12. Oktober 2016 — Queeres

Man möchte die Bresche schließen, da wo man sich gerade befindet. Vergeblich …— Claude Lefort

Neulich in der Verfüg-Bar: Nach einzweidrei Shots waren mein Trink- und Bettfreund Hayati Terzi und ich so voller Gefühle, wie wir es selten sind, wie gerade Hayati Terzi es niemals ist, und wir erzählten uns, welche Desaster in unseren Lieblingspolitbewegungen und Liebesbegegnungen mal wieder passiert sind und passieren, uns passieren, um uns im Passieren zu verwischen. Und als wir beide weinten, weil meine Herzbruchstories nicht nur mir, sondern auch allen um mich herum regelmäßig das Herz brechen, zog Hayati Terzi sein Phone heraus, rief eine Mail auf und toppte alles. Diese Mail, geschrieben von Terzi himself, berichtete von einer anderen Liebesbegegnung, vermeintlichen Liebesbegegnung, einer Begegnung zwischen Terzi und dem VOLLK, und sie ging ungefähr so:

Lieber Lenny Scheinbaum, du hast den Charme eines 90er-Jahre-Möchtegern-Indie-Models, und mit diesem Charme zieltest du auf mich, ja, du schoßt, du schoßt auf mich zu, einen Streifschuß wolltest du schaffen, mindestens. Am Rande standest du, du allein, aber nie allein, du und die gesamte Nation, die du in deinem Rücken spürtest. Und von dort aus zieltest du. Am Rande dieser Diskussion, Exodus-Diskussion, dieser Exkurs-Exkursion über die Lage von Geflüchteten aus den Maghrebstaaten, die sich als lesbisch, schwul oder Transgender verstehen. Am Rande eines Gesprächs, das diese Menschen zum Sprechen bringen wollte, ihnen eine Bühne sein wollte, stürmtest du mit den deinen im Rücken die Bühne. Nicht physisch, nicht so, wie es andere derzeit tun und weiter tun und tun werden. Du standest am Rand, wartend auf den richtigen Moment. Und ich, ja, was soll ich sagen, ich war die perfekte Zielscheibe für dich, sofort. Du da, du mit deinem akkuraten Undercut, dem geblümten Hemd, mit dem nicht zu kurzen und nicht zu langen Bart, blond, mit dem goldenen Brillengestell, mit dem Intellekt, der dir in die Stirn eingeschrieben war, dank der Falten. Und mein Bauch so: Hello, hipster boyfriend material! Und ich fühlte, als hätte mich etwas passiert und mir im Passieren einen mitgegeben. Doch du, du hattest gerade mal gezielt. Und DANN schoßt du, und dieses Schießen war ein Stürmen der Bühne, aber welcher? Ich muß nicht wiederholen, was du sagtest, das weißt du, und noch, als du die Hand hobst um einen Redebeitrag anzumelden, war ich davon gefangen und konnte nicht weg. Ich muß dir nicht wiederholen, was du wiederholtest, diese Rede davon, wie sehr gerade die Menschen, die dort vorn säßen, gerade die, die aus ihren Ländern weggegangen seien, um dem Gefängnis oder der Todesstrafe zu entgehen, ein Fanal für UNNS sein müßten, ein Fanal, zu schützen, was WIRR erreicht hätten, damals, in der Schwulenbewegung. Und ich schaute dich an, und ich wußte und du wußtest, weder du und ich hatten in dieser Bewegung irgendetwas erreicht, erreichen müssen, auch wenn ich und du ihr alles zu verdanken hatten. Nun sei es an der Zeit, sagtest du, und vor meinen Augen verwischten die Farben, so daß ich nicht mehr sah, ob deine Lippen sich eigentlich bewegten, oder was passierte, ob es überhaupt deine Stimme war, die da passierte, oder ob sie aus einem Lautsprecher irgendwo an dir kam und gar nicht deine war, doch diese Stimme sagte, es sei an der Zeit, daß WIRR uns wieder wehrten, und zwar gegen diese Religion, die–. Is ja egal. Nein, es ist nicht egal, was du sagtest. Es ist nicht egal, daß du, Lenny Scheinbaum, daß du das sagtest.

Und es ist auch nicht egal, wie du aussahst, als du es sagtest.

Im Jahr 1957 veröffentlicht Norman Mailer einen Essay, der in die Geschichte der noch jungen Subkultur-Geschichtsschreibung eingehen wird. Er heißt The White Negro: Superficial Reflections on the Hipster. Darin beschreibt Mailer, wie eine kleine Gruppe junger, weißer Amerikaner*innen sich zwischen 1920 und 1950 die African Americans zum Vorbild nahmen, sich am Look, der Musik, dem Charme, der Sprache der afroamerikanischen Kultur orientierten, um abseits der toxisch-weiß-männlichen Gebärden oder eingeschnürt-weiß-weiblichen Gesten etwas zu finden. Darin schreibt Mailer unter anderem, daß unkonventionelles Handeln eigentlich immer unverhältnismäßig viel Courage benötigt. Und er folgert, es sei also kein Zufall, daß die Afroamerikaner die Quelle des neuen HIP geworden seien, immerhin hätten sie seit zwei Jahrhunderten auf der Grenze verbracht, der Grenze zwischen Totalitarismus und Demokratie. Was geschieht hier, wenn Mailer den weißen Hipster à la Ginsberg vom schwarzen Hipster à la Gillespie ableitet? Wenn er behauptet, die African Americans seien in ihrer Sexualität freier als die repressive und repremierte weiße Gesellschaft, und die weißen Hipster hätten sich das eben abgeschaut? Wenn er schreibt, früher habe man die afroamerikanische Kultur in Minstrelshows nachgeahmt und lächerlich gemacht, jetzt ahme genau diese Kultur die Hipness vor? Und was geschieht dann mit der African American-Subkultur, mit dieser Lebensweise, wenn sie durch Weiße übernommen wird? Vom Blackfacing zum Whitewashing, oder was? Oder geschah das erst später, erst fünfzig, sechzig Jahre später, als der Hipster das 21. Jahrhundert betrat und auf einmal Teil der Lookbooks wurde? Und was ist in seiner Evolution die aktuelle Stufe, Google Translate übersetzt: the actual stage?

