Das Ausland, die Katastrophe, der Fonds (Open Close Reading #3)

17. Januar 2018 — Demagogie

Maßstab unseres internationalen Handelns sind die Interessen Österreichs und seiner Bevölkerung.— Österreichische Bundesregierung

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Am 1. Januar des Jahres 2018, pünktlich auf die Minute nehmen sie ihre Plätze ein, denn pünktlich auf die Minute wird es losgehen, um elf Uhr fünfzehn.
Sie nehmen ihre Plätze ein, auf die Plätze, fertig, nehmen sie diese Plätze an, die auf sie warten und auf die sie warten, immer schon gewartet haben, alle warten auf ihren Plätzen auf ihren Platz, auf dem sie sowieso schon immer waren und bleiben werden. Nur die anderen sollen nicht bleiben.
Auf den Sitzplätzen im Großen Musikvereinssaal, auf den Sofasitzplätzen in Wohnzimmern der Gemeindebauten, auf den Chaiselongues und in den dänischen Designersesseln unter den Altbaudecken dieser alten Zweiten1 Republik, in den Wohnsitzen sämtlicher Despoten around the globe formerly known as globalized.
Mittlerweile über 90 Länder erreicht dieses Konzert, errichtet dieses Konzert Österreich in über 90 Ländern, in über 90 Ländern erreicht dieses Konzert ein hohes Maß an Bekanntheit und Popularität, erweicht ein hohes Maß an Herzen, früh wie spät, im In- und Ausland.
Es dirigiert zum fünften Mal nach 1993, 1997, 2000 und 2004 Riccardo Muti. Er dirigierte also unter der Regierung Vranitzky III, der Regierung Vranitzky V,2 der Regierung Klima3 und der Regierung Schüssel II.4 Und nun die Regierung Kurz I,5 die erste und ultimative, die Regierung aller Regierungen, die endlich [ENDLICH!] das autoritäre Regime als Praxis von Herrschaft auch wieder in unsere herrlichen Breiten, Weiten und Zeiten brachte.
Ich will auch dirigieren, ich will das auch!
Denkt sich der kleine Sebastian da unten, während Muti aller Erosionen des Politischen zum Trotz die Arme und Hände bewegt und bewegt.
Und bewegt.

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Die Pensionistin Amalia Grindlbaur macht Hendlfond. Sie liebt den Hendlfond. Nein. Sie mag den Hendlfond. Nein. Sie mag ihn nicht gern. Sie schaut ihn eher misstrauisch an. Sie verabscheut ihn. Sie könnte würgen. Doch sie schaut auf das Hendl und seufzt. Denn alle mögen Hendlfond. Der Mann, der schon unter der Erde liegt, mochte ihn. Und der älteste Sohn, der in Spanien lebt, mag ihn. Und der zweitälteste, der in Norwegen lebt. Und die Tochter, die es nach Lettland zog, zunächst, und dann ausgerechnet nach Deutschland, in die schlimmste aller Städte: Berlin. Und an Weihnachten braucht es Hendlfond. Amalia Grindlbaur tupft das Hendl ab.

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Ist es Angst? Oder was treibt den Professor dazu, die abgelehnten Studierenden doch hineinzulassen? Er bräuchte keine Angst nicht haben. Er bräuchte nur die Tür schließen, die Tore der Akademie. Er bräuchte nur das Altehrwürdige der Akademie hervorkehren, das, wenn es altehrwürdig genug daherkommt, die Beschädigung durch den Nationalsozialismus und den Verrat am Menschlichen durch den eigenen Pomp mit Leichtigkeit überstrahlt.
Doch der Professor bleibt dabei. 142 Menschen sollen rein, trotz allem. 142 Menschen wurden bei der Aufnahmeprüfung abgelehnt, doch der Professor sagt, er nehme alle, auch die da, auch die 142 Abgelehnten.
Also: Welche Angst treibt ihn an? Die Angst davor, die eigene innere Demokratie zu verraten? Die Angst vor einer falsch verstandenen Intimität, wenn du mit zehnzwölf Studierenden allein bist und so tun mußt, als kämen sie dir nah, als kämst du ihnen nah?6 Oder die Angst, daß eine*r von ihnen – wenn einmal abgelehnt und für die Kunst verloren, von der Kunst verstoßen – in die Politik geht und viel Schlimmeres anrichtet als schlimme Kunst?
Im Oktober 1972 wird der Professor für die illegitime Aufnahme von 142 Abgelehnten entlassen durch den Wissenschaftsminister Johannes Rau.
Der Professor, auf dem Fahrrad, während Rau in der Pressekonferenz die Entlassung ausspricht, fühlt es pochen. Unter dem Hut von Professor Joseph Beuys pocht die Wunde, die sein Hut immerzu verdeckt, die Wunde aus dem Vernichtungskrieg in Russland. Absturz der Stuka, die am Boden entlangschrammt. Am Tod entlaggeschrammt. Wunden und Narben. Gepflegt durch die Tataren der Krim, durch ihr Fett, ihren Filz.

