Geschichten eines Sommers. Ein Essay

Ein Gastbeitrag von Ines Rössl
17. Oktober 2018 — Demokratisierung

Ich schreibe nicht über Chemnitz, nicht über all das, was sich Bahn bricht, die Dammbrüche. Ich beschreibe kein Ereignis. Ich greife Begebenheiten heraus. Sie sind nicht sonderlich relevant. Sie sind dennoch bedeutsam. Sie bedeuten etwas, das ich nicht genau festmachen, nicht unter einen Begriff fassen kann, das sich aber vielleicht erzählend zeigen oder zumindest ahnen lässt.

Am See
Spätsommer und Augusthitze an einem kleinen See bei Wien. Nichts deutet auf Politik. Und dann alles. In meiner Nähe das Gespräch zweier junger Menschen, sie wohl etwa 16, er 18. Sie: Kritisch-analytischer Geist, eine Klasse übersprungen, lakonischer Tonfall. Ihr ist nichts an falscher Pose gelegen, die Konversation ist ernsthaft und leichtfüßig, es geht um Schule und Matura, das Wasser glitzert in der Sonne und auf der Haut. Und da ist er, der Satz, der mich aufhorchen lässt: „Willst du jetzt eigentlich zu den Identitären gehen?“ Und er antwortet: „Nein, derzeit nicht.“ Und dann geht es bald wieder um Schule und Matura und das Wasser glitzert auf der Sonne und auf der Haut. Aber das Politische ist nie weit, wie sich herausstellt. „Ich meine, der Lehrkörper ist ja eher liberal“, sagt sie, und: „natürlich sollen Männer und Frauen dasselbe verdienen, aber ich denke schon, dass es Unterschiede gibt zwischen den Geschlechtern, auch wenn das vielleicht schwer zu akzeptieren ist, wenn man mit was Anderem aufgewachsen ist.“ Es ist auch Zeit für Bekenntnisse: „Meine Freundin hat gesagt, du bist rechts, aber ich habe dich eigentlich immer gemocht.“ Und später fragt sie ihn, der nicht viel redet, freundlich und fast stoisch wirkt, tropfende Locken: „Was wäre für dich radikal?“ Als Antwort steht er auf und schlägt vor, raus zu schwimmen, „nicht so nah an den Leuten“, sagt er. Und habe ich dann wirklich, als die beiden in der Mitte des Sees angelangt waren, der Schall übers Wasser trägt weit, die Worte „Mein Kampf“ gehört?

Sie ist mir lange nicht aus dem Kopf gegangen, diese junge Frau, die sich nichts erzählen lassen will. Die um ein eigenständiges Denken ringt. Überhaupt ums Denken. Und auf die rechtsextreme Positionen eine erkennbare Faszination ausüben. Ausgerechnet. Sie verströmen den Hauch des Rebellischen und Unerhörten. Diese junge Frau hat, so scheint es, eine Sehnsucht nach etwas Anderem als dem, „womit sie aufgewachsen ist“. Aber womit ist sie aufgewachsen? Oder anders: Wie kommt sie dazu, den Eindruck eines Mainstreams zu haben, der nach einer Gegenbewegung verlangt und rechtsextremes Denken als intellektuell verführerisch erscheinen lässt? Und was ist das überhaupt, was da als Mainstream („das, womit man aufwächst“) wahrgenommen wird?

Die Integrationsministerin
Die österreichische Außen- und Integrationsministerin wird in einem Interview der Tageszeitung „Die Presse“ gefragt, welche Schilderung rund um den Hashtag #MeTwo, unter dem Menschen von rassistischen Diskriminierungserfahrungen berichten, ihr besonders nahe gegangen sei. Eine Suggestivfrage. Sie unterstellt erstens, dass die Ministerin zumindest einige Postings gelesen hat. Und zweitens, dass diese Postings der Ministerin nahegegangen sind. Sein müssen. Es ist eine freundliche, eine einladende Suggestivfrage, sie würde der Ministerin die Möglichkeit geben, sich „erschüttert“ zu zeigen und mit dieser Emotionsperformance die Thematisierung von Alltagsrassismus sozialadäquat abprallen und verpuffen zu lassen. Aber die Ministerin lässt sich nicht einmal darauf ein, sondern antwortet: „Diese Erfahrungen gehören leider zum Erwachsenwerden dazu und passieren im Alltag vielen von uns, nicht nur Menschen mit Migrationshintergrund.“ Und weiter: „Mit dummen Aussagen ist jeder von uns konfrontiert. Auch ich.“ Beispielsweise, wenn man mit „einem Hund, der jemandem nicht gefällt“, unterwegs ist. Auch sie, die Ministerin, ist eine Betroffene. Zwar nicht von Rassismus, aber das ist egal, denn Rassismus ist auch nichts Anderes als eine dumme Bemerkung wegen eines hässlichen Hundes. Sagt die Integrationsministerin. Und dann spricht die Ministerin noch eine Empfehlung aus. Nein, keine Empfehlung, sondern eine Handlungsanweisung. Denn sie sagt: Man muss. Man muss, sagt sie, damit „umgehen können, sich zusammenreißen oder [es] mit einer Portion Humor nehmen.“ Sie habe das auch so gemacht, „diese Situationen“ hätten sie „immer weitergebracht“, sie hätte „gespürt“, dass sie „an ihnen wachse.“ Nicht so kleinlich sein, ruft hier also die Ministerin jenen zu, die von rassistischer Diskriminierung berichten, das passiert doch jedem von uns. Aber es passiert eben nicht jedem von uns. Weil es nichts ist, das einfach so, zufällig, passiert.

