28. November 2018 — Migration

Der Wecker klingelt um sechs. Es ist schlecht für mich, es ist schädlich für meinen Körper, es bringt meinen Körper durcheinander, wenn ich zu früh aufstehe; wenn ich zu früh aufstehe, schlaflos aufstehe, bin ich am Abend so müde, dass ich nicht einschlafen kann. Bin ich zu müde zum Schlafen, schlafe ich erst am frühen Morgen ein und komme am nächsten Tag erst gegen Mittag wieder aus dem Bett. Dann ist mein Arbeitsrythmus dahin.

Die Gedanken strömen, schlängeln sich durch kleine Blutgefäße, entladen sich in elektrische Signale, die mir etwas mitteilen, ihre Unzufriedenheit über das Aufstehen mit mir teilen. Ich versuche mich dennoch dazu zu zwingen, aufzustehen, das Aufstehen zu erzwingen. Ich stehe trotzdem auf, trotze dem Gefühl nicht stehen zu können, halte dem Gefühl stand, stehe auf obwohl mir schwindelig ist, mein Sehvermögen verschwimmt und ich meinen Körper im Raum herumschwingen sehe, an seiner Fähigkeit aufrecht zu stehen, zweifelnd.

Ich muss heute Morgen zur Fremdenpolizei. Ich muss meine Aufenthaltsbewilligung erneuern lassen. Es ist eine Verpflichtung, keine moralische wie bei Kant; eine rechtliche, eine kategorische, eine unumgängliche. Die Verpflichtung den Aufenthalt in diesem Land bewilligt zu bekommen zwingt meinen Körper sich zu bestimmten Öffnungszeiten an bestimmte Orte und in bestimmte Zustände zu begeben, erzwingt den Gang durch die Behörden und den Marsch durch die Institutionen, ignoriert meinen Kreislauf und bringt meine Schwerkraft aus dem Gleichgewicht.

Der Wille eines außenstehenden einheimischen von der Fremdenpolizei, also der Wille von einem der hier heimisch ist aber im Verhältnis zu mir außen steht, sich außerhalb meines Körpers befindet, ein Fremdkörper also, muss mein Recht auf einen aufrechten Halt in diesem Land absegnen, abstempeln und unterschreiben. Ich wasche mein Gesicht und putze meine Zähne und versuche, diese scheinbar logische Gedankenfolge in meinem Kopf abzuspulen. Der Wille des außenstehenden einheimischen Fremdkörpers von der Fremdenpolizei ist entscheidend, seine Entscheidung ist einschneidend, mein eigener Wille ist ein Wille ohne Stempel, ein begrenzter Wille, ein beschnittener Wille, ich wiederhole mehrmals, und verstehe weniger und weniger.

Mein Wille ist ein Wille ohne rechtliche Grundlage, sein Wille ist kategorisch, mein Wille ist kontingent, es mangelt ihm an Realitätsbewusstsein. Ich repetiere weiter vor mich hin, mein Mantra hat jetzt einen Rhythmus und einen Flow, es wird immer einleuchtender: Er hat die Willenslust, ich habe das Wunschdenken, ein Wünschen ohne Denken an die Wirklichkeit der kontingenten Realität der Statistiken und Kontingenten-Quoten; ein solcher Wille muss von den Behörden bewilligt werden, um als Wille ein bis fünf Jahre Gültigkeit zu erlangen, erkläre ich mir mit einer wachsenden Sorge für die Logik der herangezogenen Erklärmuster.

Ich ziehe meine Unterwäsche und meine Oberwäsche über meinen Körper, denke nicht darüber nach, wie ich mich anziehe, dafür stellen meine Gehirnzellen heute nicht schnell genug Verbindungen her, lassen die Mitteilungen nur im begrenzten Tempo vorwärts fließen, das Teilen ein Mittel dessen Zweck an diesem Morgen nicht erfüllt wird. Ich gehe aus der Wohnung und in das Treppenhaus und auf die Strasse. Ich laufe am Kanal, der diese mittelgroße Kleinstadt in zwei spaltet, entlang. Das Wasser scheint ausgetrocknet zu sein, der Kanal verebbt, nur schleichend fließt das Wasser vorwärts, stockender Verkehr. Ich mache eine Kurve nach rechts, biege in eine Seitenstraße ein; alles schläft noch, erweckt sich langsam zum Leben, sickert spärlich.

Es ist sieben. Das Gebäude der Fremdenpolizei kreidefarben, irgendwie pastell, ein sandiges gelb; die Farbe bleich, abgewaschen, aber nicht zu sehr, wir sind hier in der Schweiz, hier ist nichts zu abgewetzt, es ist genug Geld da, damit nichts zu abgewetzt wirkt; außer vielleicht die Fremden, die zur Polizei müssen. Und tatsächlich warten hier schon einige, nicht zu viele, eine Handvoll vielleicht, eine grosse Hand, aber kein ganzer Arm, der sich biegen ließe, ein- und ausknicken am Ellbogen, wie eine Flussmündung. Es ist ein kleiner, ein loser Haufen Menschen die vor dem sandfarbenen Gebäude stehen und nicht miteinander reden, ein Klumpen loser Menschen, die warten um in das Gebäude hineinzukommen, um in dem Land Papiere zu bekommen.

