Ich war nicht schwarz (Selbstgespräch eines gewöhnlichen Nachtarbeiters)

Ein Gastbeitrag von Fiston Mwanza Mujila
18. Juli 2018 — Migration

Für E., Träumer, Utopist und Zeitungsausträger

Ich habe Jahrhunderte gebraucht, um zu verstehen, was ein Körper ist. Besser gesagt ein schwarzer Körper. Oder noch besser, ein schwarzer Körper im westlichen Kontext. Ich betrachte die Welt durch die Brille meiner Erfahrungen. Für lange Zeit, in Afrika, hatte ich einen Körper, einfach einen Körper, einen Körper ohne Adjektiv, einen Körper ohne Präambel, einen Körper ohne Vorannahmen. Erst als ich in den Westen gekommen bin, habe ich bemerkt, dass mein Körper nicht bloß ein Körper ist, dass er mehr ist als ein Körper, nämlich ein schwarzer Körper.
Ich habe Jahrhunderte gebraucht, um zu verstehen, was ein Körper ist. Nicht in dem Sinn, dass er dem Land oder der Familie gehört, sondern dass er sich selbst gehört. Der Körper: sechs wirre Buchstaben, um einen Ozean zu beschreiben; der Körper oder das Kartell aufrührerischer Träume; der Körper oder der dunkle Wirbel und alles, was uns grübeln lässt. Was ich sagen will: Ich musste zehntausend Kilometer zurücklegen und mich in einem Land Europas niederlassen, um das Wesen des Körpers zu verstehen.
Wir alle haben einen Körper, aber manche zahlen dafür einen hohen Preis. Auf alle Fälle genügt der Körper sich selbst, trotz der Objektivierung, der Ritualisierung des Denkens, der Vertuschung der Tatsachen durch den Anschein. Wie gesagt, wir alle haben einen schwarzen Körper, aber manche zahlen dafür einen hohen Preis. Wenn der Körper schlapp macht, versagt, aufgibt oder unter Schmerzen zusammenbricht, kann man nichts machen. Unser Gerippe hat seinen eigenen Rhythmus. Aus diesem zeitlosen, angeborenen Tempo kann man nicht ausbrechen.
Der Körper ist zum Feiern da, zum Spaß haben, zum Tanzen, zum Vögeln, zum Couscous Futtern, zum Saufen und um sich nachts auszuruhen, weil die Nacht dazu da ist, dass der Körper wieder auf die Beine kommt, in der Nacht soll der Körper sich ausruhen, weil die Nacht den Körper wieder auf die Beine bringt. Selbst wenn du das boykottierst, selbst wenn du gute Gründe hast, nicht zu schlafen, wird der Körper schlafen, wie sehr du dich auch sträubst. Der Körper trickst dich aus. Er entriegelt dein Bewusstsein und tanzt Walzer mit dem Spitzbart deines Schmerzes. Das ist die Lektion, die mir die Nachtarbeit erteilt hat. Übrigens war das der einzige Job, den ich kriegen konnte, ohne mich in Stücke zu reißen, wegen fehlender Papiere und mangelhaftem Deutsch. Und ich kann nur laut lachen, wenn ich höre, dass wir von Ausländern überschwemmt werden, dass die Ausländer uns auf den Füßen herumtrampeln, dass die Ausländer in der organisierten Kriminalität sind, dass die Ausländer in der Kleinkriminalität sind, dass die Ausländer mit ihren Sprachen, die falsch klingen, dass die Ausländer überall hin pissen, dass die Ausländer (vor allem die Schwarzen) gut tanzen, dass die Ausländer im Restaurant die Rechnung nicht zahlen, dass die Ausländer (vor allem die Schwarzen) ein riesiges Geschlechtsteil haben, dass die Ausländer immer gute Laune haben, dass die Ausländer betrügen, dass die Ausländer schwer von Begriff sind, dass die Ausländer mit ihren 30 Kindern nur das Kindergeld abgreifen wollen, dass die Ausländer (vor allem die Araber) Terroristen sind, dass die Ausländer mit ihren Riten und Religionen, dass die Ausländer schlecht arbeiten, dass die Ausländer (vor allem die Schwarzen) uns die Frauen wegnehmen, dass die Ausländer dies und das und vor allem die Ausländer, die Ausländer, die Ausländer, die Ausländer, die Ausländer, die Ausländer, die Ausländer, die Ausländer schlechte Manieren haben und, das ist der Gipfel, uns die Arbeitsplätze wegnehmen. Ein alter, durchschaubarer Mythos. Wem nehme ich diesen verdammten Job denn weg? Ich würde ihn sofort jedem geben, der ihn will, falls er der Nacht gewachsen ist, sprich der Müdigkeit und der Kälte.