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Es ist elf Uhr fünfundvierzig.
Auf den Sitzplätzen im Großen Musikvereinssaal schauen alle ungerührt auf die Bewegungen des Dirigenten, folgen ihnen, folgen, ohne die Augen zu bewegen, diesen Bewegungen, lauschen bewegt, wie der Prinz der Herzen vorne, die Ohren gespitzt, lauscht, eine Bewegung für sich, eine Bewegung wie die in Frankreich von Macron: wie sich die Ohren des Prinzen bewegen! Dem lauschen sie, und er? Er lauscht dem eigenen Herzschlag und den frühen Reflexionen des Schalls seines Herzschlags in dieser Schuhschachtel mit ihrer begrenzten Platzzahl, ihren Logen, Balkonen, Skulpturen, die den Schall schön streuen, und nichts, nichts absorbiert die Klänge des Herzens des Prinzen, es gibt keine Flächen, die seinen Schall absorbieren. Nur das Publikum.
Und dann kommt ER!
Der Radetzykmarsch, dessen Uraufführung 1848 am Wasserglas Wasserglacis im schönen Wien eine Stadt gefunden. Und dort sollte der Marsch am besten auch bleiben, bis er jetzt, einhundertsiebzig Jahr’ später, immer noch so fein datadám datadám datadám damdám macht, hach.7
Und der kleine Sebastian denkt an hüpfende Bohnen und hüpfenden Mais und hüpfende, nach oben hüpfende Hochrechnungsbalken und macht sich beinah in die Hose vor Freude,

WEIL ER DOCH SO EIN JUNGES GEMÜSE IST!

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In einer Durational Performance verliest eine Stimme im Radio das neue Regierungsprogramm, volle zwölf Stunden lang. Gerade läuft das Kapitel: BEKENNTNIS ZU EINER EFFIZIENTEN ENTWICKLUNGSZUSAMMENARBEIT. Punkt 1. Amalia Grindlbaur hört nicht zu, hört nicht hin, sie hört. Punkt 2. Sie hört und summt und nimmt das Hendl raus und siebt den Fond und salzt ihn und summt vor sich hin. Punkt 3. Sie hasst Hendlfond. Punkt 4. Doch sie denkt an das Weihnachtsessen und die Kinder. Punkt 5. Und sie denkt an die Freude, als der Mann endlich starb. Punkt 6. Erhöhung des Auslandskatstrophenfonds. Sie stellt den Topf in das Eiswasser und öffnet das Einweckglas. Und fühlt sich ganz heimelig.

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„Kurz gesagt, Populisten versprechen ihren Wählern nicht Kompetenz, sondern Intimität.“8

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Joseph Beyus used the word FOND for some of his works, specifically: environments and installations that he developed from 1966 to 1980. FOND I is a jar filled with pears. FOND II is a table covered with copper, charged with 20,000 volts, plus batteries and chemical apparatus. In FOND III combines felt sheets with copper plates. FOND for Beyus thus means: battery. His works were supposed to store and generate some kind of energy.

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Ein energetischer, hochenergischer Beitrag für einen effizienten EU-Außengrenzschutz! Wie geht das? Durch Stärkung! Stärkung der Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten und FRONTEX. Und wie stärkma uns am besten? Na bitte! Unsere Fonds werden über mehrere Stunden, manchmal auch Monate oder Jahre hinweg bei geringer Hitze gekocht. Für uns ist es wichtig, dass nicht nur Knochen, sondern auch viel Fett, viel Fleisch, Fett, Gemüse und Fett mitgegart wird. Ah, hatte ich schon Fett erwähnt? Wenn wir uns dann später wieder in unsere Anzüge begeben, wird das Fett durch die Mikrotechnologie der Polyestermischungen abgesaugt, und wir wirken wieder schön schlank. Wie unser Staat. Unsere Fonds werden übrigens komplett OHNE Salz hergestellt, damit Sie selber nach Ihrem Geschmack abschmecken können. Das einzige Salz, das wir gern verwenden, ist der Rassismus. (Im Notfall auch a bißl Sexismus). Ohne den wirkt selbst unser Bioösterreichfond total fad. Durch langsames Einwecken der gesamten Republik sind unsere Fonds übrigens einige Jahrhunderte haltbar. Tipp. Nicht im Kühlschrank aufbewahren!!! Durch den hohen Fleisch- und Knochen-Anteil sowie den noch höheren Blood- and Honor-Anteil gelieren die Fonds stark und sind dadurch schwer aus dem Glas zu bekommen.9

