Die Innere Sicherheit oder ein König_innenreich für ein Pferd

21. Februar 2018 — Demokratisierung

Wir sind nichts, wir sind nur, was wir scheinen: Land der Musik und der weißen Pferde.
Tiere sehen dich an: Sie sind weiß wie unsere Westen.— Elfriede Jelinek, Rede zur Verleihung des Heinrich-Böll-Preises
in Köln am 2. Dezember 1986

Die Autorin horcht in die Gegenwart hinein und horcht noch mal und hört, wie die Expert_innenstimme aus dem Podcast sagt: the Germans have a special word for this: VERGANGENHEITSBEWÄLTIGUNG, which is untranslateable, a topic which is very German.1

Es war einmal, und es war einmal einfach und schön.
Die Autorin erinnert sich an das Jesuskreuz aus Holz, damals, im Klassenzimmer direkt über der Tafel, in ihr Erinnnerungsbild hineinzentriert und direkt daneben, wahrscheinlich rechts davon, immer das Bundespräsidentenfoto. Erst blickte der Bundespräsident Rudolf Kirchschläger auf die Autorin hinunter, die noch keine Autorin, war, sondern ein Kind. Genau genommen ein Ausländerkind, das sich (irgendwann, später) dachte: so eine Sprache beherrschen und mit der Sprache eine Geschichte und mit der Sprache aus der eigenen Geschichte (und darüber) hinaus denken. Dann 1986, Konstante: Jesuskreuz, nur das Bundespräsidentenfoto wechselte auf das Gesicht von Kurt Waldheim. Der Waldheim, der von nichts wusste, sich an nichts erinnern konnte, weil ja nicht er von 1942 bis 1944 bei der Wehrmacht war, sondern nur sein Pferd. Schon richtig verstanden. Das mit den alternativen Fakten konnten die Österreicher schon lange vor Trump & co. JETZT ERST RECHT! 2 wurde Wähler_innenschlachtruf für die Unschuldsvermutung des Pferdes, nein, des Waldheims. Waldheim – so ein schöner Name aber auch, so ein schöner österreichischer Name, der lässt sich nicht so einfach beschmutzen.
Meine Damen und Herren, das verstehen wir doch alle!

Die Autorin hört ein Fiepen und Gurren, kommt das aus ihrem Hirn, ist das jetzt wieder dieser Tinnitus im rechten Ohr, nein, da wird wohl etwas gefaxt, und siehe da, ein FAX aus dem Jahr 1986, das Jahr, das einen Vorgeschmack brachte auf die mediale Globalisierung, in der Themen über nationale Grenzen hinweg wahrgenommen, weitergedreht und verstärkt werden 3 Es war einmal das Telefax, das Nachrichten und Dokumente in alle Welt verschickte und mit Fiepen und Gurren Endlosschleifen von Papier und Informationen ausspuckte, und all diese Österreicher_innen – und mit ihnen der Lärm der Zeit und die ganze Welt – hörten den Nachhall im Resonanzraum der österreichischen Politik und unter den Stimmschichten und Schichten und Schichten den Wind heulen, dabei war es so viele Jahre so wunderbar still gewesen, die Idylle vor dem Vergangenheitsbewältigungssturm, der mit dem Namen Waldheim losging, und die Österreicher_innen stimmten gemeinsam in den Chor JETZT ERST RECHT!, JETZT ERST RECHT!, als Reflex der Empörung, der Schuldabwehr, als Wiederholung der Wiederholung einer beharrlichen österreichischen Lebenslüge, das erste Opfer der Nazis gewesen zu sein.
Meine Damen und Herren, das können wir doch alle nachvollziehen!

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Walter Wobrazek, Abb. in: 1986. Das Jahr, das Europa veränderte, Czernin Verlag, 2006