Die Frauenministerin
„Auch ich“, sagt die Integrationsministerin. „Ich als Mutter“, sagt die Frauenministerin. Sie als Mutter würde nämlich ihr Kind nicht in eine 12h-Betreuung geben, meint sie in einem Interview mit der „Kleinen Zeitung“. Wenn sie sich für ein Kind entscheide, entscheide sie sich auch für die Erziehung. Sie. Maßstab der Dinge und der Mütter. Die ausspricht, was von Eltern zu erwarten ist. Nicht in einem faktischen, zukunftsprognostischen Sinn. Denn das steht auf einem anderen Blatt, das die Frauenministerin nur ungern aufschlägt, und betrifft eben jene Frage, welche Entscheidungen Menschen unter bestimmten sozio-ökonomischen Rahmenbedingungen treffen (können/müssen). Nein, „es ist zu erwarten“, „man kann erwarten“ – das sind nur scheinbar beschreibende Sätze, in Wahrheit sind es Vorschriften. Noch vertrackter ist: „es darf erwartet werden“. – „Ich darf von allen Eltern auch Einsatz erwarten. Zum Beispiel, dass man im Sommer zum Kindergarten in die nächste Gemeinde fährt.“ So sagt es die Frauenministerin. Der Satz ist wahrer, als man zunächst vermuten möchte, bringt auf den Punkt, was Sache ist: Die Ministerin nimmt sich das Recht heraus („ich darf“), anderen gegenüber eine Verhaltenserwartung auszusprechen. Sie rechtfertigt dies mit ihrer eigenen Mutterschaftserfahrung, der Erfahrung einer Universitätsprofessorin und Ministerin, als wäre diese verallgemeinerbar.

Die Integrationsministerin sagt: Ich bin ein Opfer wie ihr. Die Frauenministerin sagt: Ihr seid Mütter wie ich. Und auch sie formuliert ein Müssen: „Man muss sich ein Netzwerk aus Großeltern, Freunden und Bekannten mit Kindern aufbauen.“ Sie ruft Wahlfreiheit, will niemandem Vorschriften machen, aber der Zwang kehrt privatisiert in Form von faktischen Handlungszwängen, um überleben zu können, wieder. Was die Frauenministerin mit ihrem „man muss“ moralisch auflädt, ist dieser faktische Zwang. Er klingt aus ihrem Mund wie eine moralische Pflicht. Etwas, das erwartet werden darf. Und was darf erwartet werden? Erwartet werden darf die Anpassung an die (be)herrschenden Verhältnisse.

Eine Rot-Weiß-Rote Fibel
Auf der Seite www.staatsbuergerschaft.gv.at findet sich die Broschüre „Zusammenleben in Österreich. Werte, die uns verbinden“. Auf Basis der Grundprinzipien der Bundesverfassung werden „unsere Werte“ vermittelt. Es ist eine schöne Broschüre. Da steht zum Beispiel: „Alle Menschen sind gleich an Würde. Die Würde eines Menschen ist unabhängig von Geschlecht, Alter, Bildung, Religion, Herkunft oder Aussehen. Diskriminierung und Rassismus haben in Österreich keinen Platz.“ Das möchte man gerne glauben. Diese Sätze, die in sogenannten Integrations- und Wertekursen gepredigt werden, damit – ein für allemal – klargestellt wird, dass „wir“ sicher nicht so sind. Nicht so wie die, nicht wie „die Anderen“.

Die Integrationsministerin hat diesen Glauben offenbar so gründlich internalisiert, dass sie Rassismuserfahrungen nicht als solche anerkennen kann. Was nicht sein darf, kann nicht sein. Es ist eine typische Doppelbödigkeit von Normtexten, dass sie sowohl als Sollensanordnung, gewissermaßen als institutionalisierter Wunsch, als auch als Beschreibung einer Normalität gelesen werden können: „Diskriminierung und Rassismus haben in Österreich keinen Platz.“ Ein Satz, der falsch und wahr gleichzeitig ist. Und der zu einem Problem wird, wenn er zum Mantra wird, zum Glaubenssatz, der die eine Seite des Versprechens, nämlich seine tatsächliche Verwirklichung, zur Nebensache erklärt. Dann wird die Rede zur Ausrede. Sie erweckt nur mehr einen Anschein. Wird durchscheinend und durchsichtig. Sie verliert ihr Gewicht. Man kann ihr nicht mehr glauben. Aber man begreift, dass man den Anschein nicht stören darf.

