Der Kanzler liest Kafka (Open Close Reading #6)

07. Februar 2018

Vor dem Bundeskanzleramt steht ein Türhüter und liest Kafka. Zu diesem Türhüter kommt der Bundeskanzler und fragt, was er denn da lese. Der Türhüter antwortet, er lese Vor dem Gesetz von Kafka. Der Bundeskanzler kennt Kafka, denn er hat seine Pflichtlektüre in der Schule immer gelesen, aber er hat vergessen, worum es in Vor dem Gesetz genau geht. Also erzählt der Türhüter von dem Mann in der Erzählung, der zu einem Türhüter kommt und um Eintritt in das Gesetz bittet.

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Diese Ausgabe von Kafkas Erzählungen hält der Türhüter vor dem Bundeskanzleramt in Händen. — Der Autor

Das versteht der Bundeskanzler nicht, denn er sei der Meinung, dass doch das Gesetz für alle offen wäre, warum man denn da um Eintritt bitten müsse. Ja, sagt der Türhüter vor dem Bundeskanzleramt zum Bundeskanzler, so ist es auch mit dem Gesetz in der Erzählung Vor dem Gesetz von Kafka. Es ist grundsätzlich offen, aber manchmal steht eben ein Türhüter davor, um es zu bewachen, so wie ich es gerade vor dem Bundeskanzleramt tue. Ach, sagt da der Bundeskanzler. Es geht also um eine Frage der inneren Sicherheit – und der Bundeskanzler nimmt nun das Buch von Kafka selbst in die Hand. Nein, berichtigt der Türhüter, es gehe seiner Meinung nach eben gerade nicht um die innere Sicherheit, sondern um die eigene Verantwortung des Mannes, der vor dem Türhüter in Vor dem Gesetz wartet, anstatt allen Mut zusammenzunehmen und hineinzugehen, trotz des Türhüters. Ja, weil er doch sogleich verhaftet worden wäre, protestiert der Bundeskanzler, da wäre er ja dumm gewesen, der Mann in der Erzählung. Als guter Bürger muss er doch daran glauben, dass es einen Sinn habe, das Gesetz zu bewachen. Womöglich brodelt da im Untergrund eine soziale Unruhe in diesem Staat in der Erzählung von Kafka, oder gar eine Revolution. Und bei dem Wort von der Revolution wird dem Bundeskanzler kurz ganz heiß und er muss sich den Schweiß von der Stirn wischen. Das ist gut möglich, dass da im Untergrund der Worte etwas brodelt, bestätigt der Türhüter die arge Vermutung des Bundeskanzlers vor dem Bundeskanzleramt, aber letztlich wissen wir nicht, was passiert wäre, hätte er das Gesetz trotz des Türhüters in der Erzählung betreten. Es hätte zu Gewalt geführt, ist sich der Bundeskanzler sicher – und er liest nun, wie Politiker eben lesen, die erste und die letzte Zeile der Erzählung und sucht dann nach einer Zusammenfassung.

Das ist eben nicht sicher, meint der Türhüter vor dem Bundeskanzleramt. Kafka spielt viel eher mit der Vorstellung der inneren Sicherheit, die derartig groß erscheint, dass nur einer sagen muss, es wären noch viele weitere Türhüter hinter diesem Eingang, und allein der Gedanke an diese vielen Türhüter vor dem Gesetz mache das Gesetz selbst so unendlich riesig und unerreichbar für die Menschen, auch wenn wir ja nur das wissen, was der eine Türhüter ganz am Anfang behauptet. Vielleicht will Kafka ja dadurch sogar auf die Angst vor dem Gesetz hinaus, quasi auf die Bedrohung durch die eigenen Sicherheitsapparate des Staates, durch die das Individuum einknickt und alles mit sich machen lässt. So wartet der Mann in der Erzählung bis ans Ende seine Lebens vergeblich um Einlass und stirbt. Das sagt nun alles der Türhüter vor dem Bundeskanzleramt zum Bundeskanzler. Das ist ja tragisch, meint der Bundeskanzler schlicht. Er stirbt? Das ist alarmierend, korrigiert der Türhüter. Kafka erzählt von einem System, das ins Wanken geraten ist. Na, na, nur weil da einer am Ende stirbt, bringt das noch keinen Staat ins Wanken, widerspricht der Bundeskanzler – und er markiert nun einige Passagen in der Erzählung mit seinem Stift, den der Bundeskanzler immer bei sich hat, und unterstreicht das Wort Größenunterschied, weil es ihm wichtig erscheint.

