der fertigste gefängniswärter in der größten inhaftierungsnation der welt, der auserzählteste security am flughafen, der immer nur die sogenannten auffälligen kontrolliert (also chöre in allen farben, nur nicht in weiß, das fällt nicht auf), der hinterste der hinstersten oberrichter, die gesetzestreu ihren hammer fallen lassen, all denen sagt das der chor ein für allemal: wir sind die, auf die wir gewartet haben. da kommt nichts mehr. wir sind alles, was jemals gekommen sein wird. sonst nichts. erschreckend, oder? und mit euch muss ich meine zeit als chor auf erden teilen? denkt sich der chor, bitte was? mit euch?

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mit euch abschiebewütigen, euch massengrabschauflern, mit euch beziehungsunfähigen, mit euch steueroasentauchern, mit euch waffenhändlern, mit euch opferkasperln, mit euch staatsapparaten, mit euch institutionsarschgeigen, mit euch geschichtstapezierern, mit euch twitterwutbürgern, mit euch hasskommentarspaltlern, mit euch panzerrohrherstellern, mit euch hasspredigerleitartikler, mit euch frauenprüglern, mit euch hausschlapfenbeimamazonbestellern, mit euch mitterechtsrutschern, mit euch aufsteigermilchbubis, mit euch parteifritzen, mit euch verirrten postdemokraten, mit euch neoliberalen brunzvisagen, mit euch postheroikern, mit euch staatssekretärswohlstandskindern, mit euch rechtsruckkatalysatorspindoktoren, mit euch wahlkampfrattenfänger, mit euch babyboomerhippienazis, mit euch wohlstandsverwahrlosten, mit euch sozialsystemskreuzrittern, mit euch flaggenaufmarschwiedergängern, mit euch kapitalistischen überschusshassangstwutprodukten, mit euch abstiegsangstfanatikern, mit euch auserzählten, durcherzählten, schlechterzählten, aufgelegten muss ich als chor meine zeit auf dieser welt verbringen? nein danke! aber wer kann sich seine nächsten schon aussuchen, also dann, denkt sich der chor, i will have been ready long before. der schubhaftbeamte wird irgendwann vermodert sein auf seinem teppich der geschichte, unter dem die toten hausen, der campari wird ausgehen, beim amazon dot com werden die auch zusperren irgendwann, weil in der geschichte einfach nichts hält, und weil der chor weiß, dass in der geschichte nichts auf ewig gemacht ist, wie einem das heute immer alle erzählen wollen, weiß der als chor auch, dass das, was hier ist, das sein wird, was einmal gewesen sein wird, die, die jetzt hier sind, werden die sein, die einmal gewesen sein werden, das hier, das ist alles was wir haben, sagt sich der chor und wird fuchsteufelswild, wie das bei chören öfter vorkommt, dass die fuchsteufelswild über die gegenwart herfallen, weil niemand verstanden haben wird, dass die gegenwart von gestern die zukunft von heute und die vergangenheit von heute die zukunft von gestern gewesen sein wird, dass wir hier, die sind, auf die wir gewartet haben, auf die wir gewartet haben werden und die alles sein werden, was wir hier, schreit der chor den rechner an, jemals gehabt haben werden, da wird nichts mehr gekommen sein. nichts. nur der chor und der rest der welt, der immer mehr durchdreht, aber der chor weiß, dass er als chor überlegen ist, der welt, der zeit, der geschichte, weil chöre sind unsterblich und so steht er auf, der chor und weiß, es wird sicher ein wenig kompliziert werden alles, aber chöre wurden nicht geschaffen, um es leicht zu haben, sondern um das unmögliche zu schaffen. und das unmögliche ergeht sich so ein chor jeden tag schritt für schritt - von denen hat er sehr viele - wenns sein muss, für die nächsten hundert jahre.

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millenniumsepilog in freien versen
der österreichische „briefbombenattentäter“ franz fuchs stirbt.
bei einem absturz eines concorde flugzeugs sterben hundertdreizehn menschen. air france stellt daraufhin den flugbetrieb der concorde ein.

die olsen brothers aus dänemark gewinnen den eurovision song contest mit dem lied „fly on the wings of love“.
angelobung der schwarz-blauen regierung in österreich.

das chromosom einundzwanzig wurde vollständig sequenziert. damit wurde das humangenomprojekt, das neunzehnhundertneunzig gegründet wurde, mit dem ziel, das genom des menschen vollständig zu entschlüsseln, vollendet.

anstatt die these vom genetischen determinismus zu bestätigen, machten die ergebnisse des humangenomprojekt klar, dass es äußerst schwierig sein würde, von gewissen genen auf bestimmte eigenschaften zu schließen. hingegen wurde offensichtlich, dass es keine kausal gerichtete beziehung zwischen genotyp und eigenschaft gab, sondern es sich bei der ausprägung phänotypischer merkmale um einen hochkomplexen prozess von wechselwirkungen und rückkopplungen zwischen DNS, RNS, proteinen und zellplasma handelte.

nature is not natural.

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mit freundlicher unterstützung von wikipedia. 

screenshots mit sehr freundlicher genehmigung von rick reuther.
vielen dank.


Thomas Köck — geboren 1986 in Oberösterreich, arbeitet als Autor und Theatermacher. Studierte Philosophie in Wien und an der FU Berlin sowie Szenisches Schreiben an der UdK Berlin. Mit einem Dokumentarfilmprojekt über den libanesischen Bürgerkrieg eingeladen zu Berlinale TALENTS sowie nominiert für den Filmförderpreis der Bosch Stiftung. Konzipierte Lese- und Veranstaltungsreihen in Wien, Berlin und Mannheim. War Hausautor am Nationaltheater Mannheim und erhielt u.a. den Else-Lasker-Schüler-Preis, den Dramatikpreis der österreichischen Theaterallianz oder zuletzt den Kleist-Förderpreis.

→ http://www.suhrkamp.de/autoren/thomas_koeck_14263.html