01. März 2017 — Demagogie

TEIL 1

Der junge, weiße Mann träumt davon, jemand anderer zu sein. Milo Yiannopoulos zum Beispiel, der gutaussehende, islamophobe, misogyne, antisemitische Toyboy der Neuen Rechten Amerikas. Es ist ein immer wiederkehrender Traum, den der junge, weiße Mann träumt. Darin kann er, haargenau wie Yiannopoulos, einen Migrationshintergrund vorweisen, hat jüdische Wurzeln, wurde katholisch erzogen, bekennt sich offen zu seiner Homosexualität, und fühlt sich durch und durch einer weißen, männlichen und faschistoiden Vorherrschaft angehörig und von dieser geliebt und akzeptiert. Zugegeben, diese vom jungen, weißen Mann erträumte Identität erscheint selbst dem jungen, weißen Mann auf den ersten Blick, als eine etwas komplexe – gemessen an einer, von rechten Lagern üblicher Weise angestrebten Klarheit, was Identität betrifft, ist aber, auf den zweiten Blick ... ach was, der erste Blick reicht dafür eigentlich: ist also auf den zweiten, ersten Blick, gar nicht so schwer zu verstehen, kann man sie doch unter jung, weiß, männlich und rechts zusammenfassen. Außerdem ist rechts schon lange nicht mehr gleich rechts, aber, lassen wir das, denkt sich der junge Mann, denn er weiß, dass solche Erklärungsversuche längst überflüssig geworden sind, dass es längst im Mainstream angekommen ist, dass die Masse es längst verstanden hat, dass man sowas einfach nicht mehr wörtlich nehmen darf. Begriffe wie: arisch, faschistisch, islamophob, misogyn, antisemitisch, homophob oder auch ... pädophil. Das alles bedeutet doch im Kern etwas ganz anderes. Es sind Metaphern, die für die FREIHEIT stehen. ENDLICH FREI SEIN! Das wünscht sich der junge, weiße Mann. Die von der Heuchelei der Linken, des Feminismus, der politischen Korrektheit geknechtete, weiße Männlichkeit endlich mit einem einzigen, aber dafür andauernden verbalen Round House Kick aus ihren Ketten befreien, wie Milo Yiannopoulos! ENDLICH GEFÄHRLICH SEIN! Das wünscht sich der junge, weiße Mann! Er möchte ein intellektueller Hooligan sein. Dabei wie Milo spitzbübisch schwul und männlich aggressiv! JA! Er will sich endlich alles nehmen dürfen, was ihm, dem jungen, weißen Mann, zusteht und DAFÜR geliebt werden! Und tatsächlich, es funktioniert: Je bunter es Milo treibt, je härter und hasserfüllter die Attacken werden, gegenüber allen – mit Ausnahme der weißen Männer natürlich –, je brutaler er in jede nur erdenkliche Richtung ausschlägt, desto liebvoller nimmt das Patriarchat seinen schwulen Sohn an die haarige Brust. Und das wünscht er sich, der weiße, junge Mann. Er will an die Brust genommen werden. Milo geht damit doch auch ganz offen um. Milo sagt doch auch frei heraus, dass er dankbar sei, für diese Liebe, dankbar, dass ihm das Patriarchat in Gestalt von Father Michael alles über diese Liebe beigebracht hat. Aber?! Was passiert da? Die Augen des jungen, weißen Mannes, rollen im Schlaf plötzlich hektisch die Lider rauf und runter. Der Traum des jungen, weißen Mannes nimmt eine unvorhergesehene Wendung! Die haarige Brust rückt in die Ferne, der junge, weiße Mann streckt verzweifelt seine Patschhändchen danach aus und zitiert eilig aus seinen Hassreden, aber vergebens, die starken Arme haben sich von ihm gelöst, endgültig.

