30. August 2017 — Land/Stadt

Born = Mondkrater, historisierend-poetische Bezeichnung für Brunnen

Born dead
Ice T

Am 7.11.1970 fährt ein Salat in einer Salatkiste von Köln nach Aachen. Auf der Fahrt setzt die Verwelkung ein. Es ist die Aktion „Salat“ des Fluxus-Künstlers Wolf Vostell.

Mittwoch 25. Januar 2017, Heidelberg, etwa 13h.
Im Kopf in Vorbereitung auf die Reise von A nach B. Auf die Winterreise. In Reminiszenz an Wolf Vostell, der am Soundsovielten Neuzehnhundertsoundsoviel einen Kopfsalat von A nach B transportiert, Happening Soundsoviel. Ich werde in ein Diktiergerät sprechen, da ich gleichzeitig fahren werde. Mit dem Mietwagen durch Mitteldeutschland, zwei der mächtigsten Moderatoren der Neuen Extremen Rechten heimsuchen. Nicht an der Tür klingeln, nicht persönlich treffen, mehr um sie herumspuken, wie ein Geist, der die Lebenden nicht in Ruhe lässt. Eine Landkarte aus weißem Schnee mit unbehaglichen Gedanken bekleckern.

Den Motor anlassen, Heidelberg verlassen.
Was ist A? A ist Bornhagen. Dicht an der Grenze zu Hessen, Südharz, kleines Dorf, Björn H. wohnt da in einem evangelischen Pfarrhaus mit seiner Familie.
Was ist B? B ist Schnellroda. Burg Schnellroda, Wohnsitz von Götz K., Sitz des Instituts für Staatspolitik, vom Antaios-Verlag. Meine Güte, tönt das.
Ich werde also von A nach B reisen, mit dem Auto. Und nicht mit dem Zug fahren. Und nicht wandern. Keinen Mitfahrer mitnehmen. Mit niemandem sprechen als mit mir selbst. Selbstgespräche führen und warten, bis der Kopfsalat zerfällt. Keinen Kopfsalat auf dem Rücksitz mitführen. Es genügt: Kopfsalat im Kopf. Kopfsalat an – sagen wir - Balsamico-Dressing mit Estragonsenf. Salat, der – wie man weiß – desto früher zerfällt, je länger er in der braunen Tunke liegt. Salat, der ungenießbar ist, bei näherem Hinsehen. Und denke an den Verfall des Kopfsalats in Vostells Koffer oder Kiste und will nun auch den ausgedehnten Zerfall meines Kopfsalats beschreiben, während meiner Fahrt von A nach B.
Schilder lesen. Büttelborn ging voraus. Bornbruch. Eschbronn, Eschborn und noch ein Born. Soundsoborn.

Ich werde in die Dunkelheit fahren.

Winterreise von A nach B. Ich werde in die Dunkelheit fahren, in die dunkle Zeit des Tages, in die dunkle Zeit hinein, in den Untergang der Sonne, die heute nicht zu sehen ist, die sich nicht blicken lässt, auf meiner Reise durch Thüringen, auf meiner Reise von A nach B.

Handeln durch Nicht-Handeln. Handeln durch Reisen, das Durchreisen der Topografie Thüringens, Bornhagen, A, Schnellroda, B.

Was wird mir durch den Kopf schießen? Klare Gedanken, Konzentration, Kontemplation, Meditation. Räsonnement. Irritation. Dekonstruktion. Alliteration. Was wird mir durch den Kopf schießen? Wird mir jemand durch den Kopf schießen? Sind das Heckenschützen? Sind das Lebensschützer? Sind das Schutzstaffeln? La Nouvelle Droite. Die Neue Rechte. Die Neue Extreme Rechte. Die Extreme Rechte? Die Rechte? Die? Ich schreibe an keiner Heldenerzählung. Schwarzborn lese ich hier auf einem Schild kurz vor Kassel. Was wird mir durch den Kopf schießen? Sollen Regeln die Fahrt von A nach B beschränken, konzentrieren, reduzieren? Welche Regeln und Freiheiten braucht eine Fluxus-Aktion mit Kopfsalat? Stream of Consciousness, Protokoll, Notizen, Facts & Fakes. Ein Beispiel für eine mögliche Regel Nr. 1: Nicht Abbiegen nach rechts! Bitte biegen Sie nicht nach rechts ab! Bitte weiter geradeaus! Bitte weiter geradeaus! Bitte nicht nach rechts abbiegen! Bitte Kehrtwende! Bitte links abbiegen! Bitte an der nächsten Straßenkreuzung links abbiegen! Begeben Sie sich nicht aufs Glatteis! Beobachten Sie nur den Verfall des Kopfsalats an brauner Soße! Bitte biegen Sie nicht nach rechts ab! Bitte links abbiegen! An der nächsten Wendemöglichkeit bitte links wenden!
Anweisungen üben.

Wendehälse, Wendegewinner, Wendemanöver, Westler, WDR... Was fällt mir noch ein? Was weiß ich?