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Es ist elf Uhr noch-was oder später, vielleicht auch später. Aber nicht zu spät! Nur das akademische Viertel vielleicht. Nur das Akademikerviertel, Akademikerballviertel, zu dem alle kommen, die zum Anschluss damals zu spät kamen oder zu spät geboren wurden. Jessas Maria und Josef.
Und Ricardo Muti dirigiert. Den Einzugsmarsch aus dem Zigeunerbaron, den wir niemals [NIEMALS!] Sinti- und Roma-Baron nennen werden müssen.10 Und Rosen aus dem Süden, von wo wir Rosen haben wollen, die schon, aber sonst nix. Und An der schönen blauen Donau, die jetzt schon ganz satt blau ist und bleiben wird, türkis UND dunkelblau, bis in alle Ewigkeit, AMEN. Und alle sitzen und lauschen, den frühen Reflexionen des Schalls, den späten Reflexionen des Hirns, den viel zu späten Reflexen.
Jetzt flexen?

ES IST VIEL ZU SPÄT!

Nein. Ist es nicht.
Doch.
Es ist nicht mehr elf Uhr fünfundvierzig, nicht mehr elf Uhr fünfundfünfzig.
Aber ich will doch reflektieren und reagieren und repräsentieren. Und wenn es sein muß, auch regieren. Aber zuallererst muß ich doch wissen, was unsere Geschichte ist.
So ein Mist.

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Das Radio sagt: Insbesondere verboten ist, die Geschichte Österreichs als eine Geschichte darzustellen. Österreich hat keine Geschichte, sondern ist eine. Österreich ist eine metaphysische Einheit, ein Wesen, das niemand mehr zu fixieren braucht, da es schon fixiert ist, mit Handfesseln und Fußketten und Halsbändern und Stromstößen fixiert, diese fixe fixierte Idee. Kunst, die es wagt, dieses metaphysische Wesen infrage zu stellen oder in Fragen hinein zu ziehen, kann ab sofort nicht mehr mit der Förderung durch die Bundeslegierung11 rechnen. Kunst, die es wagt, das Auftauchen Österreichs in der Geschichte als Teil der Geschichte nachzuzeichnen – noch dazu als beweglichen – erzählt nie die ganze Geschichte und soll deshalb ab sofort scheißen gehn. Den ganzen lieben kurzen Tag. Eine kurze Geschichte unserer Zeit. In einem Land vor unserer Zeit. NEEEEEIIIIIIN! Ein Land vor unserem in der Zeit, das gibt es nicht. Das darf es nicht geben.

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Und Muti dirigiert und dirigiert. Und niemand ist irritiert. Und alle sitzen und lauschen und schauen gutgenährt aus, wie vor einem Jahr, wie vor drei, fünf Jahren, fünfzig Jahren, sechzig, siebzig, fast achtzig, wie damals, im schönen Jahr 1939, als alles begann.12 Und die Eurovisionshymne erklingt. Alle sitzen und lauschen dem Neujahrskonzert. Und wie neu alles in diesem Jahr erscheint! Denn Europa ist keine Vision mehr, sondern Vergangenheit.
Ach mei, denkt sich der grüne, bio-österreichische Postkolonialismustheoretiker auf seiner Couch vorm Fernseher, wenigstens sieht Europa nicht mehr, wenn es in den Spiegel schaut, die ganze Welt.
Nein.
Jetzt sieht Österreich, wenn es in den Spiegel schaut, dort Europa, ein grinsendes Europa, dessen Grenzen in jedem Land an den Grenzen des Landes endet.

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Bei der Konferenz eines linksradikalen Autor_innenkollektivs im Juni 2018 in Börlyn unterbricht eine noch linksradikalere Autor_in13 die bestellten Eröffnungsvorträge durch lautes Blasen in eine pink-metallic-farbene Tröte, entert schließlich das Podium, das durch die entnervten Gastredner_innen verlassene Podium14 in einem riesigen Filzgewand, aus dem Drähte und Batterien herauslugen und hält ein flammendes Plädoyer auf Griechisch, was kaum eine der anwesenden Personen versteht, oh, wait, es ist gar nicht Griechisch, es ist eine Fantasiesprache, in der sich Russisch und Griechisch und Finnisch und Chinesisch und Südstaaten-US-Englisch und a bißl Weanerisch mischen, und das einzige, was am Ende verständlich wird, ist der Gedanke, daß der Neuen Rechten und ihrer Giftspritzenpolitik, mit der sie alle Polit- und Frühstücks-Talkshows, alle Kolumnen und Kolloquien, alle Dobrindt-Träumereien und Palmer-Tiraden ins Delirium gespritzt haben, daß dieser von ihnen gern so genannten Metapolitik nur eins entgegenzusetzen ist:

METAXUPOLITIK!

