ES WAR EINMAL der Beginn der Nullerjahre. Es war einmal eine Stimmung zwischen Aufbruch, Zukunftsgläubigkeit und Weltuntergangsfantasie. Wir erinnern uns an die Panik vor dem Y2K-Bug, die Angst vor dem Versagen der internen Echtzeituhren, vor weltweiten Computerzusammenbrüchen und ungeheuren Datenverlusten und wir erinnern uns daran, dass letztlich im Großen und Ganzen nichts weiter passiert ist. Wir erinnern uns, dass Vladimir Putin zu Beginn des Jahres Präsident wurde. Wir erinnern uns, dass Ende des Jahres George W. Bush auf Bill Clinton folgte. Die erste Staffel Big Brother wurde ausgestrahlt. Dänemark gewann den Eurovision Song Contest. „National befreite Zone“ wurde zum Unwort des Jahres 2000 gekürt, das als Selbstbezeichnung eine Strategie des deutschen Rechtsextremismus bezeichnet. Medien und Wissenschaft sprachen in diesem Zusammenhang von rechten No-Go-Areas oder sogenannten Angstzonen.
Es war einmal, im Jahr 2000, die Angelobung der ersten schwarz-blauen Regierung in Österreich. Wir waren auf den Straßen, von diesem Tag an jeden Donnerstag. Wir erinnern uns an die erste Donnerstagsdemo, wir sind den Getreidemarkt runter, wir erinnern uns an Wohnungen am Getreidemarkt, die Fenster weit offen, aus denen ältere Menschen – unsere Groß- und Urgroßelterngeneration – Rosen in die Menge der Demonstranten warfen. Wir erinnern uns an den Zorn und die Hoffnung in den Gesichtern dieser Menschen und in den Gesichtern der Demonstranten. Und ja, wir sind jetzt gerade etwas emotional. Wir wollen die Emotionen nicht den Populisten überlassen, ebenso wenig wie wir ihnen irgendetwas anderes überlassen wollen. (Sebastian Kurz muss damals übrigens ungefähr vierzehn Jahre alt gewesen sein. Und ja, wir denken, das tut etwas zur Sache.) Wir wissen, dass damals, trotz des Widerstands gegen die schwarz-blaue Koalition weder alles gut noch alles einfach war. Wir erinnern uns mit Schrecken an diese schwarz-blaue Legislaturperiode, in der im Großen und Ganzen sehr viel schiefgelaufen ist, was uns nachhaltig beschäftigt: sprich Meischberger sprich BUWOG sprich Grasser; sprich Hypo-Alpe-Adria-Finanzskandal; siehe Rhetorikhighlights wie Daham-statt-Islam; siehe FPÖ-Sachen-zum-Lachen sprich eine Karikatur in der FPÖ-Postille „Zur Zeit“ mit dem Titel „Kristallnacht 2014“, in diesem Sinne: Eine Runde Eiernockerl mit grünem Salat für alle! 1
Und jetzt? Wir haben alles medial verfolgt, wir fühlen uns medial verfolgt, bis in den letzten Winkel unserer Accounts, während die Wahrheiten sich wieder und wieder abgewechselt haben, immer schöner und nationalgefärbter wurden, bis hin zum patriotischen Coming-out Österreichs.2 Wir haben nicht damit gerechnet, aber gehofft, dass zumindest diese Geschichte sich nicht wiederholt. Verstehen bedeutet bekanntlich, „Jetzt weiß ich weiter“ sagen zu können. 3
Und jetzt? Wie lang werden diese schönen neuen Wahrheiten halten?
Was versprochen sein wird: Ein neuer Stil, das Aufbrechen von Strukturen, eine klare proeuropäische Ausrichtung, ein guter Plan B 4 et cetera. Heute, zwischen Prognose und Friktionsfreiheit, bleibt uns definitiv der Schmäh weg. Wir beobachten das allgemeine Balancieren auf Schlagwörtern, dem schmalen Grat zwischen Andersmacher und Angstmacher. Die Farben, Begriffe und Begrifflichkeiten scheinen frei wählbar, die Geschichte dessen, was sich angeblich nie ereignet hat, darf in Vergessenheit geraten. Während alle Parteien sich neuerdings in der Mitte verorten, und in Wahrheit vor allem ausreichend Stimmen generieren wollen, um an der Macht bleiben zu können, driftet der gesellschaftliche Diskurs konstant weiter nach rechts, werden Alltagsrassismus und Ausländerangst salonfähig, haben die Hetzer sich längst mit den konservativen Eliten verbündet. Menschenverachtung und herrschaftsgläubige Erwartungen stehen in einer Unschuld vor uns, als habe sich nie jemand ernsthaft mit ihnen auseinandergesetzt. (…) 5
Mögen die Spiele, nein, natürlich: die Gespräche zügig beginnen, schnell und rasch, möge auf Augenhöhe verhandelt werden, möge man uns schwarz für türkis und blau für regierungskompetent verkaufen, möge die Betonung auf neue liegen, nicht auf XYZpartei, möge es ministrable Persönlichkeiten und friktionsfreie Zeiten geben, mögen entsprechende Punkte konkret ausverhandelt werden. Allerdings: Wir haben noch nie an die Erfüllung von Stoßgebeten geglaubt.
Was wird sein, wenn wir alle Dystopien und Ängste hinreichend umarmt haben, alle Slim-fit-Anzüge durchgeschwitzt sind, alle Neopolitheld_innen und Neofeschist_innen 6 sich verbraucht haben, was wird sein, wenn wir alle Schöne Neue Welt-Szenarien eines Gated-Community-Europa durchgespielt haben, wenn wir hinter die Kulissen der Instagram-Accounts 7 geblickt haben, wenn der Tausch der Agenden vollzogen ist, und alle großen Versprechen den Raum, das Gebäude, ja, sogar das Land, den Kontinent verlassen haben? Werden wir sagen: Es war einmal? Können wir aussprechen uns selbst versprechen: Es kann und wird und muss wieder anders werden. Erheben wir Einspruch, erheben wir den Anspruch, das Wort zu führen, den Widerstand klar zu formulieren. Nehmen wir uns zum Ziel, die Angst verschwinden zu lassen, den demokratischen Diskurs wieder inhaltlich und sachlich zu führen. Wir sind viele und wir haben nichts vergessen.