04. Oktober 2017 — Demagogie

Ich saß im Kino, aß meine Nachos und sah Sebastian Kurz. Das war im Vorspann eines Horrorfilms und Sebastian Kurz kletterte werbetauglich auf österreichische Gipfel, überschaute die Abenddämmerung im Land und sprach, es sei nun Zeit. Dann begann der Horrorfilm, das Remake eines Klassikers der 90er. Ich hatte mich schon sehr darauf gefreut: aufs Monster meiner Kindheit, das als Clown getarnt mit Luftballon und verführerischer Stimme die Kinder anlockt und dann auffrisst, als Manifestation der Angst gleichsam. Und je mehr die Ängste wachsen, umso stärker wird ES. Und ES schlägt zu, sobald du unsicher bist, Trauer oder Schmerz verspürst. Und ES frisst sich hinein in dich, macht dich wütend, aggressiv und hasserfüllt. So zerbricht im Film die Gruppe von Freunden immer dann, wenn die Angst es schafft, sie untereinander auszuspielen, aufzuspalten, zu vereinzeln.

es-ist-zeit-820x154-q92
Das Plakat zum Remake. — Ganz billig zusammen-kopiert vom Autor dieses Textes.

Der Film begann. Der kleine Georgie, der vom Bruder in der ersten Szene ein Papierboot geschenkt bekam, um es die regennasse Straße hinuntertreiben zu lassen, lief gerade, so wie ich es noch vom Original der 90er in Erinnerung hatte, mit Gummistiefeln dem Schiffchen hinterher, das eben im Kanal verschwand. Der kleine Georgie bückte sich, lugte ins finstere Abflussloch, und ich mit ihm, den Clown, wie ich es in Erinnerung hatte, nun erwartend: da erschien Sebastian Kurz. Er sprach verführerische Worte und hielt einen Luftballon in der Hand. Der war türkis. Sebastian Kurz sprach zum kleinen Georgie und über die Leinwand auch zu mir. Es gruselte mich.

Erst dachte ich, es muss ein Trugbild sein. Ich schaute mich um, wie es denn den anderen im Saal erginge, doch sie wirkten unberührt. War ich der einzige, der ihn sah? Anstatt des Monsterclowns nahm nun Sebastian Kurz die ganze Leinwand ein, und er sagte, mit der Stimme eines Klassensprechers, der noch halb im Stimmbruch war, es sei Zeit. Er wiederholte diesen Satz und formte mit den Lippen ein Lächeln, bei dem jedes Kind schon ahnen musste, es sei falsch. Doch er lächelte über die Falschheit hinweg, zeigte die Zähne, wie der Junge früher auf der Kinderschokoladen-Schokolade, und meinte, er hätte sieben Punkte für mich. Sieben wunderschöne, verführerische, süße Punkte. Welche Punkte, das könne er noch nicht sagen, aber das sage er mir gerne später, wenn ich mit ihm mitgekommen sei. Den Luftballon dürfe ich dafür sofort behalten. „Willst du den Luftballon, Thomas?“

Da schoss mein Puls schlagartig in die Höhe und die Stimmlage des Sebastian Kurz stürzte drei Oktaven nach unten. Seine Zähne zeigten ihre scharfen Kanten und eine hässliche Zunge sauste aus seinem Mund hervor, nach Angst lechzend; der meinen, der des Publikums im Saal und nach jener des kleinen Georgie's im Film, dessen Papierboot Sebastian Kurz die ganze Zeit über fest in der Hand hielt. Es dröhnte seine Stimme nun bebend über die Dolby-Surround-Anlage: „Oder willst du lieber dein Boot zurück? Willst du wirklich dieses kleine, schwache Papierboot, das auf grenzoffenen Meeren kentern wird und nur Kummer, Sorge und Schulden bereitet? Das überfüllt ist und niemanden mehr trägt, willst du das wirklich?“ Und er sprach nun in Worten, die mir bekannt vorkamen, die gleichsam als Remake einer bereits überwunden geglaubten Politik zum neuen Kassenschlager, ja, Blockbuster, werden wollten. Ich hielt mich gerade noch am Sitz, vom Beben der Stimme des Sebastian Kurz in permanente Unruhe gebracht, da sagte er zuletzt: „Wenn du dieses Boot wirklich noch willst, pah, dann hol's dir meinetwegen“.

Der kleine Georgie auf der Leinwand, dem meine Angst ins Gesicht geschrieben stand und der nicht wollte, dass sein Bruder über den Verlust des kleinen Papierboots traurig werden würde, streckte die Hand aus, das Boot zu erreichen, da biss Sebastian Kurz dem kleinen Georgie den Arm ab. Ich schrie auf, die Nachos lagen am Boden, rote Salsa-Sauce überall, und Georgie kämpfte ums Überleben. Er lag auf der regennassen Straße, kroch davon, da krallte die Hand des Sebastian Kurz den Wehrlosen und zog ihn ins Abflussloch. Mir stockte der Atem. Ich wollte nicht glauben, was ich da gesehen hatte. Ich musste einer enormen Täuschung erlegen sein. Ich schaute mich erneut um. Doch die Leinwand hatte sich verfinstert.