Ich habe Jahrhunderte gebraucht, um zu verstehen, was ein Körper ist. Ein Körper ist zum Schlafen in der Nacht da, aber mein Körper muss nachts arbeiten und versucht, am Tag zu schlafen, obwohl er nachts schlafen sollte und tags arbeiten, wie alle Körper. Außerdem muss ich sagen, dass es einen Unterschied zwischen Nachtarbeit und mieser Nachtarbeit gibt.
Ich habe also versucht, mit meinem Körper zu verhandeln, ihn daran zu gewöhnen, nachts zu funktionieren, aber umsonst. In den ersten beiden Wochen lief noch alles wie am Schnürchen. Ich kam um fünf Uhr morgens nach Hause, hing ein zwei Stunden auf Facebook rum, erledigte ein paar Anrufe, frühstückte und schlief dann sofort auf dem Sofa ein. Nachts war ich kein bisschen müde. Mein Körper war fit, und ich fing sogar an, meinen neuen Job zu mögen. In der dritten Woche konnte ich plötzlich nicht mehr. Der Körper boykottierte mich, der Körper trickste mich aus, der Körper spielte mir übel mit. Ich arbeitete nachts, und eine große, riesige Müdigkeit, weit wie die Welt, überkam mich und hielt mich ab, mein Bestes zu geben, wo ich doch nach Leistung bezahlt und bewertet wurde.
Ich habe Jahrhunderte gebraucht, um zu verstehen, was ein Körper ist. Sagen wir, ein schwarzer Körper, wenn wir schon dabei sind. Ich will ganz offen reden und mich nicht in unzusammenhängenden Scheinargumenten und anderen idiotischen Abschweifungen verlieren. Ich wurde vor dreißig Jahren geboren. Ich bin weder Chinese noch Russe. Ich komme nicht aus den Vereinigten Staaten von Herrn Trump sondern aus West-Afrika, und ich überlebe auf dem Schwarzmarkt. Ich überlebe auf dem Schwarzmarkt, aber ich fahre niemals schwarz mit den öffentlichen Verkehrsmitteln, aber, aber manchmal habe ich schwarzen Humor, manchmal starre ich schwarze Löcher in die Luft, manchmal sehe ich schwarz… Manchmal…
Was ich sagen will, ist Folgendes. Äh, ich bin… Ich bin schwarz, äh, ich bin schwarz, ich war nicht schwarz, ich bin nicht schwarz, weil nicht ich es bin, der sagt, dass ich schwarz bin. Die Leute sagen, dass ich schwarz bin. Ich habe nicht gewusst, dass ich schwarz bin, bevor ich in die westliche Welt gekommen bin. Wo ich herkomme, hat mir nie jemand gesagt, dass ich schwarz bin. Wenn man über mich redet, sagt man nicht, dieser Typ ist schwarz, dieser Typ hat schwarze Haut, das ist ein Neger, ein waschechter Afrikaner. Meine Mutter sagt nicht, dass sie ein schwarzes Kind hat. Mein Vater sagt nicht, dass er ein schwarzes Kind hat. Meine Eltern sagen nicht, dass sie ein schwarzes Kind mit einem schwarzen Körper haben, sie sagen noch nicht einmal, dass sie ein afrikanisches oder ein afropolitanisches Kind haben. Je öfter ich höre, dass ich schwarz bin, desto mehr glaube ich, dass ich schwarz bin, dass ich einen schwarzen Körper habe, und das stört mich wirklich, verdirbt mir den Appetit, gestern erst habe ich keinen Bissen herunterbekommen, weil mich die Erkenntnis schwarz zu sein wahnsinnig macht. Ich bin nicht schwarz. Doch, anscheinend bin ich schwarz. Das sagen sie im Fernsehen und in den Büchern. Bin ich schwarz? Wirklich schwarz? Richtig schwarz schwarz? Habt ihr Beweise, dass ich schwarz bin?