Oder Regel Nr. 2, Beispiel: Klingeln Sie an der Tür von Familie H.! Fragen Sie die Kinder, eines der Kinder, das nach der Schule zu Hause sitzt, im Kinderzimmer Hausaufgaben macht, Deutschunterricht, Geschichtsunterricht, hauptsächlich das... Fragen Sie eines der Kinder, ob es mitkommen möchte nach Schnellroda, zu den K.s, man kennt sich. In den Garten! Spielen! Die K.s haben Kaninchen, Katzen, Hühner! K.s Frau, die für eine Zeitschrift namens Sezession allerlei Menschentrennendes zu Papier bringt, nennt das einen „multirassischen Kleintierzoo“, der beweisen soll, warum es Zäune braucht, um die höherwertigen, schlagenden Verbundenen umeinander zu scharen und von den gebrechlichen, verschlagenen Nimmerkräftigen zu trennen. Wer hängt als Nächster im Netz? Auf geht’s, Deutschland schieß’ ein Tor! Rechts sein heißt recht behalten müssen, das Recht auf seiner Seite haben müssen, das Staatsrecht über dem Menschenrecht, den Rechtstitel vor dem Brechmittel. In der Tierwelt zeigt sich, wer wen zu Hackfleisch macht, welche Hackordnung zählt, nicht? Da kann der Menschenstaat sich doch eine Scheibe abschneiden, bevor er selbst mit einem Messer attackiert wird, nicht? Rechts sein heißt präventiv sein, heißt entschieden rechtfertigen, dass hier die Grenze ist, genau hier und nicht woanders.

„Kommet, ihr Kinderlein, kommet! In den „multirassischen Kleintierzoo“! Hier können wir beobachten, wie sich die kleinen Tiere bekämpfen! Und aus dieser Anschauung eine Ableitung vornehmen für unser gesellschaftliches Gehege. Nicht wahr? Man will sich nicht ins Gehege kommen! Man will sich einhegen, andere außen vor lassen! Verkennen wir die Gefahr des Fremden? Nein, nicht mehr und nicht wieder! Liebe Kinder, so spricht euer Vater!“
Ja, ich stehe vor der Tür. Gesetzt ich stünde vor H.s Tür und fragte: Eines der Kinder käme doch mit!
„Ja! Ich habe Lust!“
Etwa der elfjähige Carl-Gustav H.1
„Komm, Carl-Gustav, du kennst mich nicht! Aber vertraue mir, ich bin ein Genosse, ein Gesinnungsgenosse deines Vaters! Ich bringe dich zu Götzens Hause und zu den Kindern! Erst letztens spieltet ihr beisammen, nicht? Erzähle mir auf dieser Fahrt, die eineinhalb Stunden dauern wird, erzähle mir davon, welche Spiele euch begeistern, welches Spiel dein Herz begeistert! Ich will dir zuhören und dir von meinen eigenen Spielen erzählen, die ich als junger Knabe auf dem Grundstück meiner Großeltern spielte, mit der Schrotflinte meines Großvaters, dem Imker und Jäger und sich Jahre später noch versteckenden Kriegsheimkehrer mit dem rollenden R. Oder mit der Axt das Kleinholz verkleinern. Auch ich weiß: Wo gehobelt wird, fallen Späne. Und wir singen zusammen, liebe Kinderlein, kommet! Lasset uns singen! Aus dem evangelischen Pfarrhaus werdet ihr noch Melodien im Kopfe haben, die wir auf dieser Reise singen können werden! Es wird uns aus Thüringen nach Anhalt führen und aus dem Anhaltinischen wieder hinein nach Sachsen.“

Ich kenne mich nicht gut aus hier in Thüringen, um es genau zu sagen: Gar nicht. Darum mache ich diese Reise, um diese Landschaft kennenzulernen, darum mache ich diese Reise von A nach B, um zu verstehen, auf welcher Erde die Geistesflüge, die Gedankenflüge, die Brüderlichkeiten, die neuerlichen, wachsen, auf welcher Erde sie gesät werden und geernt werden, die neuen, rechten, extremen, kleinen Gedanken, in welcher Landschaft sie gedeihen. Ist das romantisch, alleine durch die deutschen Lande ziehen? Darum möchte ich von A nach B fahren, ich, der ich aus dem Westen komme, der den Osten gar nicht kennt. Außer aus mystifizierten Fiktionen, Geschichtsfiktionen, politischen Visionen, die heute nicht mehr greifen.