Ich setze mich. Es kommen immer mehr Menschen. Die Zeitungen sprechen von einem Fluss, doch es ist ein Bächlein, ein langsam vorwärts rinnendes Bächlein; ein Bächlein Menschen die in Zügen und in Bussen, in Autos und in Lastwägen und in Flugzeugen in das Land hineingekommen sind, die Grenze überschritten, überfahren, den Boden betreten haben. Auf den Bildern zeigt man sie in Booten sitzend, doch ein Boot reicht nicht aus, um in das Land hineinzukommen; man muss über die Berge, es heißt die Berge zu überwinden, das Boot würde an den Bergen zerbrechen, zerschellen, deswegen wurden Eisenbahnen gebaut, Eisenbahnen und Eisenwägen, Bergstraßen und Landstraßen, Einbahnstraßen und Mehrbahnstraßen und Gleise und ICEs und Restaurant-Abteile, in denen die Menschen aus dem Ausland sitzen und Kaffee trinken während sie in das Inland hineinfahren, und abschließbare WCs in denen sie ihre Erinnerungen an das einheimische Land im Ausland erbrechen, während sie über das Inland hereinbrechen.

In den Händen halte ich einen Antrag. Ich muss diesen Antrag ausfüllen, um meinen Aufenthalt bewilligt zu bekommen. Ich muss angeben was ich mache in meinem Leben, mit wem ich lebe, wieviel Geld wir haben, für unser Leben. Ich muss Kreuze machen und Galgen, Kreuze und Galgen, ich denke an die Menschen die man an Kreuze nagelt und an die Menschen, die man an Galgen hängt, ich frage mich was mir lieber wäre, ich würde lieber aufgehängt werden, aufgehängt und ausgehändigt, ans Kreuz nagelt man zuerst die Hände, dann hat es sich schon ausgespielt, bevor der Kreislauf aussetzt. Ehe andere Körperteile außer Stand gesetzt werden möchte ich, dass mein Herz aufhört zu schlagen, die Blutzirkulation unterbrochen wird; die Hände nicht mehr zugänglich aber der Schmerz noch empfänglich, das möchte ich nicht, ich möchte keinen Schmerz in meinem Körper empfangen, ich hüte mich vor fremden Schmerz, benutze Empfängnisverhütung, vielleicht geht es mir damit so wie auch all den anderen Menschen aus dem Inland, die bei sich im Land keinen Schmerz mehr aufnehmen können, weil das eigene Schmerzempfinden schon die eigenen Grenzen überschwemmt, überflutet; für die Menschen aus dem Land gibt es kein Inland und kein Ausland, es gibt nur das Land; mit meinem Körper geht es mir ähnlich, mein Kopf ist schwer und es fehlt ihm an Kraft; ich kenne nur meinen Schmerz, meine eigenen Schlafmängel und meine eigenen Kreislaufprobleme, und die sind mir alles was es gibt.

Der Antrag möchte unterschrieben werden, mit meinem Namen soll ich die Kreuze und Galgen beglaubigen, sie als meine Eigenen zu erkennen geben. Unten auf dem Antrag steht „Unterschrift des Ausländers“. Zum Antragssteller schafft man es erst, nachdem man von einem fremden Willen in das Land bewilligt wurde. Trotz Klopfen bleibt man vorne an der Tür, außen vor, selbst wenn man in das Innere eindringt, Haut, Haare, Körperteile und Gewohnheiten hinein verlagert, es mit Möbel, Kleidung und Kinderspielzeug belagert, die Öffnungszeiten der Kinderkrippe, der Müllabfuhr und die einheimischen Gedichte auswendig lernt, in der Fremdsprache schreibt und die anderen Ausländer, die sich in der Schlange zur Fremdenpolizei vordrängeln möchten, zurecht weist.

Inzwischen ist es elf. Ich muss arbeiten, bin spät dran. Ich unterschreibe, drücke den Antrag der Fremdenpolizistin in die Hand und würdige alle anderen, die hinter mir in der Schlange stehen, keines Blickes. Es gibt Ausländer und es gibt Außerirdische, das ist die nächste Stufe des Außenseiter-Seins, denke ich. Außerkontinentler gibt es nicht. Die nennt man Nicht-EU-Bürger.


Marina Skalova — Marina Skalova wurde 1988 in Moskau geboren. Heute lebt sie mit einem deutschen und einem russischen Pass in der Schweiz und muss ständig allen erklären warum. Sie schreibt und übersetzt ins Französische. Ihr Lyrikdebüt Atemnot (Cheyne éditeur, 2016) wurde in Frankreich mit dem Prix de la Vocation en Poésie ausgezeichnet. Ihr letztes Buch Exploration du flux (Editions du Seuil, 2018) ist ein lyrisches Essay, das sich u. a. mit Flüchtlingsströmen, flüssigem Kapital, Informationsflüssen und Körperflüssigkeiten beschäftigt. Deutschsprachige Publikationen u.a. in Lyrik von Jetzt III, Zeitschrift der Kulturstiftung des Bundes, Ostragehege, SWR2… 2017–2018 war sie Hausautorin in Genf am Theater POCHE/GVE, 2018 Stipendiatin am Literarischen Colloquium Berlin.