Schwarz zu sein ist eine Fiktion. Es ist eine der größten Verarschungen, die die Menschheit gesehen hat, wie die Kolonialisierung, die Versklavung und der Nationalsozialismus. Man sperrt die Leute in leere Begriffe, bevor man sie zusammenschlägt und lebendig auffrisst.
Wo war ich stehengeblieben? Ich bin mit falschen Papieren Zeitungsausträger geworden und übe meine Profession zwischen 24 und 5 Uhr morgens aus, alle Tage die Woche. Ich will nicht klagen oder in Selbstmitleid versinken. Sehe ich aus wie ein Geschäftemacher?
Meine „Morphologie“ verweist auf viele Orte und ruft alte Gewohnheiten wach. Man nennt mich Afrikaner, politischer Exilant, Schwarzer, Afroeuropäer, Neger, Afroamerikaner, Migrant, Flüchtling, Asylant, Wirtschaftsflüchtling, einen Typ ohne Aufenthalt… Seit ich den alten Kontinent betreten habe, wurde mir jedes dieser Etiketten mindestens einmal verpasst, meist ohne ersichtlichen Grund. Sie umgeben mich mit der üblichen Finsternis, graben mir das Wasser ab. Sie katalogisieren mich, inhaftieren mich, sperren mich in eine Schublade, in eine Zelle, in einen Raum, in eine Zeit, ätzend und öde, und verweisen zu allem Überfluss auf eine Geschichte der Gewalt. Für so etwas habe ich keine Träne übrig, und das sage ich zum ersten und letzten Mal.
In meiner Haut weiß ich und spüre ich, dass ich das zweite Kind meiner Mutter bin. Ich bin Teil einer Ahnenfolge, einer Genealogie, eines Volkes, eines Kontinents, und ich bin auch Teil von Europa, weil ich hier lebe. Mir ist egal, was Frau oder Herr Soundso von mir denken. Wichtig ist, was ich selbst denke. Es sei denn, meine Mutter verstößt mich. Wird sie mich verstoßen? Wenn meine Mutter mich verstößt, ist das das Ende der Welt, meine Gehenna. Solange ich in ihren Augen etwas wert bin, glaube ich daran, auf dieser Welt meinen Platz zu haben, auch wenn es denen nicht passt, die mich für den Pithekanthropus und ein afrikanisches Billigfabrikat halten.
Und wenn irgendwelche Leute mit Schuldkomplex oder Helfersyndrom unbedingt von mir hören wollen, dass ich nichts zu beißen habe, dass ich barfuß laufen muss, dass meine Heizung spinnt, dass ich in beengten Verhältnissen lebe oder dass die Kinder in meinem Land am Verhungern sind, nur Scheiße und Spucke essen, dass die Eingeborenen drüben in Afrika sich gegenseitig niedermetzeln und in den Rücken fallen und auffressen, kurz, wenn manche Gemüter von mir solche vorgefertigten Geschichten erwarten, ziehe ich es vor zu schweigen.
Denn selbst wenn ich betteln muss, ist mein Leben nicht öffentlich ausgeschrieben. Es gibt Dinge, die nur ich weiß, Freude und Schmerz, die nur in meinem Inneren zu hören sind. Ich will niemandem in die Suppe spucken. Es ist nicht meine Art, jemandem in die Suppe zu spucken, weil man in die Suppe nicht spuckt. Ich habe nichts gegen Wohlwollen, solange es ehrlich ist. Mehr als einmal habe ich sehr nette Leute getroffen, für die ich nicht mehr interessant war, wenn ich gelogen habe, wenn ich erzählt habe, dass ich keinen Mist esse, dass ich eine kleine Wohnung habe, dass ich klar komme. Sie haben erwartet, dass ich ihnen mein Herz ausschütte, dass ich von meinen finanziellen Nöten erzähle, dass ich behaupte, dass mein Land in Flammen steht, dass die Kinder Typhus haben, dass es nichts zu essen gibt und die Leute alles mit der Machete regeln. Das haben sie erwartet. Und das habe ich nicht zu bieten. Ja, ich lebe mit den Papieren eines Freundes; ja, ich habe keinen festen Wohnsitz, ja, ich lebe von der Hand in den Mund, aber was sagen diese widrigen Umstände über meine Menschlichkeit? Kann ich nur verstanden, akzeptiert und geliebt werden, wenn ich in der Peripherie bin?