„Lieber Kinder! Wie ich zu eurem Vater stehe? Auch ich habe Deutschland studiert! Deutschland, deine Sprache, deine Literatur. Habe Germanistik studiert, im ersten Hauptfach, ferner habe ich studiert: Publizistik und Kommunikationswissenschaften. Und ich sage euch, liebe Kinder, euer Vater kommuniziert nicht mit mir! Auch ich habe Deutschland studiert, aber euer Vater, so möchte ich euch sagen, kommuniziert nicht mit mir. Es gehört zu einer regelrechten Kommunikation, zu einer Verständigung, die den Sender, den Empfänger und das... Und die un... unklare, die nicht-absehbare, die nicht zu kennende Ontologie miteinbezieht. A – B - A’ - B’ - A’’ - B’’ undsoweiter, eine Spirale, die die Kommunikaton ausmacht, zwischen zwei Kommunizierenden; und auch anzuerkennen, dass sich Orchideen und Bienen lieben und Ameisen und Akazien. Und ich sage euch, euer Vater kommuniziert nicht mit mir. Nun, liegt das daran, dass ich ihm nicht folge? Denn seine Botschaften sind wohl sehr klar und deutlich. Ihr werdet sie kennen: Am Familientisch, am Küchentisch, am Katzentisch. Was fällt ab für euch, liebe Kinder, was fällt herunter, von diesem Tisch, von dieser neuen, deutschen, völkischen, rassistischen Elite? Wie schmeckt das Gegorene? Welche Krümel fallen vom Tisch, sollen vom Tisch fallen, welche Botschaften sollen geschluckt werden, verdaut werden und wiedergekäut? Ihr, liebe Kinder, werdet es wissen, was euer Vater an euch weitergeben will! Ist er ein herzlicher Vater, ein liebender, fürsorgender Vater? Welchen Pfeffer streut er in die hausgemachte Wurst? Wer soll bleiben, wo der Pfeffer wächst? Ist er da, wenn euch die Brust schmerzt? Sitzt er am Stammtisch, wenn euch was auf der Seele liegt? Jetzt mal im Ernst: Würdet ihr mitkommen, zum Trampolin, das ich aufgestellt habe, für meinen eigenen Sohn, in meinem Garten in Brandenburg, würdet ihr? Wir könnten versuchen, abwechselnd zu hüpfen, um auf neue Gedanken zu kommen! Wir könnten springen, um die alten Gedanken loszuwerden! Würdet ihr das wollen? Wir könnten einen Abstecher machen, nicht von A nach B fahren heute, sondern von A nach C! Wollt ihr oder wollt ihr nicht? Vielleicht müsst ihr überrascht werden und ich sage es euch nicht, wo wir ankommen werden. Ich könnte andere Tatsachen schaffen und dann würdet ihr K.s Kleintierzoo nicht in Augenschein nehmen. Nein: Ich werde euch nicht entführen, sondern verführen, ich meine: Mich verfahren, dabei zerfallen. Ihr könnt dem Zerfall zusehen oder einfach Quatsch reden. Aber da ihr die Strecke so gut kennt - von A nach B - werdet ihr es schon merken, dass euch ein unbekannter Weg entgegen schaut, entgegen fliegt. Wir, die wir in die Dunkelheit fahren, in die Dunkelheit des Januarnachmittags.“

Der Wald, in den ich fahre, heißt Quillerwald, wie Qualle, wie Quitte, wie Quarz. Nicht Killerwald, mit Q U! Es ist nicht mehr weit bis Bornhagen.

„Ihr werdet die deutsche Sprache lieben müssen, da machen wir uns nichts vor. Auch ich liebe die deutsche Sprache und schätze die Möglichkeiten, sich in Worten zu verlieren, mit Worten zu spielen. Habt ihr Übung darin, mit Worten zu spielen? Wisst ihr um die Möglichkeit des Wortspiels? Wird man euch, liebe Kinderlein, mit Worten spielen lassen, mit Fremdwörtern, mit anderen Worten, mit Neuzusammensetzungen, mit Wortungetümen, mit Wortkaskaden, mit Wortrhizomen? Oder wird man euch die Neologismen wegnehmen, die Neuzusammensetzungen und all die fremden Worte? Werdet ihr eine Essenz deutscher Sprache einzuhegen wissen, wie jene Idealisten, die versuchten, die Schönheit aus dem Stein der griechischen Antike zu meißeln?“

Ich nähere mich Bornhagen vom Süden. Warum nicht umgekehrt? Von hier aus erscheint es nördlich. Im Norden. Und es sind ja auch die Nordischen, an denen ihr zu hängen scheint, ihr guten Germanen.

Paderborn, Schwarzborn, Bornhagen. Bornsoundso. Was ist diese Gegend, diese Borngegend? Wer ist hier geboren? Lebensborn, Bornhagen. Sicher wünschtest du, guter Germane Björn, in Lebensborn geboren zu sein. Nun aber Bornhagen, Lebensbjörn, Bornhagen von Tronje, nicht wahr?

Trüber Tag, grau, weiß und finster.

Warum erzählt mir die Verleihstation des Mietwagens, dass mein Tank bis Leipzig reicht? Neigt sich der Sprit doch jetzt, geht der Sprit bereits jetzt zur Neige! Was, wenn ich stecken bliebe zwischen A und B, wenn der Sprit nicht reicht? Was, wenn der Zerfall des schlecht zubereiteten Kopfsalats dadurch unterbrochen wird?

Eierautomat an der Esso-Tankstelle, kurz vor Witzenhausen. Das Werratal. Ziemlich schön, ohne Witz.

Zum ersten Mal gerutscht. Begebe mich aufs Glatteis. Immer dicht über dem Gefrierpunkt.

Völlig verfahren vor Bornhagen. Die Werra überqueren oder nicht überqueren, das war die Frage. Verfahren. Jetzt wieder Witzenhausen-Werleshausen, auf dem Weg zur Burgruine Hanstein. Vor mir ein Traktor. Der Traktor des bekannten Nazis Thorsten Heise?

Bornhagen verlassen. Wunderschöne, kleine, dörfliche Gemeinde. Fachwerk, Kirche, Burgruine, eingeschneit, romantisch und heil. Bornhagen an der Wurststraße. Da, hinter dem Wurstmuseum wohnt er, im Pfarrhaus. Da durften die damals nicht entlang, die Demonstranten von der Antifa, nicht an seinem Haus entlang. Am Wegesrand hält ein Bus, ein Kleinbus, ein Minibus, aus dem einige Kinder steigen. Ich schaue einem Mädchen, blond, sechs, sieben Jahre in die Augen. Ein blondes Mädchen, vielleicht eine Spielgefährtin Carl-Gustavs. Die anderen Kinder, die Mutter im Auto, nicht zu erkennen, wes’ Geistes Lied sie singen.