Ich sagte mir, es sei nur ein Film, da riss die Leinwand auf und Sebastian Kurz stand da. Alle im Saal tobten plötzlich, sie jubelten ihm zu, warfen Kusshände; und Mädchen und Schwiegermütter kreischten, Schwiegerväter klopften ihm auf die Schulter, Großväter warfen ihre Stöcke in die Höhe und tanzten Polka. Sebastian Kurz trat in den Kegel eines Scheinwerfers, in der Hand eine Unmenge türkiser Luftballons, die er dynamisch jung unter seinem Publikum verschenkte, gekampelt freilich, wie sich's für Schwiegersöhne gehört, reaktionär nach hinten und kräftig rechts zur Seite. Ich geriet in Panik. Ich rief in die johlende Menge: „Habt ihr's denn nicht gesehen? Er hat Georgie gefressen! Er hat Georgie einfach verschluckt! Mit seinem Mund. Seiner Zunge. Seinen ungeheuerlichen Sätzen...“ Doch niemand registrierte meine Zwischenrufe. Alle fühlten sich scheinbar aufgehoben und vollends verstanden, in der Gegenwart des Sebastian Kurz.

Ich wollte mich vorkämpfen, durch die Menge, der es egal war, welche Verteidigungsschiffe denn Sebastian Kurz anstatt des kleinen Papierbootes bauen würde, welche monströsen Inhalte denn in diesen verheißungsvollen sieben Punkten tatsächlich auf uns lauerten, was das denn letztlich für ein zweifelhafter Abfluss war, aus dem er da geschaut hatte, und wo der arme Georgie denn sei, verdammt: „Er hat doch Georgie gefressen!“ Aber ich kam nicht durch.

Doch noch gab ich nicht auf. Ich rief weiter, dass er doch nur die Angst in uns vergrößere. Dass er sich aus der Angst in uns nähre! Dass er uns alle, in unseren Ängsten, am Ende in diesem Kinosaal vereinzeln werde! Ich beschwor die Solidarität dieses Saals, und die Notwendigkeit, zusammenzuhalten, da drückten mich die Arme eines Bodyguards nach unten. Das sei eine friedliche Veranstaltung, da brauche es keine linken Fundis, gusch! Ich wollte dem Handlanger des Sebastian Kurz nun klar machen, dass ich gar kein linker Fundi sei, dass ich doch in meiner Kindheit auf dem Land sogar mal die Partei des Sebastian Kurz gewählt hatte, dass ich sehr wohl wisse, was die Grundpfeiler dieser Partei einmal waren, und dass dieses neue Gesicht, das jedem Humanismus eine Fratze aufsetzt, doch nicht wirklich der volle Ernst dieser Partei sein könne; da knallte es, mir wurde die Luft abgedrückt, und am Arm schleifte man mich Richtung Ausgang.

Vorne vor der Leinwand regnete es derweil Konfetti und Sebastian Kurz wurde hochgezogen, gesichert mit Karabinern, und er schwebte nun über der Menge im Kinosaal. Und in die stille Andacht, die nun einkehrte, sagte er: „Habt keine Angst. Ich bin der unbewegte Beweger. Ich bin die Konstante in dieser beweglichen Zeit. Ich bin die Bewegung, die euch stabilisiert. Ich bin die Liste, die ihr heimlich immer schon mal dem Christkind schicken wolltet. Ich bin die Liste, die ausspricht, was andere auch aussprechen, aber wir sprechen es endlich auch in der Mitte aus, ha! Ich bin die Liste, die neu ist, obwohl das Papier extrem alt ist. Und lasst euch gesagt sein, diese Liste lässt sich nicht anpatzen. Wer auch immer versucht, uns anzupatzen, wir sind sauber. Wer auch immer sagt, wir seien nicht sauber, irrt, denn ich patze niemanden an. Das war nie meins! Ich bin ein Lieber. Ich bin ein Braver. Und ich bin, was ich immer war: einfach nur der Sach-Politiker, einer, dem es hier einfach nur um die Sache geht.“

Da wisperte ein Mädchen in roter Latzhose irgendwo links der Mitte in die kurze Stille: „Aber Mama, von welcher Sache spricht er denn?“ und ein zaghaftes „Sei still, der Sebastian spricht“, folgte prompt aus dem unmittelbaren Umfeld des Mädchens. Ich japste auf, die erdrückende Hand des Bodyguards noch im Nacken, und wollte rufen: „Lauf, kleines Mädchen in roter Latzhose irgendwo links der Mitte, lauf!“ Doch die Ohren des Sebastian Kurz hatten die anzweifelnden Worte bereits vernommen, und so beugte er sich herab, schlimmer als jeder Horror-Clown, und fragte links in die Mitte hinein: „Ja, willst du denn nicht meinen Luftballon?“ „Nein“, sagte das Mädchen irgendwo links der Mitte. „Nimm den Luftballon“, sagte die Menge in seinem unmittelbaren Umfeld. „Nein“, wiederholte das Mädchen. Und Sebastian Kurz senkte – und ich wollte, es wäre anders gekommen – seine Stimme drei Oktaven radikal nach unten, öffnete seinen eigentlichen Mund, zeigte die tatsächlichen Zähne und sprach: „Schlimme Kinder bekommen keinen Lohnsteuerausgleich.“

Da wurde ich nach draußen geschleift und vor den Saal geworfen, doch ich schwöre, ich habe noch genau gesehen, wie Sebastian Kurz den Widerspruch des Mädchens einfach in einem Bissen auffraß und verschlang. Die Tür vor mir fiel ins Schloss. Dahinter begann eine neue Zeit.


Thomas Arzt — geboren 1983 in Schlierbach (Oberösterreich), lebt in Wien. Studium der Theater-, Film- und Medienwissenschaft an der Universität Wien. Schreibt Lyrik, Prosa, Essays, Hörspiele und Theaterstücke.

→ http://www.thomasarzt.at