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Der Bundeskanzler unterstreicht, was ihm wichtig erscheint. — Der Autor

Nicht, schreit der Türhüter, er habe das Buch doch nur von der städtischen Bücherei geliehen. Die unterstrichenen Passagen würden ihm arge Probleme bereiten, wenn er das Buch zurückgeben wolle. Er werde der städtischen Bücherei ein neues Exemplar besorgen lassen, beschwichtigt der Bundeskanzler den aufgebrachten Türhüter mit sanfter Stimme, wie er es immer tut, wenn Konflikte nahen. Natürlich werde er als Bundeskanzler sicherstellen, dass niemand wegen ihm Probleme bekäme, schon gar kein staatstreuer Beamter. Und mehr noch, er werde der städtischen Bücherei Blumen vorbeischicken lassen, denn dieses Exemplar brauche er umgehend für die anstehende Sitzung mit dem Koalitionspartner über die dringlichen Fragen der inneren Sicherheit. Aber es gehe doch gar nicht um die innere Sicherheit in Kafkas Erzählung, wiederholte der Türhüter nun mit stärkere Vehemenz. Es gehe um das Aufzeigen eines Mangels an Selbstsicherheit im Individuum vor dem Staat. Aber papperlapapp, tut der Bundeskanzler den Widerspruch ab, das sei doch Auslegungssache, worum es in Texten ginge. Er solle doch nur mal das Regierungsabkommen hernehmen, jetzt nur als Beispiel, da würde sehr viel, wenn nicht sogar das meiste, oder eigentlich alles auf den ersten Blick wohl dieses oder jenes klar benennen und so tun, als würde es das auch so meinen, im Genauen – und da verrate er ihm, dem Türhüter, jetzt kein Geheimnis, da dies ja doch auch die Spatzen von den Dächern des Bundeskanzleramtes pfeifen, im Genauen sei all das, was da in diesem Regierungsabkommen stünde dann doch wieder Auslegungssache und ja nicht wirklich so gemeint. Darum sei er ja vehement als Bundeskanzler dafür, dass durchaus alles gesagt werden dürfe – am Ende zählen aber die Taten. Die lassen sich messen. Punkt.

Aber nein, schreit nun der Türhüter wütend im Angesicht des Bundeskanzlers vor dem Bundeskanzleramt. Durch die aufgestockte Präsenz der inneren Sicherheit in einem Staat, wie es in der Erzählung der Fall ist, die dort ja gerade durch die Worte des ersten Türhüters passiert, wird es umgehend wichtiger, ganz genau darauf zu hören, was gesagt werde – und er spreche jetzt nicht nur von der Erzählung von Kafka. Die Worte gehen den Taten voran! Das sei wohl in einem Literaturkurs der Fall, lacht der Bundeskanzler nun etwas abschätzig vor dem Türhüter vor dem Bundeskanzleramt – in seiner Legislaturperiode wird selbst Kafka sich gefallen lassen müssen, als das verstanden zu werden, was die Regierung aus ihm herauslese, so täten sie es ja auch, und da verrate er ihm, dem Türhüter, jetzt kein Geheimnis, da dies ja doch auch die Spatzen von den Dächern des Bundeskanzleramtes pfeifen, mit den Menschenrechten, etwa, oder auch mit den Asylrechten, jetzt nur als Beispiel, oder mit den Persönlichkeitsrechten, wenn wir jetzt schon von Ordnung und Überwachung reden wollen. Wenn es die Staatssicherheit verlangt, muss man da eben neue Wege gehen. Und er lässt nun den Türhüter gar nicht mehr in seinem Widerspruch zu Wort kommen – wie es eben wiederum ein kluger Bundeskanzler macht, wenn ein kritisches Umfeld naht. Und er setzt zuletzt noch nach: Ja, auch die Demokratie sei Interpretationssache. Und bei dem Wort von der Demokratie muss sich der Bundeskanzler jetzt weit zu dem Türhüter hinabbeugen, denn er scheint ihm geschrumpft zu sein, oder er selbst ist als Kanzler gewachsen, wie auch immer, es ist jedenfalls während des Gesprächs ein Größenunterschied entstanden. So blickt der eine nun auf den anderen runter und der andere zu dem einen rauf.

Am Ende bedankt sich der Bundeskanzler höflich für das Buch und verschwindet damit im Sitzungszimmer im Bundeskanzleramt, um über die dringlichen Fragen der inneren Sicherheit zu reden – denn schon bei Kafka stünde festgeschrieben, es brauche mehr Wachpersonal in diesem Staate: ein Türhüter pro Tor, das ins Innere der Macht führt. Der Türhüter aber vor dem Bundeskanzleramt verlässt an diesem Morgen seinen Posten. Er hat genug. Er will nicht so lange warten, wie der Mann in der Erzählung von Kafka. Er legt seine Wachkleidung ab, geht auf die Straße hinaus und wird Schriftsteller: denn er möchte den Untergrund der Worte kenntlich machen.

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Am Ende des Buches steht fast unscheinbar eine Widmung. — Der Autor


Thomas Arzt — geboren 1983 in Schlierbach (Oberösterreich), lebt in Wien. Studium der Theater-, Film- und Medienwissenschaft an der Universität Wien. Schreibt Lyrik, Prosa, Essays, Hörspiele und Theaterstücke.

→ http://www.thomasarzt.at