Ein Rittergut am Wegesrand, ich lasse es liegen. Mein Weg führt mich nach Heilbad-Heiligenstadt, es ist 16.05h. Die Verkehrsnachrichten: „Bitte biegen Sie nicht rechts ab!“ Die Anzeige: Ein Grad, es kann mit Eisglätte gerechnet werden. Ein Skoda mit Eichsfelder Kennzeichen überholt mich sehr schnell, demonstrativ die Ungeduld zeigend. Im Ort! Mich viel zu schnell überholt! Wo ist Herr H., wenn er nicht zuhause ist? Hätte er nicht Verkehrspolizist werden können? Wann kommt er nachhause?
Hier hat der Mann ein neues Zuhause gefunden. Hier ist die Welt noch in Ordnung, im evangelischen Pfarrhaus, nebst der Burgruine Hanstein. Was haben wir uns zu sagen, Herr H. und ich? Gibt es Gemeinsamkeiten? Könnte man sich Märchen erzählen, Lieder singen, Mythen auseinandernehmen und neu deuten? Könnte man sich auf Spanisch unterhalten, in einer anderen Sprache, auf Englisch, auf Französisch? Welche Sprachen spricht der neue, rechte, extreme Missionar? Man wird sich doch als europäischer Patriot auch in anderen europäischen Sprachen unterhalten können über das Deutschsein! Siebzig durchgestrichen. Zweiundsiebzig Jahre nach Ende des Tausendjährigen Reiches.
Welch hoher Ton schleicht sich ein in meine Diktion? Haben wir Ähnlichkeiten? Warum bediene ich mich dieses hohen Tons? Welch vornehmes Gebaren. Was nehme ich mir als nächstes vor? Wie sprechen die Freunde miteinander, H. und K., wenn sie mit Gabeln bewaffnet beim Abendbrot durch die hauseigene, ungepfefferte Jagdwurst hindurch ins Brot stechen? Ich könnte auch anders sprechen: Wüster, vulgärer. Oder versuchen, die „kulturelle Identität“ von Stuart Hall einzulösen, viele Sprachen ineinander verschmelzen zu lassen. Versuchen, mit jedem Satz in der Zeit voranzuschreiten, ein Stück Identität zu verlernen und zugleich etwas Neues - etwas Anderes - vorzufinden. Im Offenen wohnen. Was hätte es für einen Sinn, mich auf mein Weiß- und Männlichsein zurückzuziehen? Mehrfachverschont: Der Schritt ins Partikulare scheint sinnlos, nicht wahr?
Born in South America. Born in South Central. Born Black, Born Jewish, Born Asian... Wie heißt es bei Ice T? Born Dead. Borndeadhagen. Lebensborndead.

rittberger-820x615-q92
Das Wurstmuseum. Bornhagen an der Wurststraße. Dahinter H.s Haus. — Autor

Ich fahre in die Dunkelheit, langsam umschmeichelt mich eine sanfte Müdigkeit. Jemand anders könnte jetzt am Steuer sitzen, ich könnte mich zurücklehnen, um die Landschaft besser zu studieren, meinen Blick schweifen zu lassen, weg von der Straße. Wohin schweift der Blick des rechten Autofahrers, der von A nach B reist? Wie oft besuchen sich die Seelenverwandten, die Geistesbrüder H. und K.? Kriegsdenkmal rechts liegen gelassen. Nicht rechts abgebogen.
Ich hätte gerne in einem Dorfgeschäft in Bornhagen einen Kopfsalat erworben, um ihn nun im Kofferraum von A nach B zu transportieren. Doch wozu sollte im Januar ein kleines Lebensmittelgeschäft einen Salat im Angebot haben? Welcher Kühlschrankkette könnte dieser Kopfsalat - zu dieser Jahreszeit nicht wachsend – entstammen? Wie sprengt ein Kopfsalat, der um diese Jahreszeit nicht wächst, die Ketten? Nun habe ich den Kopfsalat im Kopf. Hier beim Rewe in Uder könnte ich nun einen Kopfsalat erwerben, um ihn mir auf die Rückbank zu legen oder in den Kofferraum oder in der Plastiktüte verwelken lassen.
Eine Gärtnerin steht auf meinem Brandenburger Pachtgrundstück und betrachtet kopfschütteln den Zwergbambus, den ich gepflanzt habe. Sie sagt: „Dieser Ausländer gehört hier nicht hin!“ Ich sage: „Siehst du die Immortelle? Sie stammt aus Nordafrika und fühlt sich hier sauwohl!“
Woran wächst der Hass H.s auf dem Weg von A nach B? Was könnte ihm hier begegnen, was seinen Hass aufs Neue entfachen? Hier, am Beispiel Uder? Gibt es in Uder Uber? Ich finde auf Anhieb keine Hassursachen. „Drei Rosen“, die Gaststätte im Fachwerkhaus an der Dorfstraße. Fachwerkhäuser. Hier ein griechisches Restaurant, vermutlich nicht nach dem Geschmack der Rechten.
To-Do: Wahlergebnisse des Landkreises Eichsfeld studieren. Spedition Jakob auf meiner Fahrbahn.

