22. November 2017 — Demagogie

jetzt ist alles ganz harmonisch plötzlich, alles ganz harmonisch, alles ganz schön freundlich, gar nicht mehr böse und heimatschutz und finsterwelt und schutz und asylmissbrauch und balkanroute, nein, nichts davon mehr, jetzt lachen die gewinner, als gäbs kein gestern, aber so ist das immer, auf leichen lässt es sich gut lieder singen, und nicht nur das, die strahlen ja vor freude, freundlichkeit und glück, zwei fesche junge endlich wieder, männer, gut, aber zumindest jung, fast wie zwei frischverliebte, die nicht voneinander lassen können, nein, gar nicht voneinander lassen wollen die, die denken ja schon nur mehr noch das gleiche, wiederholen sich gegenseitig, der eine erzählt witze, die der andere seit jahren von sich gibt, wie zwei knuddelige kuschelbären, beenden schon die gedanken hier des anderen, treffen sich spätnachts in ihren villen zur sondierung, umverteilen wollen die jetzt endlich zwischen sich, wie zwei frischverheiratete wollen sie ein nest sich bauen, das nest säubern wieder, von den eigenen einzelfällen, die fäden wollen sie fest spannen, damit ihr nest auch noch die nächsten jahre hält. innen oder außen, sicherheit oder finanzen, wir werden das schon lösen, so dass ein jeder dann am ende ein paar hebel in der hand, nicht wahr, nein, ganz und gar harmonisch strahlen sie, denkt sich ein chor beim zählen der johanniskraut tabletten, die ihm durch den bevorstehenden finsteren herbst helfen sollen, der dieses jahr vermutlich länger dauern wird, vielleicht gar ein paar jahre erstrahlen soll. nein diesen herbst braucht man ein paar betablocker extra, denkt er sich, der chor, der jetzt auch grad schon wieder am rauchen ist, auch etwas, das der herbst so mit sich bringt, zigaretten und depressionen, aber gut, denkt er sich, der chor, für andere ist so ein herbst ja anlass zu harmonischen fotos, selfies, #autumnigers, #leavesfalling, #melancholy, schließlich kann man nicht alles haben, also nicht jeder einzelne kann alles haben, ein paar können im prinzip fast alles haben, aber gut, darüber haben wir auch schon so oft, denkt er sich, der chor.

woher kommt das, dass man schon gar nicht mehr drüber nachdenken, dass man schon komplett abgestumpft, dass man schon vollkommen ungläubig, woher kommt das? fragt er sich, der chor und starrt die neue harmonie an, die ihm da entgegenspringt, alles freundliche gesichter, alles freundschaftliche gesten, augenhöhe, herzlichkeit, brüderlichkeit, familiennachzug verhindern, nachmittagsbetreuung streichen, kulturprogramme eindampfen, sozialleistungen kürzen, alleinerzieherinnen schnupfen, lager an den außengrenzen, strengere auflagen, steuererleichterungen für oben, härtere zeiten für unten, noch ein foto bitte, schau, da hände schütteln, kurz, danke, bitte, da auch noch, menschenrechtskonvention überprüfen, kampfboote ins mittelmeer, asylschmarotzer, kurz, lieb lächeln, danke, schön harmonisch umverteilen, von mir zu dir, von dir zu mir, abschiebungen entbürokratisieren, frauenhäuser schließen, alleinerzieherinnen auch gleich schließen, alles schließen, den brenner sowieso, kurz, danke lieb, kurz lächeln, schau, ja, harmonisch sind wir, ganz und gar harmonisch sondieren wir, verhandeln wir, streicheleinheiten liefern wir, nur keine schlechte presse, alles andere ist egal, die bilder müssen stimmen, dann passen auch die inhalte, die längst keiner mehr hier überprüft. warum auch, wozu auch, hauptsache das bild stimmt. hauptsache die frisur sitzt, hauptsache das bussi kommt zur rechten zeit, imagepolitur 2.0, hauptsache blond und gut versteckt im hintergrund fürs privatlebenfoto.

und er kanns gar nicht glauben, der chor, was er da sieht, die zwei frischverliebten harmonischen schmusebären, junge dynamische verhandlungstiger an den sondierungstischen, mitten in der kissenschlacht, kurz vor ihrem ersten mal, die hände schon an den töpfen des anderen, die jetzt sich überschlagen, endlich zusammen hand an die hebel, komm, halt mir mal hier, schau, endlich zusammen hand an die regler, endlich zusammen, hand an die gurgeln, aber das haben wir doch schon, denkt sich der chor, doch schon so oft, darüber haben wir doch längst, man will ja nicht mehr, es ermüdet einen, denkt er sich, mittlerweile ermüdet es selbst hier den chor, zynismus macht sich breit in allen lagern hier, von befreundeten chören hört er den bisweilen schon, den zynismus.

aber zynismus hasst er. zynismus hat noch niemandem was gebracht, zynismus ist die waffe von aufmerksamkeitsgeilen chören. wer nichts zu sagen hat, soll sich doch bitte sparen hier den mund, aber gut, das massenmediale rauschen, man hört ja längst schon nichts mehr durch, nur mehr noch meinungen über meinungen über meinungen, die niemandem mehr gehören, hauptsache man hat auch noch was zu sagen, denkt er sich, der chor, der am liebsten nichts mehr sagen möchte, gar nichts, sondern nur mehr lauschen, eine weile, über den erdrand tollen, spazieren gehen durch den herbst und überlegen, ob die vitamin d box jetzt halbvoll ist oder doch halbleer.