TEIL 2

Der junge, weiße Mann findet sich in der Halle eines überdimensionierten Flughafens wieder, in einer unüberschaubaren Menschschlange vor einem Einreiseschalter, oder sagen wir lieber Ausreiseschalter? Das Herz des jungen, weißen Mannes schlägt ihm bis an den Gaumen. Er versucht sich so ruhig wie möglich zu fragen, wohin das Flugzeug, in das er gleich steigen wird, unterwegs sein könnte. Aus der Menschenkette zu brechen, um ganz nach vorn zu laufen und am Schalter den Namen des Reiseziels zu erfragen, umzudrehen, zurückzusprinten und sich verschwitzt und außer Atem wieder an der richtigen Stelle in die Schlange zu drängen, ist ein Gedanke, der ihn nicht loslässt. Aber weder das Rennen und Schwitzen, noch die Angst, nach seiner Rückkehr, von einem vielleicht nie erreichten und/oder gar nicht existenten Schalter, seinen Platz in der Reihe zu verlieren, passen zu ihm. Unschlüssig bleibt er stehen. Er kann sich einfach nicht mehr darauf verlassen, darauf, dass sie ihn, die vielen anderen, jungen, weißen Männer, die vor und hinter ihm in der Reihe stehen, auch wenn die jetzt so direkt keinen unfreundlichen Eindruck machen, dass, die ihn also nach dieser Aktion ohne Aufzumucken wieder in der Reihe akzeptieren. Nein, das ist vorbei. Gibt er sich auch nur ein bisschen Mühe und ist er auch nur ein wenig empathisch und versetzte sich auch nur ansatzweise in ihre Lage, wird ihm klar, dass er es selbst nicht tun würde: sich wieder akzeptieren. Also, wenn er doch an ihrer Stelle selbst herausfinden wollen würde, wohin er unterwegs wäre, und der Versuchung tapfer widerstünde, und wenn es sich jemand anderer, direkt vor ihm, plötzlich einfach so herausnähme aus der Menschenkette zu brechen und sich danach einfach dreist wieder zurückstellte. Nein, also das würde er sicher nicht akzeptieren. Was viel eher zu ihm passt, denkt sich der junge Mann erleichtert, und bleibt wieder stehen.
Der junge, weiße Mann geht also davon aus, dass niemand hier Bescheid weiß darüber, wohin sie, all, die jungen, weißen Männer, unterwegs sind. Eine unausgesprochene Tatsache, diese Unsicherheit. Trotzdem haben bestimmt alle eine gewisse Vorstellung davon, vom Reiseziel, von dem nicht sicher ist, ob überhaupt schon jemals jemand dort gewesen ist und/oder ob es überhaupt existiert. Sonst würden sie doch nicht hier stehen und warten, wenn sie keine Vorstellung davon hätten? Oder? Würden sie es trotzdem tun, stehen und warten, wenn sie sich nicht was Schönes dabei dächten? Würden sie nicht. Der junge, weiße Mann versucht sich also vor Augen zu führen, mit geschlossenen Lidern – ihr Inneres als körperinterne Bildschirme verwendend – was sich die anderen, jungen weißen Männer, in der Schlange vor und hinter ihm, so vorstellen, was das für ein Ort ist, für den sie sich hier aufreihen, um ihre Vorstellungen miteinander zu vergleichen und aus dem Vergleich, den Schnittstellen und Divergenzen, Schlüsse über den tatsächlichen Ort zu ziehen, darüber, was der junge Mann sich erhoffen und demnach später einfordern kann. Er öffnet die Augen aber schnell wieder, denn er hat keine Ahnung von den jungen Männern um ihn herum. Er hat ihre Blicke gemieden. Wie man das eben so macht, in Räumen mit vielen jungen Männern, die auf etwas warten. In Aufzügen beispielsweise, Straßenbahnen, Bussen, Zügen, d.h. in allen öffentlichen Verkehrsmitteln, aber auch in Fitnesscentern, Fußballstadien, Einkaufszentren, Krankenhäusern, Pausenhöfen, Museen, Altenheimen, eigentlich überall. Jetzt hat er allerdings keine andere Wahl mehr, wenn er sich einen Eindruck darüber verschaffen will, welche Vorstellungen die jungen Männer hier durch ihre Netzhäute, durch ihre Pupillen und Iriden – die sogenannten Regenbogenhäute ihrer Augen – hindurch, an ihre geschlossenen Lider projizieren, muss er sie eine Weile so unauffällig wie möglich beobachten. Die Männer, die hier ziemlich brav und zumindest äußerlich geduldig nacheinander auf die Einreise, bzw. Ausreise, warten.

