Im Übrigen bin ich der Meinung:
Die Geschichte wirft ihre leeren Flaschen aus dem Fenster*

11. April 2018 — Demokratisierung

Die Autorin gibt nicht viele Anweisungen, das hat sie inzwischen gelernt.
Machen Sie was Sie wollen.— Elfriede Jelinek, Sportstück

Der Frühling ist da, aber das Arbeitsklima lässt zu wünschen übrig. Die Vermessung des Wir ergibt ein Wir der Differenz, nicht des Gemeinsamen. Aufwachen mit verspanntem Kiefer, Beißschiene durchgekaut und im Schlaf ausgespuckt, ein Pochen hinter der Stirn, Entspannung suchen und auf youtube Trost in der Stimme einer Mindful Empowerment Coachingfrau finden, die Meditation einschalten und alles ausschalten: Schön, dass ihr da seid! Willkommen bei der Meditation für Europa zum Thema Vergeben und Loslassen.
Stellt euch darauf ein, dass alles, was in Bewegung geraten ist, eure Gedanken, die Vergangenheit, die Zukunft zwischen Hier und Jetzt, Zeit und Raum hat, zur Ruhe zu kommen.

Wir können uns verdammt nochmal nicht konzentrieren.
Entspannen schon gar nicht.

Die Begleitmusik zum Guten Morgen scheinbar endloses Scherbengewitter aus dem Hof. Shhhhhhh. Die Nachrichtenstimme wird gleich sagen, dass Viktor Orbán die Wahl gewonnen hat. Demokratien sind nicht notwendig liberal. Auch wenn etwas nicht liberal ist, kann es noch eine Demokratie sein, verkündete Viktor Orbán schon 2014. 2015 konterte die Ungarische Partei des zweischwänzigen Hundes – eine Gruppierung von Aktivist_innen und zugleich Satirepartei – die Hass-Propaganda der Orbán Regierung. Auf Feindbilder evozierende Propagandaslogans wie „Wussten Sie? Dass seit Beginn der Flüchtlingskrise mehr als 300 Menschen durch Terroranschläge ums Leben kamen?“ wurde plakativ und treffsicher zurückgeschossen mit „Wussten Sie? Ein durchschnittlicher Ungar sieht in seinem Leben mehr UFOs als Einwanderer.“
Und jetzt? Wieder Orbán? Also fortschreitende Erosion der Demokratie, Budapest vs. Brüssel geht in die nächste Runde, also statt Plan A oder B zurück zu C wie CHILLING EFFECT, jajaja, Erklärung folgt fußnotenfrei: CHILLING EFFECT ist die Bezeichung des Europäischen Gerichtshofs für unrechtmässige Eingriffe in die Pressefreiheit.

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Die Nachrichtenstimme wird gleich sagen: Münster. Der Attentäter war ein durchschnittlicher weißer deutscher Staatsbürger ohne jeden Migrationshintergrund, was einen Unterschied macht zeitgleich getwitterte Hetze und flashback-Bilder aus Nizza, Berlin und London zeitgleich die Frage was einen Unterschied macht für die einen und die anderen was keinen Unterschied macht für die Opfer für die Opfer wird Bedauern ausgedrückt zeitgleich in die gute Stube Deutschlands in die Restbeschaulichkeit eingefallen, das Urvertrauen erschüttert zeitgleich werden Doppelstandard-Diskurse angeheizt zeitgleich wird angemessen und mehr als unangemessen berichtet und berichtet und berichtet zeitgleich ist das jetzt der Werther-Effekt oder zeitgleich Chorprobe der Vielfaltsapologetenhasser zeitgleich acht von zehn Menschen, die von der Polizei erschossen werden, sind psychisch krank zeitgleich diffuse Erleichterung in der guten Stube Deutschlands zurück in Restbeschaulichkeit in Schweigen fallen. Der Aufforderung nachkommen: Mark yourself safe.

Von irgendwo ein Pliiing. Schon wieder ein E-mail, das fünfzehnte heute, dabei sind wir noch nicht einmal aufgestanden. Gleich drehn wir durrrsch. Aber alles, was uns umgibt sind E-mails, alles, was wir haben sind E-mails. Anrufen tut uns ja niemand. Nur. Wann sollen wir das alles beantworten, wie sollen wir erklären, was nicht zu erklären ist. Es muss Regeln geben gegen dieses Kommunikationsfluten, Einschränkungen, Atempausen. Einatmen. Einatmen. Einatmen. Fuck! Ausatmen nicht vergessen.