Es war einmal, und wenn eine_r ein Pferd hatte, damals, beispielsweise 1942 bis 1944, wie zum Beispiel der Waldheim, dann war nicht der Waldheim bei einer paramilitärischen Kampforganisation der NSDAP, sondern das Pferd. Waldheim war bitteschön ein Diplomat [im Übrigen ist die Autorin der Meinung, dass es ganz richtig ist, dass österr. Diplomaten heutzutage unmöglich die Kinderbeihilfe gestrichen werden kann – wie kommen die denn da drauf und wo kommen wir denn da hin, wer denkt da bitteschön an die Kinder?]. Waldheim war Kosmopolit [Wussten Sie, dass die Bettwanze ein Kosmopolit ist? Populationen im Norden, in den Alpen, in den Tropen und Subtropen.], Waldheim war eine integre Figur, sogar eine kompromissfähige Integrationsfigur, Waldheim war staatstragender Politiker et cetera. Ein kleines Rädchen im Menschenvernichtungsgetriebe, ein pflichterfüllender unbedeutender SA-Mann und sein Pferd, vorwiegend auf Nebenschauplätzen operierend, keiner Kriegsverbrechen schuldig, allenfalls der Weitergabe von Feindlageberichten, allenfalls der Mitwisserschaft et cetera.
Meine Damen und Herren, das verstehen wir doch alle!

Es war einmal eine Gesellschaft aus Tätern und Opfern. Es war einmal die Maschinerie der Gewalt. Es bleiben Unaussprechlichkeit, Verschweigen und Verharmlosung, es bleibt die nachgestellte Ausrede der Pflichterfüllung. Es bleibt die Mitverantwortung des Landes auszusprechen und auszusprechen und wieder auszusprechen und mit der Sprache eine Geschichte und mit der Sprache aus der eigenen Geschichte (und darüber) hinauszudenken. Es bleibt Kurt Waldheim als Symbol und seine Geschichte, dieser Durchschnittsösterreicher seiner Generation, mit dem sich so viele Österreicher_innen identifizieren konnten, die – wie er – durch Anpassung und Vergessenwollen weitergelebt hatten. 4

Ist das jetzt der kleine große österreichische Minderwertigkeitskomplex, oder kann das weg?

Es war einmal endlose Geschichte von Gut und Böse. Es war einmal die Geschichte von Jörg Haider, die Schablone für jedes weitere FPÖ-Narrativ als endloser Kampf, natürlich für das Gute und gegen das Böse. Schon wieder 1986, denkt die Autorin, was alles in so ein Jahr hineinpasst, ohne dass es implodiert, Waldheims 53,9 Prozent-Wahlsieg im Juni, Jörg Haiders Übernahme der FPÖ-Führung im September und dazwischen, im April, auch noch das Reaktorunglück von Tschernobyl. Was alles in so ein Jahr hineinpasst, wundert sich die Autorin und denkt an sich selbst als Ausländerkind auf einem verlassenen Spielplatz und fragt sich, ob jetzt Haider an Waldheim groß geworden ist wie H.C. Strache an Haider und dabei sitzt die Autorin in Gedanken wieder am Spielplatz und spürt einen Wind aufkommen. Ist das jetzt der Rückenwind der politisch entfesselten Emotion oder geht das wieder weg? Und soll man 1986 jetzt Waldheim-Jahr, Haider-Jahr oder Tschernobyl-Jahr nennen?

Die Autorin sucht und findet ein YouTube-Video von 1988, nach der Burgtheaterpremiere von Thomas Bernhards Heldenplatz, Kameraschwenk auf eine Gruppe junger Männer in einer Loge, sie stehen mit erhobener rechter Faust, johlen, pfeifen, stoßen mit langen O-Mündern Buhrufe aus. Es sei „eine grobe Beleidigung des österreichischen Volkes“, sagt Waldheim kurz darauf über das Stück und der junge Mann mit dem ordentlichen Scheitel, ganz vorne in der Loge, die Faust erhoben, ist Heinz-Christian Strache. 5 Siehe: H.C. Strache geht ins Burgtheater.

Und die Autorin erinnert sich an sich selbst am Heldenplatz, im Jahr 2000, mitten im Lichtermeer 6und in ihrem inneren Auge reiht sich Waldheim an Haider und Haider ans Lichtermeer und Schwarzblau an Schwarzblautürkis, genau, nein, was heißt hier genau, eigentlich wollte die Autorin doch über die Innere Sicherheit schreiben.

