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Es gab Dinge im Dorf, die ich nicht verstand. Zum Beispiel, dass nachmittags die Supermärkte für einige Stunden geschlossen hatten, weil alle zu schlafen schienen. Oder woher die streunenden Katzen kamen, wenn doch Karlo der einzige Kater wer, der einen Besitzer hatte. Und wie sich die Katzen ernährten, wenn mir alle stets sagten, ich solle sie nicht füttern. Ich verstand nicht, wo die Kinder zur Schule gingen. Es gab hier keine Schule, aber dafür die Kirche. Ich verstand nicht, warum Großmutter mit der Frau in Stöckelschuhen freundlich plauderte aber hinterher immer über sie schimpfte. Es waren diese unausgesprochenen Regeln, die mich verunsicherten. Wann war meine Großmutter zu wem freundlich? Was hatten ihr diejenigen getan, denen sie keine Beachtung schenkte? Vorheriges Jahr lebte im Haus nicht weit von unserem eine Familie mit zwei Kindern. Sie kamen nicht aus dem Dorf, sie sprachen nicht unsere Sprache. Sie hatten bunte Kleider. Die Mutter trug blaue ovale Ohrringe. Der Vater hatte eine Zahnlücke und lachte viel. In seinem Schnurrbart versteckten sich vereinzelte graue Haare. Das Mädchen und der Junge waren so alt wie Tore und ich. Es störte uns nicht, dass wir nicht mit Wörtern hätten kommunizieren können. Fürs Versteckspielen und Wegrennen hätten einfache Gesten gereicht. Wir erzählten Großmutter, dass wir die Kinder einladen wollten. Sie verbat es uns. Wir verstanden nicht. Wir versuchten sie umzustimmen. Sie wurde lauter. Sie sagte „Diese Menschen gehören nicht hier her“ und „Sie sind schmutzig“ und „Ihr dürft euch nicht mit denen abgeben“. Wir versprachen Großmutter, die Kinder nicht zu treffen. Am Kaugummiautomaten Tage später trafen wir diese Kinder zufällig. Wir lächelten einander an, wir fühlten uns schüchtern, wir kauten Kaugummi. Tore und ich fanden heraus, dass das Mädchen Viviana und der Junge Paulo hießen. Tore versuchte Paulo zu sagen, dass er seine Schuhe mochte. Ich wusste nicht, ob Paulo es verstand. Er lachte freundlich, während Viviana sich ihr langes dunkles Haar kämmte. Dann kam Großmutter. Sie blieb vor uns stehen. Sie sagte nichts, sie rieb sich die Hände, wir kamen mit ihr. Zu Hause stieß sie meinen Kopf gegen die Tischkante, ich gab keinen Laut von mir. Auch Tore blieb still, als sie ihm eine Ohrfeige gab. Und unser Vater, der zusah, sagte nichts.

Und darauf beharren, bei uns in der Familie seien alle unschuldig. Niemand war im Krieg. Nicht Großmutter, auch nicht der Vater unserer Großmutter, den ich von Bildern kannte, immer einen Hut tragend. Im Geschichtsunterricht sitzen und „Rassismus“ lernen. Und darauf beharren, bei uns in der Familie gäbe es so etwas nicht. Bei uns gab es so etwas nicht. Wir hatten Regeln, denen wir gehorchten, wir hätten es ja auch nicht anders gekonnt. Wir waren unschuldig.

Ich hielt Großmutters Hand, wir liefen die Straße entlang. Großmutter mit ihren kleinen schnellen Schritten zog mich hinter sich. Ich hatte den Blick auf den Gehweg gerichtet, hatte nur im Kopf, dass ich so viele Kieselsteine wie möglich weg treten möchte. Dann hörte ich ein Lachen, und Großmutter blieb kurz stehen. Da waren Viviana und Paulo. Sie zeigten auf mich und lachten. Paulo trat Kieselsteine weg, so wie ich, und lächelte. Großmutter hielt meine Hand fester, meine Finger waren wehrlos, ich war wehrlos. Ich spürte alle Blicke. Vivianas und Paulos, die doch nur spielen wollten. Und Großmutters Blick. Wir gingen nach Hause. Ich wollte nie wieder auf die Straße, wollte nie wieder Viviana und Paulo sehen. Ich war sauer, auch auf die beiden, dass sie keine Furcht vor Großmutter hatten.

Wir widersetzten uns Großmutter nicht mehr und auch das verstand ich nicht.


Nefeli Kavouras — 1996 in Bamberg geboren und aufgewachsen, lebt in Hamburg. Studiert Kulturwissenschaften und Philosophie an der Leuphana Universität Lüneburg. Organisiert die mehrsprachige Lesereihe „Hafenlesung“ mit und ist Mitglied des Autorenkollektivs foundintranslation und des writers' room e.V..

→ http://hafenlesung.com/