Wenigstens habe ich getankt. Ich werde nicht stecken bleiben auf meinem Weg von A nach B, auf meinem Weg in die Dämmerung, in die Dunkelheit, in ein finsteres, schmutziges Weiß, das sich hier dicht über dem Gefrierpunkt auf die Landschaft ausgemehrt hat.

Schon wieder verfahren. Kopfsalat im Kopf an brauner Soße. Keine Eingebung, keine Orientierung, uninspiriert, vollkommen ideenlos. Trüber Januartag.

Befinde mich nun wieder auf der richtigen Spur, kam in die Verlegenheit, rechts abbiegen zu müssen, konnte nicht anders, bin erneut rechts abgebogen, um auf der richtigen Spur zu bleiben. Immerhin zweispurig, dreispurig.

Was macht das für einen Unterschied, ob ich hier tatsächlich entlang fahre oder es mir nur vorstelle? Warum könnte ich nicht am Berliner Schreibtisch sitzen und mir diese gesamte Fahrt einfach vorstellen oder die Distanz anders durchmessen, durchschreiten, durchleben? Mit einer Karte von Groß-London den Harz durchwandern? Mit einer Karte des Harzes Berlin durchwandern? Mit einer Karte Bornhagens durch den Görlitzer Park spazieren? Mit Hartz 4 durch den Görli gehen? Jetzt Berufsverkehr, Feierabendverkehr, viel zu viel los auf den Straßen. Beuren heißt es hier. Nicht Blaubeuren. Warum sollte ich nicht genau hier die Sache abblasen? Ein Schneemann, da. Ist diese Landschaft hier besonders? Eine Landschaft, vielleicht vergleichbar mit jener zwischen dem Remstal und Murrhardt, zwischen Schorndorf und Esslingen. Leinefelde nächster Ort, ich werde nicht mehr rechts abbiegen. Wächst hier auch Sauerkraut?
Wieder falsch gefahren. Das wird noch dauern. Nun fahre ich also nicht einmal den Weg, den Höcke fahren würde, von A nach B, von Bornhagen nach Schnellroda, ich fahre parallel dazu, etwas weiter südlich, auf einer Landstraße, also langsamer, wesentlich langsamer, als der rechte Denker die Landschaft durchfahren würde. Ich nehme an, er würde die Schnellstraße nehmen, die Autobahn.

Eine Weile nichts gesagt. Kann nicht das Gerät mal umgekehrt mir was einflüstern, wenn mir die Laune ausgeht? Es rauscht. Was rauscht? Der Schnee, die Luft? Ist es das, was ein Bio-Akkustiker geschaffen hat, das Zischen zwischen außen und innen?

In kurzer Distanz ein Bärenpark.

Unter einer Brücke Plakate einer lokalen Hardrockband. Wer will das hören?
Die ganze Landschaft, die flacher ist, als ich dachte, eingetaucht in Weiß.
Ab auf die Autobahn 38 nach Leipzig. Weniger Landstraße, weniger Land, weniger Bild, weniger Mensch.

Ich fahre in den Höllbergtunnel.

Diese Frau spricht viel von Sex. Über eine Chatplattform haben wir uns kennengelernt. D.h. wir haben uns noch nicht kennengelernt, auf keiner körperlichen, geistigen, seelischen Ebene. Lediglich als Avatare, als Begehrensavatare sind wir uns begegnet. Als lüsterne, begehrende, gierige Menschen. Nun schreiben wir uns täglich. Ihre Sprache ist direkt und obszön. Sie schickt mir Bilder von sich, zeigt mir etwa eine kleine Scheibe Wassermelone zwischen ihren Beinen, ihrem rasierten Intimbereich. Sie sagt: Das ist ein Foto von meinem Freund Oliver R. Der Starfotograf, der sich im letztem Jahr das Leben nahm. „Ich vermisse ihn.“ Sie sagt: Ich liebe Oralsex. Nun fahre ich durch diese Landschaft, die immer trüber wird, immer bleicher, immer müder, immer ausgewaschener. Warum sollte ich keine erquicklichen Phantasien haben? Auf mich warten keine deutschen Frauen und Kinder zuhause. Das Weiß wird zusehends grau, das Grau wird zusehends dunkelgrau. Die Landschaft wird nach und nach und nun in eine abendliche Dunkelheit getaucht. Autobahnfahren hat nichts Malerisches oder Melancholisches, ist ein effizientes Durchschneiden der Landschaft. Keine Dörfer in Sicht. Nichts Dörfliches. Schnell von A nach B gelangen. Schnell in die Landschaft eindringen und diese Scheiße hinter mich bringen. Ich fahre in die Dunkelheit, in die Finsternis. Farbenblinde würden zu dieser Stunde nicht viel verpassen. Nachtblinde allerdings würden nun zuhause bleiben, gar nicht erst ins Auto steigen. Sie würden vielleicht auch in den nächsten fünfzehn Minuten zum Stehen kommen und sich einen Schlafplatz für die Nacht suchen.
Ich fahre durch das letzte, christliche Abendland und diese Frau hat weißgottfürwelche Phantasien. Schon wieder eine Nachricht. Sehr wahrscheinlich wird eine Begegnung, sollte sie stattfinden, niemals annähernd das einlösen, was sich an Projektionen nun zwischen uns entwickelt hat. Vermutlich werden wir verstummen, im Augenblick, in dem wir uns zum ersten Mal gegenüber stehen. Die Vipper wird überquert, über eine Brücke. Der Galgenberg ist in unmittelbarer Nähe. Auf der gegenüber liegenden Fahrbahn ein Blaulicht. Wird Geilheit vulgärer, banaler, schaler, je phantasieloser die Landschaft?
Was tun, wenn die Dunkelheit hereinbricht? Was tun, wenn die Finsternis unsere Sinne ver... verdunkelt? Woran werden wir uns halten, an uns selbst, aneinander? Die deutschen Familien mit den deutschen Kindern. Elf Kinder müsst ihr sein! H.s Kinder, K.s Kinder, die heranwachsen in den Dörfern A und B, die ich nun durchschreite, in immer größer werdender, sich ausbreitender Dunkelheit, in einer nebulösen Landschaft, die mir nun hässlich, blutarm und ausgezehrt vorkommt. Lastkraftwagen fahren Waren von A nach B, von welchem A nach welchem B auch immer. Ein Läufer überquert eine Brücke. Er wirft keinen Stein herab.