Die Innere Sicherheit, das ist so eine Sache. Wir haben ja alle schrecklich unsagbar viel zu tun. Wir haben unsere Befindlichkeiten. Wir sind sensibel. Wir alle sind voller komplexer Identitäten Sehnsüchte Widerstände. Aber warum bin ich so zornig, denkt sich die Autorin. Dabei meditiere ich so viel, aber ich bin auch so sensibel und so beschäftigt, denkt sich die Autorin, ich hab Meinungsschwankungen, ich bin müde vom Falschverstandenwerden, von meinen Lebenslügen, von dem höchstpersönlichen vergangenheitspolitischen Narrativ, das dieses Land in mich hineingepflanzt hat, dabei bin ich in dieses Land einfach so hineingepflanzt worden und das Land in mich, hoppala! Und jetzt? Einfach groß SATIRE 7 drübergeschrieben bzw drüberschreiben, quer über Herz und Hirn, quer über das Land, quer über die Verkörperung dieses pathologischen österreichischen Opfermythos in Endlosschleife. SATIRE! Die Autorin sagt zur Autorin: Du schreibst jetzt zur Strafe sage und schreibe 50000 Mal: Was ist die Befindlichkeit des Landes? Was ist die Befindlichkeit des Landes? Was ist die Befindlichkeit des Landes? Was ist die Befindlichkeit des Landes? Was ist die Befindlichkeit des Landes? Was ist die Befindlichkeit des Landes? et cetera et cetera

Die Autorin telefoniert mit der anderen Autorin. Dass die Literatur nicht die Welt retten könne, sagt die Autorin der Autorin, dass sie in einer Blase lebe, dass das keinen interessiere, was sie da schreibe, dass das ja schon gar keiner verstehe, weil es zu verkopft sei, unverständlich, irrelevant. Also von ihren Bekannten lese das keine_r. Die Autorin sagt der Autorin, sie lässt da jetzt bissl Luft rein, durchs persönliche Gespräch. Aber leider habe sie im Augenblick keine Zeit für so ein Gespräch, daher muss sie auch gleich wieder auflegen. Und sagt noch schnell: Unsere Geschichte ist immer die Geschichte von Begleitumständen. Tüt tüt tüüüüt. Sorry not sorry, mir ist kaum zu helfen, denkt die Autorin.
Die vielversprechende Autorin ist zur Podiumsdiskussion geladen [Schon wieder, schon wieder eine_r die/der/das vielversprechendsten Autor_innen/Politiker_innen/Intellektuellen et cetera unserer Zeit. Rascher Thronfolger_innenwechsel gefolgt von ... schon wieder, schon wieder kein Happy End.] ist also zur Podiumsdiskussion geladen um mit der vielversprechenden Kulturpolitikerin über vielversprechende Kulturpolitik zu reden und die Kulturpolitikerin redet exakt dreiundzwanzig Minuten am Stück und schreit dann groß drüber SATIRE! FEIGHEIT VOR DEM FEIND, schreit ein ganzer Chor Leser_innen, ein ganzer verdammter Chor feuilletontreuer Spiegelbestsellerlistenkäufer_innen schreit SATIRE hallt zurück ins Herkunftsland in den sicheren Drittstaat SATIRE aber denkt im gleichen Moment: Moment! Welcher Feind, welches Feind_innennarrativ? Ohne Feindbild keine Manifestationen der Inneren Sicherheit. Ein Tumult bricht aus, feuilletontreue Spiegelbestsellerlistenkäufer_innen reißen die Autorin in kleine Stücke. [Konfettiregen]

Die Autorin liest, dass der Ausbruch von Gewalt oft ausgelöst werde durch biografisches Scheitern. Durch eine Innere Unsicherheit also. Oder durch das Erschüttern der Inneren Sicherheit. Die Projektion kollektiver rückwärtsgewandter Sehnsüchte, Ängste, Nostalgien. Also muss sie wohl selbst schuld sein, an der ganzen Gewaltgeschichte, sie hat sie ja herbeigeschrieben.

Die Autorin hat ein politisches Erweckungserlebnis. Und schläft im nächsten Augenblick wieder ein.