Das doppelbödige Reden und das Auseinanderklaffen von Darstellung und Wirklichkeit haben Konjunktur: Die Integrationsministerin tut so, als gebe es Rassismus nicht. Die Frauenministerin tut so, als hätten alle die gleichen Möglichkeiten. Und regelmäßig entschuldigen sich öffentlich Sprechende für ihre „Wortwahl“, nur um mit diesem Manöver die Inhalte gegen Kritik zu immunisieren:

Im August schreibt eine ÖVP-Europaabgeordnete auf Facebook: „Afrikaner wollen nicht wie wir Europäer denken und arbeiten“, „deren Kultur“ würde „nichts anderes produzieren als Leid, Verfolgung, Unterdrückung und Perspektivenlosigkeit“ und sie sehe „die massive und willkürliche Zuwanderung aus kulturfremden Regionen nach Europa als eine große Bedrohung für unsere Gesellschaft“. Nach öffentlicher Kritik löscht sie den Text und entschuldigt sich „für die unpassende und falsche Wortwahl“. Sie sei „erschüttert“, dass sie „selbst nicht vor Vorurteilen gefeit“ sei. Im Gegensatz zur Integrationsministerin beherrscht die Abgeordnete die Spielregeln der Emotionsperformance: Wortwahl bedauern, Erschütterung zeigen und das Geständnis ablegen, man sei nicht vor Vorurteilen gefeit. Und weil uns beigebracht wurde, dass niemand vor Vorurteilen gefeit ist, das Vorurteil daher ganz normal ist, wird auch das Gesagte, über das sich die Abgeordnete eben noch erschüttert gezeigt hat, zu etwas völlig Normalem. Die Abgeordnete sagt: Ich bin schwach wie ihr. Kann jedem passieren. Dass sie sich in ihrem Posting ausdrücklich auf ihre professionelle Expertise berufen hat, um ihren Aussagen Gewicht zu verleihen, ist schnell vergessen.

Und wieder einmal wurde bestätigt, dass Rassismus in Österreich keinen Platz hat. Scheinbar. Wurde nicht im selben Atemzug, in dieser eigentümlichen Doppelbödigkeit, gerade auch bestätigt, dass Rassismus in Österreich eine Normalität ist?

Die Kluft
Man bespricht also den Anschein. Der Anschein ist nicht unwesentlich, weil er – so hofft man zumindest – zivilisierende, ja, auch normative, Wirkungen entfaltet. Das Fallen der Sprachhemmungen, die Tabubrüche, das Herbeireden, ja Herbeiwünschen von Gewalt – all das findet schließlich bereits statt. Inklusive der tatsächlichen Gewalt. Hilft es, wenn wir den Satz „Diskriminierung und Rassismus haben in Österreich keinen Platz“ nur oft genug wiederholen?

Wenn die Worte, die gelehrt werden, nicht gefüllt und wahr gemacht werden, dann wird die Rede nicht nur zur Ausrede und zum Glaubenssatz, dem man gerade deshalb keinen Glauben mehr schenken kann. Sie wird auch zu etwas Gegenständlichem, etwas, das den Sprechenden äußerlich bleibt („der Mainstream“ sagen sie dann dazu), wahrgenommen als ein Mittel, das allein von strategischer Bedeutung ist und dem man sich unterwirft, wenn es gerade opportun ist. Man lernt: Wer den Anschein stört, muss sich erschüttert zeigen oder wird gar – wie jüngst ein ÖVP-Abgeordneter für einen sexistischen Tweet – ausgeschlossen. Aber sonst? Sonst wenig. Die Ausbeutung der Vielen bestimmt unverändert die Wirklichkeit, Sorgearbeit bleibt ungleich verteilt, die Schere zwischen Arm und Reich wird größer, Integrationsbudgets an Schulen und Förderungen für Frauenorganisationen werden gestrichen, und Menschen wird die Rettung auf See verweigert, weil sie „die Anderen“ sind.

Die auf Dauer gestellte Kluft zwischen den Ritualen der Anscheinswahrung und den realen Verhältnissen hat etwas, ich werde den Eindruck nicht los, mit der jungen Frau vom See zu tun, die sich nichts erzählen lassen will, schon gar nicht vom „liberalen Lehrkörper“, und stattdessen mit rechtsextremen Positionen liebäugelt. Und das Problem ist sicher nicht – wie sonst an ähnlicher Stelle immer wieder reflexhaft behauptet wird – ein „Zuviel“ an Antidiskriminierung, Antirassismus und Gleichheitsdenken. (Man hätte mit all dem über das Ziel hinausgeschossen, heißt es gelegentlich. Aber womit hat man denn wirklich über das Ziel hinausgeschossen? Wer kriegt sie denn ab, die Geschosse?)

Kein Zuviel. Im Gegenteil.

Der Essay wird demnächst auch in der Wiener Straßenzeitung Augustin erscheinen


Ines Rössl — geboren 1981. Tätig als Rechtswissenschafterin, Theaterschaffende und Autorin. Mitarbeiterin am Institut für Rechtsphilosophie der Universität Wien.