Menschenleer sonst die Landschaft.

H.s Kinder werden über die sexuellen Gefühle ihres Vaters nichts wissen. H.s Sexualität wird keine Rolle spielen im Alltag einer deutschen Erziehung. Da gibt es keinen blinden Fleck. Also wird sie sehr wohl eine Rolle spielen. Die Hauptrolle, Nebenrollen sind gestrichen. H.s Treue wird auch eine Rolle spielen. H.s Ehre, H.s Heteronormativität. H.s Reinheitsgebot. So wird sich allabendlich in den Augen seiner Frau die Heimat spiegeln, hinter der Dorfkirche. Ihr lieben Kinderlein.
Ich bekomme weitere Nacktbilder: Da, jetzt in der Badewanne, ein Nippel von einem Piercing durchschossen. Da, zwei nackte Frauen im Profil, weiß und schwarz, Bauch an Bauch, die Köpfe im Nacken, eine davon sie.
KZ Gedenkstätte Mittelbau-Dora, eingetaucht, vernebelt von Dunkelheit. KZ Gedenkstätte, nahe Großwechsungen. Was kommt einem rechtsextremen Führer in den Kopf, der dieser Tage von einer Erinnerungswende spricht? Was bedeutet ihm die Gedenkstätte, die nun auf dem Weg liegt von A nach B? Vermutlich eine hässliche Fratze der Bundesrepublik Deutschland, auf die rechtsextreme Köpfe gerne reichlich Schminke auftragen würden. Einen Ausweg aus der Erinnerungskultur. Einen Einstieg in ein neues, stolzvölkisches, reinhehres, vom Familiensinn und vom deutschen Geist durchdrungenes Deutschland. Durch und durch weiß muss es sein, das nächste Deutschland, auf das der neue Heilsbringer, thüringischer Landesvorsitzender der Alternative für Deutschland... Ach, fuck. Hier hätte ich abbiegen können, rechts abbiegen können nach Erfurt. Auch in Erfurt wurden in letzter Zeit große Reden geschwungen für ein anderes Deutschland.

Bald wird es ganz dunkel sein, dann werde ich nichts mehr sehen. Das Thüringer Land, von der Dunkelheit verschluckt. Von A nach B fahren, Kopfsalat an brauner Soße, zerfallend in der Dunkelheit, zerfallend, vom Licht, vom Licht nicht mehr versorgt, vom Sonnenlicht, nun bald ganz durchkreuzt, durchzogen von Nebel, Obskurität und Finsternis. Ich werde mich an die Lichter der Autos, der Lastwagen halten müssen und im vollständigen Dunkel in Schnellroda ankommen. Warum sollte einer in der Dunkelheit in Schnellroda ankommen wollen? Was sollte jemand dort vollbringen? Warum fahre ich eigentlich dort hin?

Nun, Schild, Sachsen-Anhalt, Ursprungsland der Reformation.

Mir fallen die Bilder ein von Gerda Brodbeck, speckige, monochrome Bilder, in milchigem, pastelligem, cremigem Farbton, die nur mühsam Konturen, Gestalten, Menschliches erkennen lassen. So drehen sich nun auch hier die Windräder hinterm Parkplatz „Goldene Aue“, wie blasse Striche, in einer zusehends verschwindenden Landschaft.

Es heißt in den neusten Opfermythen der neuen Rechten, man könne als blonde Frau nicht mehr auf die Straße gehen. Hier, zwischen A und B, auf den Dörfern im Südharz, zu Fuße der Burgruine Hanstein in Bornhagen wird man sich noch sicher fühlen. Hab dich nicht so! Der Metzgersohn, der dir auf der Kirmes im Suff zwischen die Beine grapscht, hat das ja Montag wieder vergessen! Das blonde Mädchen am Wegesrand, in Bornhagen: In welche Zukunft, in welche Richtung hat es geblickt? Ist alles Angst drumrum? Hallo, Angst, bist du es? Sitzt du einsam und verlassen vor der Dorfkirche?