Ich komme aus einer kaputten Stadt, benebelt von Tränengas und Molotowcocktails, wo Rebellen ein System errichten, das sich Chaos nennt. Ich könnte also tausend Berichte von belagerten Städten abliefern, von bombardierten Städten, von mit Cholera und Malaria verpesteten Städten, tausend Berichte von Leuten, die sich nicht satt essen können, tausend Berichte von Leuten, die den Kopf verlieren, tausend Berichte von Typen, die Köpfe abschneiden und sie am Straßenrand aufspießen. Aber davon werdet ihr von mir nichts hören. Ich bin müde und beruhige mich mit dem Gedanken, dass Millionen von Menschen auf der Welt mein Schicksal teilen.
Ich habe Stil. Ich erfinde mich immer wieder neu. Ich glätte die Wogen meiner Vergangenheit. Ich male meine lange Reise nach Europa in den buntesten Farben. Ich relativiere. Ich gebe mich optimistisch. Ich behaupte mit heiserer Stimme, den Himmel im Rücken, Amerikaner zu sein. I‘m American. Ein amerikanischer Schwarzer oder ein schwarzer Afrikaner, der Unterschied springt ins Auge. Letzterer ist wahrscheinlich Flüchtling, Asylsuchender, Schnüffler, kultureller Eindringling, und sicher ist er hergeschwommen. Ich schaue über den Tellerrand. Wenn ich nicht gerade auf meinem Fahrrad sitze, erzähle ich dem Erstbesten, dass ich Johnson heiße, geboren und aufgewachsen in Baltimore.
Kategorisierungen haben auf mich einen umgekehrten Effekt. Sie beflügeln mich. Ich lüge wie gedruckt. Und ich fühle mich nicht schuldig, weil ich für die gute Sache lüge. Weil meine Lügen mich vor dem Absturz retten. Ohne sie würde ich verrückt werden. Außerdem muss ich mich so nicht ständig erklären: Welche Sprache spricht man in Afrika, wie lebt ihr? Gibt es drüben Autos? Ein Bürgerkrieg, wirklich? Wenn ich behaupte, Amerikaner zu sein, spare ich Zeit, und die ist knapp, weil die Zeitungen warten.
Wenn man mich fragt, was ich mache oder wovon ich lebe, lüge ich mir etwas zusammen. Ich lüge mit fester Stimme. Zum Beispiel behaupte ich unverfroren, ein Denker zu sein. Ein Zukunftssoziologe, ein Stadtsoziologe, dass ich überall eingeladen werde, um über diese oder jene Stadt zu referieren. Ich will die Aufmerksamkeit meines Gesprächspartners wecken, damit er sich in meinen Träumen verliert. Ich sage ihm, dass ich kein Prophet bin, aber dass ich Städte untersuche und was in Zukunft aus dieser oder jener Stadt wird. Wie New York in 25 Jahren aussieht, London in 48 oder Lagos in 72. Meine Stimme klingt ehrlich, wenn ich zugebe, Amerikaner zu sein oder Zukunftssoziologe.
Ich komme darauf zurück, was ich über den Körper gesagt habe. Ich arbeite mit den Papieren eines Freundes. Ich fahre mit dem Rad Zeitungen aus. Jeden Abend gegen 22 Uhr bekomme ich einen Anruf. Ich springe auf meine Tretmühle. Ich hole meinen Stapel Zeitungen ab und beginne mein Werk, das ich Werk des Lichts nenne. Ich trete in die Pedale. Ich trete und trete und trete und trete und trete und erreiche das Viertel, das mir zugeteilt ist.
Ich fahre in die erste Straße, stelle mein Rad ab, öffne das erste Tor und stürze mit einem Dutzend Zeitungen unterm Arm los ins Treppenhaus. Vor jede Tür lege ich eine Zeitung. Und so gehe ich von Wohnhaus zu Wohnhaus.