Darüber dachte ich nach, lieber Lenny Scheinbaum, als du Geschoß auf mich zurastest, du und deine Rede, als ihr zusammen auf mich zukamt. Es war schon zu spät. Was genau mich nun eigentlich traf, in welchem Winkel und mit welchem Grad an Heftigkeit, muß ich hier gar nicht protokollieren. Meine Verwirrung in den Sekunden, in denen ihr auf mich zukamt, die ist wichtiger. Denn ich brachte deine äußere Erscheinung und die innere nicht zusammen, doch waren sie nicht mehr auseinanderzuhalten, auf der Grenze zwischen Totalitarismus und Demokratie, MOMENT! Wieso konntest du so auf mich zurasen, um mich niederzumähen, und dabei aussehen, als müßte ich mich in dich verknallen? Du stürmtest die Bühne, die Bühne einer Subkultur, die mal das Gegenteil von dem wollte, was du willst, doch DASS sie das Gegenteil wollte, kann niemand mehr sehen, so sehr hast du es mit ein paar Sätzen verwischt, im Handumdrehen. Du brauchtest die Bühne des Hipsters nur passieren, um sie zu stürmen, ein Stürmen, als Verwischen. Du mit deiner prachtvollen, zum Verlieben harmlosen Erscheinung. Der Hang zu grandiosen dekorativen Effekten. Der Hang zu dubiosen dekorativen Affekten. Dekoration:

Du und die deinen, ihr lungert an den Bühnenrändern der Nation rum, um sie zu verschönern, verschonen, verschieben.

Das Whitewashing des Hipsters: check. Das Rightwashing des Hipsters: double check. Rechtsruck, Rechtszuck, Zickzack. Selbst der H-H-Hipster vollzieht diesen Rechtstrend nach und kann nicht anders, er will wie immer dem Trend hinterher. Neulich, in der Verfüg-Bar: the hipster. Er ist nicht mehr Nische, auch er ist Teil des Ganzen, des Ganzen, das ganz und gar in sich selbst aufgeht, das so voll ist, das VOLLK. Du, Lenny Scheinbaum, du hast mir meine Bilder genommen und zum Verschwimmen gezwungen, die einzigen Bilder, in denen ich mich wohlfühlen konnte, zwanzig Jahre lang. Es kann doch nicht sein, daß der Neoliberalismus das schönste, was wir hatten – auch wenn es so wenig war – ruiniert hat, nur damit nun diejenigen diese Ruinen bewohnen, denen ich, gerade weil ich so war, wie ich war, keinen Fußbreit gönnte, keinen Fußbreit Ruine, und nun steht IHRR da und seht aus wie ich und gönnt mir keinen Fußbreit mehr und sagt: This is private property, be prepared to get shot. Und dann geht der Mund wieder auf und spricht nicht, es spricht ein Lautsprecher irgendwo anders, der spricht, damit andere zuhören und nicht mehr denken, nie mehr denken. Und die Sprache? Was darf sie noch? NICHTS! Ihr betäubt das Denken und schießt es ab, laßt das Denken an der Sprache vorbeirasen und schleift die ein paar Meter mit, bis ihr sie nicht mehr braucht. Und dann liegt die Sprache da, mit aufgeschürfter Haut, und sie schaut mich an, weil ich ihr helfen will, als wollte sie sagen: Wartet nur ab.

Das, Lenny Scheinbaum, wollte ich noch mal gesagt haben. Aber wenn ich es sage, sagst du: Das hast du schon gesagt, und WIRR müssen sagen, was NIEEEMAND sagt, und was NIEEEMAND sagt, also was WIRR sagen, sagt das VOLLK. Und dann, dann in diesem Moment wurde ich getroffen. Ich dachte immer, ich hätte gar kein Herz, bevor es zerrissen ward, mein sozialromantisches Herz. ALLES, WORAN ICH GLAUBTE, WAR ZERSTÖRT! ZERSCHLAGEN! ZERSCHNITTEN! AUSGESCHNITTEN UND AUSGELEERT! AUSGEHÖHLT! AUFGEHELLT! UND DANN ABGEDUNKELT, BIS IN DIE TIEFSTEN DUNKELHEITEN DER TAUSEND JAHRE HINEIN! Und ich konnte nicht anders, ich wollte, aber ich konnte nicht, konnte nie, kann nie mehr anders, ich muß und muß und muß die ganze Zeit denken:

liga-820x820-q92


Jörg Albrecht — geboren 1981 in Bonn, aufgewachsen in Dortmund, lebt in Berlin. Er schreibt Prosa, Essays, Hörspiele sowie Texte für Theater und Performance. Seit 2018 baut er als Gründungsdirektor das Center for Literature auf Burg Hülshoff bei Münster auf. Jörg Albrecht ist Mitglied des PEN-Zentrums Deutschland.

→ http://fotofixautomat.de