17. Mai 2017 — Demokratisierung

Ach, Erinnern ist ja auch so eine Tugend. Schreibt sich die Erzählung in mich ein oder schreib ich die Erzählung? Egal. Einmal einen Raum betreten, der sich nicht in mich einschreibt, weil ich mich anders drin bewege, als er vorschreibt, als man mir vorschreibt, ja, das wäre schön. Einmal aus diesem Raum heraustreten, der immer du bist. Die schönste Tugend: Sich so erinnern, dass man immer an derselben Stelle beginnt, dass man immer dieselbe Geschichte beginnt. Und was da früher einmal war, wer ich früher einmal war? Keine Ahnung. Aber dieses Früher ist ja auch so eine Tugend, die mit dem Erinnern ziemlich viel gemeinsam hat. Ich erinnere mich an die Dinge immer so, auf meine Weise, damit ich nicht aus diesem Raum heraus muss, damit ich nicht aus diesem Raum heraus kann, in dem unsere Geschichte Platz findet, in dem nur unsere Geschichte Platz findet. Wenn man die Weltgrenzen so eng gezogen hat, dass sonst nicht so viel Platz hat, außer du und ich, ja, das ist schon was Schönes. Wenn man die Weltgrenzen so eng gezogen hat, dass man einander nicht aufgeben muss, nein, dass man sich nicht aufgeben muss, weil man einander nicht aufgeben kann, weil da immer noch ein Du ist. Ja so ein Du, das Gemeinschaft suggeriert, das ist schon was Schönes. Da kann einbrechen, wer will. Da kann eindringen, wer will. Nein, das war gelogen. Weil hier ohnehin ja niemand eindringt. Weil hier kein andrer reinkommt. Kein andres Gefühl? Nein, das nicht. Und kein andres Land? Nein, das nicht. Und kein andrer Mensch? Nein, der bestimmt nicht. Oder nur mit Maß und Ziel, wobei das Maß natürlich leider längst voll ist. Da kann man nichts machen. Aber wo ein Du mit einem Ich ist, kann man sich schließlich auch gut alles selber machen. Oder füreinander? Nein, das nicht. Aber man kann sichs selber machen und dem andren dabei zusehn. Ohne Maß und Ziel, weil das Maß ja natürlich nie voll ist. Ein ständiges zielloses Eindringen. Mit dem Geilomobil wird haltlos gecruist. Was es nicht gibt, was es zwischen uns nicht gibt, das ist auch so einiges. Zum Beispiel gute Momente? Die auch nicht. Zum Beispiel An- und Aufstände? Die auch nicht. Zum Beispiel eine Politik des Miteinanders? Nein, das bestimmt nicht. Aber eine sogenannte Politik des Miteinanders. Reicht ja auch irgendwie, wenn man irgendwie weiß, dass man zusammengehört. Weil man zusammengehört, weil einen sonst eh keine*r nehmen würde. Aber ist das jetzt endlich die Liebe, für deren Ankunft ich mich hier verschanzt hab mit dem sogenannten Miteinander und dem Kollektivwir? Ich dachte ja für eine Weile, dass das wirklich eine wäre, so eine Liebe, so eine echte, schöne, so eine richtig richtige Liebe, die einen ordentlich umhaut. Aber leider ist ja nicht alles, was einen umhaut, so ein großes gutes weltumspannendes Gefühl. Leider ist ja nicht alles, was ein großes weltbegrenzendes Gefühl ist, automatisch auch so eine Liebe. Leider ist das wenns ordentlich wummst und einen umschmeißt ja leider meistens keine Liebe. Wenns die andren umschmeißt, ist das leider meistens keine Liebe, auch wenn das sogenannte Miteinander danach aussieht. Der kleine feine Unterschied zwischen dem einen Wumms und dem andren. Zwischen uns und den andren. Zwischen dem sogenannten Wir und den andren. Da kann man nichts machen.

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Autorin, geiles Mobil, Zahn der Zeit. — Autorin