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François Jullien schreibt: „Es stimmt, dass wir das ‚Zwischen‘ nicht denken können. Denn das Zwischen hat kein ‚Sein‘. Das ist der Grund, warum uns dieser Gedanke so lange entgangen ist. Weil die Griechen das ‚Sein‘ im Sinne des Seins – das heißt im Sinne von Bestimmung und Eigenschaft – gedacht haben (weshalb es ihnen vor dem Un-Bestimmten graute), waren sie nicht in der Lage, das ‚Zwischen‘ zu denken, das weder das eine noch andere ist, wo jedes von seinem anderen überzogen, seines An-sich und seiner ‚Eigenheit‘ enthoben ist. (Dass sie das ‚Zwischen‘, metaxu, nicht denken konnten, ist auch der Grund, weshalb sie sich das das ‚Jenseits’, meta, der Metaphysik verlegten.)“15

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Der kleine Sebastian möchte dringend in das Kanzleramt abgeholt werden.16

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Und dann, nachdem die Demonstrationen am Heldenplatz niedergeschlagen worden waren, zuerst nur durch Gegendemonstranten (= Schläger = bezahlt), dann auch mit Polizeiknüppeln, dann auch mit Tränengas, Hubschraubern, Militär, ging die Selbstmordwelle los. Zuerst beim Musikverein, dessen Dach eines Nachts 142 junge und alte Wiener*innen auf einmal erklommen und sich in den Tod stürzten. Ihr Blut wurde noch wochenlang vom Asphalt des Platzes geschrubbt. Und die Klageweiber jeglichen Geschlechts sie sangen:
Wird Österreich,
wird Österreich,
wird Österreich bald
für Gesellschaften sein,
was Latein für die Sprachen war?

Mein lieber Herr Gesangs

Verein! Meine liebe Frau Phil

Harmonie! Mein liebes Trans

Border Orchestra!

— Korrektur, Weiterschreibung, Fortsetzung folgt: Gerhild Steinbuch

  1. Letzten? 

  2. Rücktritt des Kanzlers kurz nach dem Konzert … 

  3. Angelobung seines Nachfolgers, des Herrn Schüssel, kurz nach dem Konzert … ZUFALL?!?!?!??! 1111 

  4. Die unabhängig von Neujahrskonzerten konstanter Liebespartner Haiders war, erst mit dessen FPÖ, dann mit dessen BZÖ, ja, ÖVP und FPÖ waren zwar nur auf den Plätzen 2 und 3 (nicht den Plätzen im Musikvereinssaal), doch zusammen waren sie zwei Mal zweite Wahl und damit erste. 

  5. Von wegen zwei Mal zweite Wahl. Hier kommen Gold und Silber in einer neuen Allianz als Türkis und Blau zusammen und verschwimmen und verschwammen und verschwommen und … und … blubblubblubb … 

  6. Dann lieber über 250 in einer Klasse! 

  7. Ivan Krastev: Europadämmerung. Ein Essay, aus dem Englischen von Michael Bischoff, Berlin 2017, 108. 

  8. Ivan Krastev: Europadämmerung. Ein Essay, aus dem Englischen von Michael Bischoff, Berlin 2017, 108. 

  9. Und noch schwerer wieder rein. 

  10. Und sowieso nicht mehr nennen müssen, dafür hat der Adjutant Franz Fuchs, der Bajuvare, schon vor zig Jahren mit Sprengstoff gesorgt. 

  11. Diese Legierung aus Türkis und Blau, wie sie im Periodensystem der rechtsextremen Elemente an vorderster Stelle stehen. 

  12. Und damals begann es nicht Neujahr, sondern gemütlich-gesellig zu Silvester. 

  13. Die langen Haare, der Damen- oder Herrenoberlippenbart, die lackierten Nägel lassen keine genaue geschlechtliche Einordnung zu. 

  14. ICH FÜHLE MICH SO VERLASSEN! 

  15. François Jullien: Es gibt keine kulturelle Identität. Wir verteidigen die Ressourcen einer Kultur, aus dem Französischen von Erwin Landrichter, Berlin 2017, 41. 

  16. Vom Geilomobil! Bitte. BITTÄHHH!!!!! 


Jörg Albrecht — geboren 1981 in Bonn, aufgewachsen in Dortmund, lebt in Berlin. Er schreibt Prosa, Essays, Hörspiele sowie Texte für Theater und Performance. Seit 2018 baut er als Gründungsdirektor das Center for Literature auf Burg Hülshoff bei Münster auf. Jörg Albrecht ist Mitglied des PEN-Zentrums Deutschland.

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