Gestern fragt eine Frau im Publikumsgespräch: Was kann man vom Stück lernen? Das Stück hatte den Namen „Peak White“, was für mich soviel bedeutet wie: Ab jetzt beginnt die offene Gesellschaft und der reinweiße, rechte Pseudodiskurs hat seinen Zenit überschritten, ist abgegolten. Wie mit der Neuen Extremen Rechten umgehen? Welche Wege zeigt das Stück? Kann man auf die Tattrigkeit der deutschen Volkszunge warten, die sich selbst irgendwann nicht mehr auszubuchstabieren weiß? Ich weiß nicht, welche Wege es zeigt. Ich weiß nicht, ob es ratsam wäre, Björn H. zu treffen, oder irgendeinen der Köpfe der Neuen Rechten. Ich bezweifle das. Ich weiß nicht, ob es ratsam wäre, sich als Journalist an einen Tisch zu setzen mit den H.s und den K.s, um Gemeinsames und Trennendes herauszufinden. Ich bezweifle das stark. Ich weiß nicht, ob es in irgendeinem Fall lohnend erscheinen könnte, den Respektlosen Respekt entgegen zu bringen. Ich weigere mich. Ich bin dagegen, dem rechtsextremen Kulturkampf die Theaterpforte zu öffnen. Jedes noch so geistesscharf kuratierte Podium bleibt ja deren eroberte Bühne. Der rechte, weiße Mann wäre in der Kultur angekommen und würde nun seinen Geist versprühen, seine Essenz. Essigessenz hat 60%. Das ist majöritär, ätzend, oder etwa nicht? Ich weiß, dass es mühsam ist, der Respektlosigkeit ein Ende zu bereiten. Wie war noch die Begründung des NPD-Nichtverbots? Zu wenig repräsentative Kraft, zu wenig repräsentatives Mandat, zu wenig Aussicht auf Regierungsbeteiligung und damit Veränderung in gesetzgebender oder exekutiver Hinsicht... Ich weiß nicht ob diese Begründung ausreichend ist, denn da ist immer noch das Performative der Sprache, der Sprechakt, die Hasssprache, die verbale Gewalt, die Hetze, die hasserfüllte, vergiftete Volkszunge. Müssen da nicht Zweifel kommen am Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das sich rein auf die Repräsentation beruft, nicht aber auf die performative Kraft der Neuen Extremen Rechten? Ich schreibe nicht an einem Heldenepos, wie gesagt. Kopfsalatzerfall bedeutet, den Lebenszyklus bis zum Ende begleiten. Sterbehilfe: Da holt noch mal einer Luft, ausatmen kann dann der Gott für ihn.
Nun ist alles in ein finsteres Grau getaucht. Bald werde ich gar nichts mehr sehen und erkennen, außer den roten Rücklichtern der Fahrzeuge. Ich weiß, ich komme Schnellroda nun näher, aber mein Geist wird immer müder. Ist das Teil des Verfalls des Kopfsalats. Ich fahre hier in Reminiszenz an Wolf Vostell, an ein Fluxus-Happening der 60er Jahre. Kann ich mich, indem ich mich dieses ästhetischen Habitus’ versichere, in eine andere Topografie einschreiben? Die Geschichte von 1968, die auch die Geschichte von Vostells Kopfsalatzerfall ist, ist lebendig und tot zugleich wie Schrödingers Katze. Warum habe ich mich entschlossen, in die Dunkelheit zu fahren? Warum bin ich nicht sehr viel früher aufgestanden, um bei Tag in Schnellroda anzukommen? Ich habe mich nicht entschlossen. Ich habe schlichtweg nicht daran gedacht, nichts antizipiert. Ich habe mich nicht entschlossen, in die Dunkelheit zu fahren. Vielmehr ist es mir passiert.

Was ist das nun für ein Deutschland zwischen Thüringen und Sachen-Anhalt? Südthüringen, Südharz, südliches Anhalt, welches Land könnte hier erblühen? Ein friedliches Nebeneinander und Miteinander? Ich will von Menschen erzählen, die übersetzen, die übersetzt worden sind, die sich fortwährend durch Übersetzungen neu hervorbringen und nicht und niemals festschreiben lassen. Welche andere Landschaft könnte man wollen, wenn nicht die eingehegte, exklusive Gemeinschaft der Neuen Extremen Rechten? Welcher romantische Landschaftsmaler wird sich ihrer annehmen? Weiß und bleich am Kreidefelsen macht nicht viel her. Wenn sie begleitet und kultiviert werden will, die Landschaft einer anderen Bevölkerung, die dem Hass widersteht. Wenn ihrem Entstehen nicht nur zugeschaut werden soll. Welche Namen wird sie haben, die offene Gesellschaft? Wie kann man ihr einen Dienst erweisen?

Ich fahre jetzt nahezu 180, neben mir ein Porsche, dessen Motor so laut ist, dass mir der Lärm (und der Gestank!) des Fahrzeugs aus Stuttgart wesentlich mehr erscheint als der Lärm, den die Neuen Extremen Rechten machen. Ist er vielleicht gar nicht so ernst zu nehmen, der Lärm der Neuen Extremen Rechten? Wird der Ruß sich bald verzogen haben und nur noch die deutschen Autos zurückbleiben? Und was werde ich dann tun, mit der Pferdekutsche nebenherfahren? Kann ich mich nun getrost etwas zurückfallen lassen, auf meiner winterlichen Reise von A nach B, etwas müder werden und wortkarger, etwas langsamer werden und zerstreuter, etwas poetischer und sinnenfroher? Fast möchte ich eine Flasche Rosé öffnen und eine Flasche Rotwein trinken und in den Straßengraben fahren.