Geschichte wiederholt sich, Geschichten wiederholen sich, schreibt sich die Erzählung, die immer dieselbe ist, denn in mich ein oder darf ich zur Abwechslung jetzt auch mal selbst erzählen? Was ist er denn, der Raum, dieser Urraum, in dem die Erinnerungen zusammenlaufen könnten, die ich über die vielen Lebensjahre angehäuft und postwendend vergessen hab, damit ich sie mir hernach ansehn kann und endlich schlau draus werden? Grübel Grübel. Keine Ahnung. Der Urraum als innerste Innerlichkeit, als größte Eigentlichkeit, als verhüllt verletzlicher Maximalkern. Meine Innerlichkeit ist ein schwitzender Skistadl, ein ApresSkiStadl, schließlich komme ich immer zu spät, hier kommen auch alle zu spät, aber das gehört dazu, das Zuspätkommen zum Leben, weil das richtige Leben hier erst im Zuspätkommen stattfindet. Da laufen sie ein, die Erinnerungen, in ihren schönsten Moonboots, in ihren schärfsten Pistenoutfits, mit ihren silberglänzendsten Turboskischuhen, die auf dem urrustikalen Hüttenboden hin- und herrutschen. Dieser mein Innerlichkeitsstadl: gegründet 1983, protestiert und abgerissen 2000, aber postwendend wieder aufgebaut, dann wurde abgebrannt, dann wieder aufgebaut, dann 2006 saniert, dann modernisiert, Eröffnungsfeier anno 2008, dann leider auch bald wieder abgebrannt, dann Brachland, im letzten Jahr dann wieder aufgebaut im Look des Gründungsjahres, 1983 oder 1938?, egal, back to the roots, sicher ist sicher. Da rutschen sie hin und her, schieben sich aneinander, reiben sich aneinander, schieben sich gegenseitig die Schianzüge bis zum Bauchnabel, tanzen zum eingängigen BummBummHerzschlag, die Augen funkeln wie tausend Sterne, die alle einen Namen tragen, he who shall not be named, wie tausend vom Himmel gefallene Sonnen, Namen, die allerdings die Anwesenden postwendend vergessen haben, um sie nicht unabsichtlich durcheinanderzubringen wie die Jahreszahlen, wie die sogenannten Jahreszahlen. sicher ist sicher. Die Stimmung läuft, die Geschichte läuft, Alkohol läuft, Tanzbein läuft, Konversation läuft, Annäherung läuft, Anmaßung läuft, Aufdrängen läuft und über den anderen Herfallen läuft auch, das läuft auf allen Schau- und Standplätzen, auf der Tanzfläche, an der Bar, auf den Toiletten und im Halbdunkel zwischen Eingangsbereich auf der einen und Talstation Vierersessellift auf der anderen Seite, das läuft auf dem leeren Parkplatz davor, das läuft in- und übereinander, das läuft aufeinander auf, das schlägt aufeinander auf, das schlägt aufeinander ein, wenn sich einer wehrt. Wenn sich eine wehrt. Wieviel Aufprall verträgst du? Das Aufschlagen der Körper auf eisiger Piste, das Aufschlagen der Köpfe an heimeligen Hüttenböden, das Aufschlagen und Zerspringen der Schnapsgläslein zwischen skibeschuhten schwitzenden trampelnden Beinen, das Zerspringen fester Vorsätze, feste Fausthiebe, hier spielt die Musik und hier spielt sich so einiges ab, das Aufschlagen der Hände auf freigelegten Hinteransichten, auf verpackten Innenansichten, das Nachdraußenzerren, das Gruppieren und Umschließen, das Versammeln und Ausschließen, das Aus- und Verstoßen, das Abschließen und Abwehren: Jetzt wird ordentlich zugepackt. Hier legen sie ihre Verkleidung ab, hier legen Sie ihre Verkleidung ab! Täter, die sich als Opfer verkleiden, Opfer, die sich als Opfer entkleiden, hier legen Sie Ihre Verkleidung ab!, Opfer, die als Täter verkleidet werden, sicher ist sicher. Wie viel Heimat verträgst du? Einmal aus diesem Raum heraustreten, der immer du bist, liebes dummes rotweißrotes Heimatland, mit deinem Kaisernarzissmus, mit deinen Schnörkeln und Skifahrern, mit deinen Gesinnungsproblemen und deiner Hüttengaudi, Geschichte wiederholt sich, Geschichten wiederholen sich, aber darf ich zur Abwechslung jetzt auch mal selbst erzählen? Nein, bestimmt nicht. Meine Innerlichkeit ist ja, wie die der ganzen andren auch, die hier nicht herauskommen, ein schwitzender ApresSkiStadl, schließlich komme ich immer zu spät, wie hier alle zu spät kommen, immer zu spät zum alles auslöschenden Aufprall, zum Aufschlagen mit ganzem Gesicht und ganzem Körper, zum Zerspringen, zum Verschwinden, damit was Neues beginnt.

Und ich dachte wirklich, dass das eine Liebe wäre. Ja, wenn das eine echte Liebe wäre, ach, das wäre schön.


Gerhild Steinbuch — geboren 1983 in Mödling (Österreich), lebt in Berlin. Studium Szenisches Schreiben in Graz und Dramaturgie an der HfS Ernst Busch, Berlin. Arbeitet sowohl allein an Essays, Prosa und Theatertexten als auch im Kollektiv Freundliche Mitte, sowie als freie Dramaturgin.