weil wir haben doch schon so oft über all das andere, so oft haben wir, denkt sich der chor und hats was geholfen?, fragt er sich. dass wir über den ruck und die salonfähigkeit, dass wir über die falschen bilder und die fake news, irgendwie hat es einen nur noch müder gemacht, das ständige hinzeigen auf das offensichtliche und geholfen hats auch nichts - some men just want to watch the world burn. ICH WILL DIE DRITTE PISTE, hat einmal einer geschrien oder LIEBER ZWEI STUNDEN IM EIGENEN AUTO IM STAU ALS DREISSIG MINUTEN MIT DER BIM, hat ein anderer geschrien, ein gutsituierter, wirklich, tatsächlich, der chor ist zeuge, some men just want to watch the world burn und wir haben schon so oft darüber, wirklich, schon so oft darüber, aber am ende steht man vorm schrank und zählt die betablocker und hofft, dass der herbst diesmal nicht ganz so einfährt, wie die letzten male, aber das werden wir erst gewusst haben, wenn die zukünftigen geschichtsbücher uns eine antwort darauf geliefert haben werden, auf die stubbornness des early 21st century.

dort wird vielleicht stehen, so hat das angefangen, denkt er sich, der chor, das langsame ende vom anfang des einundzwanzigsten jahrhunderts, als das echo der utopien langsam vom massenmedialen rauschen verschluckt wurde, frisch aufbereitet von spindoktoren zu hippen, gut genießbaren politiksmoothies für die breite masse, für jeden was dabei, auch wenn am ende unterm strich weniger bleiben wird für den einzelnen, aber egal, hauptsache irgendwas mit anti, hauptsache irgendwas mit jung und frisch und neu, hauptsache irgendwas mit veränderung, hauptsache irgendwas, was hier noch keiner kennt und dann bitte lächeln, ganz harmonisch, kurz, bitte, hass säen, harmonie ernten, keine politik mehr, nur noch bilder, für die geschichtsbücher, die bald neu geschrieben werden müssen. aber das will ja keiner mehr hören, denkt er sich, der chor, ich ja auch nicht, ich kanns schon nicht mehr hören, die offensichtlichkeit, die charmante verlogenheit, mit der hier eine ideologie sich durchsetzt, die, wie jede gute ideologie, nur als vehikel dient, und wieder denkt er sich, der chor, aber wir haben schon so oft darüber und schon so lang darüber und wir wissen es ja, herrschaftszeiten, wir wissen ja, worüber wir da sprechen, aber, denkt er sich dann, der chor, so hat das halt damals angefangen, wird da stehen in den frisch geschriebenen geschichtsbüchern.

nicht mit den lagern, nicht mit den zügen, nicht mit den toten, sondern mit der harmonie, denkt sich der chor, mit dem lächeln, mit der lässigen hornbrille und dem slimfit, dem button down und noch mehr harmonie, bis man hinweggesehen hat, über die auffanglager, über die neuen grenzen, über die kleinen, freundlichen überschreitungen, über die all die hände an all den hebeln, die man vor lauter händen und hebeln schon nicht mehr mitbekommen hat, bis man selbst irgendwann so eine hand an so einem hebel war, weils bequemer war, weil eh jeder seines glückes schmied usw., weil eh jeder für sich, usw. weil eh ich meine, entsolidarisierung und so, eh schon alles im arsch, und dann plötzlich, die eigene hand, nur kurz, einmal, kurz, hier, hand anlegen, und schon hat man sich eingerichtet gehabt, wird dort stehen, in den geschichtsbüchern und niemand wird dabeigewesen sein wollen, unglaublich, und wir wussten ja von nichts, von den routen, den lagern, den wintern in zelten in wäldern mitten in europa, wir wussten alle nichts und wenn wirs wussten, dann haben wir gedacht, ach was, so schlimm ist das auch nicht, weil wir haben ja auch, ich meine, hier, der vorgarten im winter, ein desaster, ich kenn das, wenns kalt wird, jaja, nein wir wussten von nichts, wir haben harmonisch und beseelt gestrahlt, weils einfach einfacher war, bis in alle ewigkeit und über alle auffanglager hinweg: friede, freude, außengrenzen.


Thomas Köck — geboren 1986 in Oberösterreich, arbeitet als Autor und Theatermacher. Studierte Philosophie in Wien und an der FU Berlin sowie Szenisches Schreiben an der UdK Berlin. Mit einem Dokumentarfilmprojekt über den libanesischen Bürgerkrieg eingeladen zu Berlinale TALENTS sowie nominiert für den Filmförderpreis der Bosch Stiftung. Konzipierte Lese- und Veranstaltungsreihen in Wien, Berlin und Mannheim. War Hausautor am Nationaltheater Mannheim und erhielt u.a. den Else-Lasker-Schüler-Preis, den Dramatikpreis der österreichischen Theaterallianz oder zuletzt den Kleist-Förderpreis.

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