Die Autorin träumt, dass sie Jausenbrote für das schwarztürkisblaue Regierungsteam in Staniolpapier wickelt und wickelt und wickelt und dabei genau weiß, dass die eine ganz andere Jause bestellt haben, bestimmt keine linkslinken Vollkornbrote mit Schnittlauch, und überhaupt warum Staniol, das ist doch nicht nachhaltig, warum kein Butterbrotpapier! Und während sie wickelt und wickelt und sich ihrer Fehler, ihrer schrecklichen Fehler, ihrer schrecklichen Fehlbarkeit bewusst ist, ihrer mehr recht als schlecht an die Realität gebundenen Wunschvorstellungen, nähert sich plötzlich Waldheim, hoch zu Roß, stattlich und reicht ihr die Hand, weil das Regierungsteam hat eh keinen Hunger und auch keine Lust mehr die nahe Zukunft und schon gar nicht die Geschichte zu Ende zu denken, und Waldheim flüstert ihr ins Ohr, bevor sie gemeinsam davonreiten in eine frisch idealisierte Vergangenheit: Integration ist ein Schlüssel. Spracherwerb ist langfristiger Prozess. Strategie, Transparenz und Kontrolle! Transparenz und Objektivierung! Integration durch Leistung! Kampf gegen den Islam! Staatsbürgerschaftstest statt Matura!

Die Autorin wacht auf von einem PLING in ihrem Posteingang und findet dort folgenden Kommentar: Versuchen wir endlich, folgenden Idealzustand herzustellen: Die Regierung soll das Land regieren, Medien sollen berichten und kommentieren – und eine informierte Bevölkerung soll sich ihre Meinung bilden. 8
Die Autorin, über ihren Kaffee gebeugt, Druck in den Ohren, Rauschen im Hirn, denkt, sie hätte schon gern so eine Innere Sicherheit. Eine schöne neue Innere Sicherheit. Aber alles, was sie hat, sind Worte, Ideen, die kein Fleisch ansetzen, Ideen, die wuchern wie wildes Fleisch, wenn die Wunde schlecht verheilt ist.

Die Autorin kann warten. Sie erinnert sich. The Germans have a special word for this: VERGANGENHEITSBEWÄLTIGUNG, which is untranslateable, a topic which is very German. Die Zeit ist nicht unser Feind, schreibt die Autorin. Streicht es wieder durch. Unterstreicht es. Schreib alles auf, sagt die Autorin zu sich selbst. Schreib alles auf.


  1. ecfr-Podcast, Mark Leonard's World in 30 Minutes, The undead past, 01.02.2018 

  2. Waldheim-Wahlplakate-Slogan 1986 JETZT ERST RECHT! 

  3. Barbara Tóth, Die „Jetzt erst recht“ Wahlbewegung, in: 1986. Das Jahr, das Europa veränderte, Czernin Verlag, 2006 

  4. Anton Pelinka, Trendwende und Polarisierung, in: 1986. Das Jahr, das Europa veränderte, Czernin Verlag, 2006 

  5. Videoausschnitt von 1988, [ab Minute 01:00] H.C. Strache geht ins Burgtheater. 

  6. Lichtermeer im Jahr 2000. 

  7. Wenn eine_r SATIRE drunterschreit oder drüberschreibt, ganz egal wohin, dann ist das auch drin, die SATIRE, versteht sich. Oder? Wenn also der H.C. Strache Lügenpresse ORF=Lügenpresse=ORF skandiert schreibt: „Es gibt einen Ort, an dem Lügen zu Nachrichten werden“, mit einem urlustigen Bild dazu von Armin Wolf und Pinocchio, weil ja Faschingsdienstag ist, also saisonal exkulpiert, und dann halt (etwas leiser) SATIRE drüberschreit, versteht sich das von selbst, oder? Wenn also der H.C. Strache „Kosovo gehört zu Serbien“ schreit oder schreibt, weil er halt ein kräftiges Sprechorgan und eine deftige Meinung hat, aber kein Blatt zum vor-den-Mund-halten, und dann SATIRE drunterschreit oder schreibt, dann kann man das doch umöglich falsch verstehen, eh schon wissen, wir verstehen uns, alles klar?  

  8. Kurier-Subheadline, 15.02.2015, Regieren statt agitieren – Ein Kommentar 


Sandra Gugić — geboren 1976 in Wien. Studium an der Universität für Angewandte Kunst Wien und am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Veröffentlichungen (Prosa, Lyrik, Essays) in Zeitschriften und Anthologien, Arbeiten für Theater und Film. 2016 erhielt sie den Reinhard-Priessnitz-Preis für ihren ersten Roman Astronauten (C.H.Beck, 2015). Im Frühjahr 2019 erscheint ihr Lyrikdebüt Protokolle der Gegenwart im Verlagshaus Berlin.

→ http://sandragugic.com/