Die Nachrichtenstimme wird gleich sagen: Terrorverdacht gegen vernetzte Reichsbürger. Durchsuchungen in Berlin. Acht Verdächtige. Bisher keine Festnahmen unter Ausschluss des öffentlichen Bewusstseins der im Anschluss geführten Debatten der im Ausschlussverfahren geführten Warnhinweise vor zuviel der guten Menschen der Unerlässlichkeit der Unterwerfung um der Freiheit der anderen willen. Das hat jetzt aber niemand gesagt.

Schnell ins Bad, aufs Klo, Blick in den Spiegel vermeiden, zurück ins Bett. Abtauchen. Anderswo zeitgleich zieht Vizekanzler Strache Bilanz über die bisherige Regierungsarbeit über die Sicherstellung von Integration über Verbote und das Erfüllen der Kernaufträge selbstverständlich das Ausbauen der direkten Demokratie et cetera et cetera.
Smartphone sagt: Wir sind die Zielgruppenauswahl einer Werbeanzeige für veganen Lippenstift, die Farbe trägt den Namen I AM ON THE GUESTLIST. Scroll scroll. Headlinezappen, erste und letzte Zeilen, alles dazwischen ausblenden, beste letzte Zeile des Tages: Den Lebensstandard unserer Eltern werden wir nicht haben, aber wir haben gefrühstückt wie König_innen.

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Was ist eigentlich heute am Plan, schon wieder Plenumssitzung, Konferenz, trockene Kekse und schaler Kaffee, Strategiegespräche, in denen man Tagträumen könnte von Strategieänderungen, Hakenschlagen, abhauen, sich einfach mal rar machen und trotzdem fett in die Credits geschrieben werden, aaah ... Scheiße, aufgewacht. Pochen hinter der Stirn, stärker jetzt. Der ganze Körper muss als Hirn benutzt werden, aber der Körper bewegt sich nicht. Was war eigentlich gestern Abend? Ah ja, Serienbingewatching. Staffelfinale und alles führt zurück an den Familientisch, auch die Superheldin am Ende der Staffel fängt am Anfang an, Familientisch, Endlosschleife. Aaah! Deswegen der Albtraum von Mutter.

Aus dem Radio der nächste Nachrichtenblock. Warum liegen wir immer noch hier? Vielleicht aufstehen? Noch eine Runde dösen? Plötzlich ist da ein Bild, rutscht einfach so ins Hirn. Das gute alte Ehre Freiheit Vaterland, jetzt auch als T-Shirt-Aufdruck, zum Schnäppchenpreis im Identitären-Shop erworben, aus dem Sortiment von Phalanx Europa. Als (Role-)Model, ein Attaché der österreichischen Botschaft in Israel, der sich kurz nach Beginn seines Dienstes am Strand von Tel Aviv damit fotografiert, das Foto auf facebook postet, und damit seinen Dienstaustritt einleitet. Wir denken an das vielfältig einsetzbare Wort Parallelgesellschaften, und wen genau das jetzt ein- oder ausschließen könnte.

Welcher Tag ist heute eigentlich? Ach ja. Genau. In den Nachrichten wiederholen sich die Meldungen zu Ungarn. Das Wort Hoffnungsvorrat kommt uns in den Sinn, Terézia Mora verwendet es in ihren Frankfurter Vorlesungen: Der Schriftsteller und sein Hoffnungsvorrat. Dass du einfach nicht davon ausgehen kannst, nicht wirklich davon ausgehen kannst, dass zu erzählen, etwas in Sprache zu bringen, jemals sinnlos sein könnte.

Im Hof spielt der Wind mit einem Plastiksackerl, weht es hoch in einen kahlen Baum, da bleibt es hängen und flattert als weiße Flagge. Sieht nach Frühling aus. Ja. Wird Zeit für den Frühling.

* Die Geschichte wirft ihre leeren Flaschen aus dem Fenster, aus:
La jetée, Chris Marker, Kurzfilm, 1962


Sandra Gugić — geboren 1976 in Wien. Studium an der Universität für Angewandte Kunst Wien und am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Veröffentlichungen (Prosa, Lyrik, Essays) in Zeitschriften und Anthologien, Arbeiten für Theater und Film. 2016 erhielt sie den Reinhard-Priessnitz-Preis für ihren ersten Roman Astronauten (C.H.Beck, 2015). Im Frühjahr 2019 erscheint ihr Lyrikdebüt Protokolle der Gegenwart im Verlagshaus Berlin.

→ http://sandragugic.com/