Nun vor mir in der Dunkelheit rote Punkte, die immer wieder aufblinken, rote Punkte inmitten der Dunkelheit, rote Punkte der Lichtanlage, riesige aufragende, blinkende Lichtanlagetürme, unheimlich gruselig, wie Zombies, ausgestorbene Ruinen aus vergangener Zeit, Windenergie. Querfurter Platte, Parkplatz, ich muss pissen, aber will die Ausfahrt nicht verpassen. Mein Mobiltelefon gibt keine Information mehr her, kein Funk, kein Empfang, Funkloch vor Schnellroda.

Ich bin nun vorbei gefahren an zwei Ausfahrten, die nach Schnellroda geführt hätten. Albersroda, Schnellroda. Ich bin vorbei gefahren. Ich bin nicht rechts abgebogen, obwohl es das war, was ich mir für heute vorgenommen hatte. Ich wollte von A nach B fahren, um von A nach B zu fahren. Und nun bin ich zu müde vom langen Tag, müde vom vielen Fahren, abgeneigt, noch einmal umzudrehen, noch einmal rechts abzubiegen. Ich werde nun meinen eigenen Plan, den ich mir fest vorgenommen hatte, meine eigene Zielsetzung verlassen... Ich werde von A nach B gefahren sein, aber niemals in Schnellroda angekommen sein. Ich werde meinen Plan nicht zuende gebracht haben.
Fluxus war das ohnehin nicht. Mehr ein stockender, holpriger Gedankenstrom durch Mitteldeutschland. Was würde die Alt Right dazu sagen? „Filth!“
Schnellroda würde jetzt eingetaucht sein in völlige Dunkelheit. Ich würde hineinfahren in einen Ort, den ich nicht mehr erkennen kann. In manche Fenster könnte ich schauen. Vielleicht am gelb angestrichenen Rittergut anhalten, das Fahrzeug zum Stehen bringen, das Licht ausschalten und einen Blick hineinwerfen, vielleicht würde die Familie K. pünktlich um 18h das Abendessen einnehmen. Vielleicht könnte ich als Zaungast, als ungebetener, einen Blick erhaschen der vielköpfigen Familie. Vielleicht würde sie ja an diesem winterlichen, kalten Tag das Abendessen einnehmen, gerade wenn ich vorführe. Vielleicht könnte ich diesen Blick erspähen. Vielleicht wären H.s zu Gast.

„Ihr Kinderlein, ich werde euch hier, hinter B, ohne euch ans Ziel gebracht zu haben, werde ich euch hier, hinter B, werde ich euch hier aus dem Fahrzeug aussteigen lassen. Ihr könnt dann eure Eltern anrufen oder die Freunde anrufen, an die ihr denkt! Ich werde euch nicht von A nach B bringen, liebe Kinderlein, und auch nicht nach C. Ich werde euch auch nicht mitgenommen haben. Ich werde nichts über euch erfahren haben. Ich werde euch nichts gefragt haben. Ich werde nichts über euch wissen. Ich werde nicht wissen, ob ihr glücklich seid. Ich werde nicht wissen, ob ihr bereits verdorben seid für den Rest des Lebens. Ich werde nicht wissen, ob man mit euch einen respektvollen Umgang pflegen könnte in einer zukünftigen Gesellschaft, die euren Eltern arg missfiele. Ich kenne eure Namen, euer Alter nicht, ich weiß nichts über euch und eure Träume. Und gewiss nicht, ob eine Gesellschaft des respektvollen Umgangs sich auf eure Zeugenschaft, auf eure Mithilfe, auf euren Einsatz verlassen könnte.“

Nun, ich habe umgedreht, habe dadurch etwa eine Stunde Zeit verloren. Aber es war mir wichtig, meinen Plan nun doch noch zu erfüllen. Ich stehe nun in Schnellroda auf einem Parkplatz, nahe dem Rittergut der Familie K. Die sieben Kinder kann ich nicht erspähen. Die Mauern des Ritterguts sind zu hoch. Einsicht bietet sich mir nicht. Ich sehe nichts, es ist dunkel. Auf der anderen Straßenseite sehe ich hinter Gardinen Menschen, die sich scheinbar zwischen Küche und Esszimmer hin und her bewegen. Von einer Familie K. sehe ich nichts. Auch nichts von einem Verlag Antaios oder von rechten Redakteuren, die um 18h aus der Redaktionsstube strömten. Ich werde in Schnellroda gewesen sein und nichts beobachtet haben.
Ich werde nicht in Schnellroda gewesen sein.
H. und K. werden unbehelligt geblieben sein.

Leipzig Flughafen, ich komme. Mietwagenabgabe. Ich werde nicht wegfliegen. Morgen geht’s nach Dresden zu einem Realismus-Workshop an der Technischen Universität.

Schwarz. Rote Punkte. Schwarz. Nacht. Schwarz wie die Nacht. Das Gegenteil von Weiß.

Alchemie, Landesmuseum für Vorgeschichte, Halle. Vielleicht jetzt Zeit für eine weitere Anweisung.
Ende.


  1. Name frei erfunden. 


Kevin Rittberger — Autor und Regisseur, arbeitete unter anderem am Deutschen Schauspielhaus Hamburg, Deutschen Theater Berlin, Schauspiel Frankfurt, Schauspielhaus Wien, Düsseldorfer Schauspielhaus sowie am Theater Basel. 2011 war er für den Mülheimer Dramatikerpreis nominiert. Sein Stück "PEAK WHITE oder Wirr sinkt das Volk" ist derzeit am Deutschen Theater Göttingen zu sehen.

→ http://www.kevinrittberger.de/