Ich bin nicht der einzige in meiner Stadt, der diesen Beruf ausübt. Wir sind ungefähr hundert in meiner Stadt, und jeder hat einen eigenen Bezirk.
Ich bin kein professioneller Radfahrer. Ich fahre keine Straßenrennen, ich fahre keine Bahnradrennen, keine Querfeldeinrennen und spiele kein Radpolo. Die Tour de France kenne ich nicht. Den Giro d‘Italia auch nicht. Tour de Belgique, Tour de Pologne, Tour de Suisse, kein Plan… Unter uns gesagt: Ich bin nicht Ernesto Cantador, Fausto Coppi, Bernard Hinault, Laurent Fignon, Lance Armstrong, Jacques Anquetil (genannt Maître Jacques) und schon gar nicht Eddy Merckx. Ich fahre um keine Medaille, ich fahre auch nicht aus Leidenschaft. Ich will im Schweiße meines Angesichts mein Brot verdienen.
Ich fahre, um über die Runden zu kommen, ich fahre, um meine Schulden zu begleichen, ich fahre, um Miete und Strom zu bezahlen, ich fahre, um etwas zwischen die Zähne zu bekommen, ich fahre für Kost und Logis, ich fahre fürs Bier…
Wer von denen, die jeden Morgen die Zeitung auf der Fußmatte finden, weiß, dass ich sie gebracht habe? Wer ist sich bewusst, dass ich Teil seines Lebens bin? Zwischen der Redaktion, die die Zeitung herausgibt, und den Lesern bin ich.
Nachts ist die Zeit gefährlich durchlässig. Wie ein Revanchist vergesse ich die Zeit, in der wie leben, und die dazugehörige Welt. Ich versuche, meinen rostenden Körper abzulenken. Ich verliere mich in Träume und andere Utopien ohne Ende des Tunnels. Das ist meine Spezialität. Mich aus der Welt zu stehlen, für die Zeit von zwei, drei Straßenzügen.
Nachts gehört mir die Stadt, oder wenigstens der Raum unter meiner Verwaltung. Ich trete, trete, trete und beschäftige mich dabei mit anderen Dingen. Ich gebe den Straßen Namen, ich taufe sie um. Wenn ich nur lang genug trete, verwandeln sich die Straßen. Sie werden zu Strömen und Meeren. Und ich, der Kapitän, allein an Bord.
Nachts ist für mich die Stadt, oder wenigstens mein Lieferbezirk, Europa. Jeder Tritt in die Pedale ist eine Überschreitung. Jeder Tritt in die Pedale kann mich nach Russland oder Skandinavien bringen. In meiner Vorstellung sind die ersten drei Straßen, die ich beliefere, Spanien. Jede Nacht, die Gott geschaffen hat, durchquere ich Europa mit dem Rad. Bosnien, Belgien, Italien, Moldawien, ich passe die Wirklichkeit meinen Wünschen an.
Ich fahre nicht um eine Medaille, sondern für ein Päckchen Zigaretten, aber ich beklage mich nicht.
Nachts trete ich in die Pedale, um dem Himmel einen Grund zu geben, uns von der Schlafkrankheit zu erlösen.

Aus dem Französischen übersetzt von Lena Müller.

Der Beitrag entstand unter dem Originaltitel Je n’étais pas noir (Soliloque d’un ordinaire travailleur de nuit) für die Konferenz Ängst is now a Weltanschauung, die Nazis & Goldmund im Juni 2018 im Ballhaus Ost in Berlin veranstalteten. Er ist auch erschienen in der No. 75 der Zeitschrift Edit.

Ein Interview mit dem Autor führte Juli Katz im Rahmen des Blogs zur Konferenz.


Fiston Mwanza Mujila — *1981 in Lubumbashi/Dem. Rep. Kongo, lebt in Graz, wo er bereits 2009/2010 Stadtschreiber war. Er schreibt Lyrik, Prosa und Theaterstücke und unterrichtet afrikanische Literatur an der Universität Graz. „Tram 83“ (Zsolnay, 2016) ist sein erster Roman, für den er bereits zahlreiche Preise erhielt, u. a. den Internationalen Literaturpreis – Haus der Kulturen der Welt 2017.