Und mit einem Mal kommen sie ihm alle total bekannt vor! Es ist die Art von Vertrautheit, die in blankes Entsetzen umschlägt, sobald einem klar wird, woher man die Person kennt. Eine Vertrautheit, der von vornherein etwas Gruseliges anhaftet: Die unheimlich kindlichen Züge, die einem urplötzlich und fratzenhaft aus dem Gesicht eines fast bis zur Unkenntlichkeit gealterten Klassenkameraden anspringen, an der Kasse im Supermarkt zum Beispiel. Er will sich angeekelt wegdrehen, der junge, weiße Mann, bekommt aber immer wieder Zweifel, und muss reflexartig nochmal genauer hinschauen, in die Gesichter der Wartenden, und ZACK passiert es sofort wieder. Er hat sich nicht getäuscht. Jeder einzelne löst es in ihm aus. Dieses Kribbeln im Nacken, kurz bevor man die kindlichen Klassenkameradenzüge aus dem aufgedunsenen Kassierergesicht heraus wiedererkennt und einen das ganze ekelerregende Elend seiner Geschichte mit einem Schlag niederstreckt, die Geschichte des Klassenkameraden, der kein Schulfreund war, sondern der gemeinschaftlich Geächtete, über den jeden Morgen wieder, mit der unbarmherzigen Beharrlichkeit einer Schulglocke, ein neuer erniedrigender Spruch an der Tafel stand, den die Lehrer resigniert über die jahrelange Erfahrung mit kindlicher Grausamkeit, ohne wirklich hinzusehen, mit einem trockenen, staubigen Schwamm stumm wegwischten, bevor die Stunde losging. Dieses Kribbeln im Nacken, kurz bevor einem etwas sehr, sehr Unangenehmes wieder einfällt, zum Beispiel die Namen, mit denen der Klassenkamerad, der immer noch im faltigen Angestellten an der Kassa im Supermarkt steckt, betituliert wurde, Namen, die wirklich nicht als ein bisschen gemeine, aber doch noch lustige Kosenamen durchgingen, und die sich auf seinen – den Namen des Angestellten, der jetzt auch noch auf seinem Namensschild an seinem Kassierkittel zu lesen war – reimten, Namen, die, gerade weil sie, in verschnörkelter Kinderschrift, mit Kreide an die Tafel gemalt, auf den ersten Blick nicht danach aussahen, wie eine Ohrfeige in der Luft pfiffen, und durchs Klassenzimmer auf den jetzigen Supermarktangestellten zusegelten, an seinem Gesicht mit einem harten Schlag aufsetzten und einen roten Abdruck hinterließen. Der junge, weiße Mann hat sofort Lust den anderen jungen, weißen Männer um sich herum ins Gesichte zu schlagen, weil sie plötzlich genauso schauen, wie der Angestellte an der Kasse im Supermarkt, weil sie schwach sind, weil sie auf die Ohrfeige warten, weil er selbst einer von ihnen ist. Es überkommt ihn mit einer noch nie dagewesenen Heftigkeit, dieses Kribbeln im Nacken, kurz bevor man entweder zuschlägt oder geschlagen wird, kurz bevor klar wird, wer Supermarktangestellter, und wer derjenige sein wird, der dessen Namen an die Tafel schreibt. Der junge Mann versucht so wenig wie möglich zu blinzeln und gleichzeitig Augenkontakt zu vermeiden, denn so viel steht fest, es gibt keinen Ausgang aus dieser Halle. Der Traum ist noch lange nicht ausgeträumt.


Anna Gschnitzer — geboren 1986, lebt in Wien. Studium der Vergleichenden Literaturwissenschaften, sowie Sprachkunst an der Universität für angewandte Kunst in Wien. Ihre Stücke wurden u.a. an der Garage X in Wien, am Theater Konstanz, am Theater Rampe in Stuttgart gespielt. 2011 erhielt Sie den Jurypreis des Newcomer-Wettbewerbs am Theater Drachengasse, 2014 das Wiener Dramatik-Stipendium, das Jahresstipendium der Literar Mechana, sowie 2015 ein Kooperations-Stipendium der Akademie Schloss Solitude.

→ http://www.annagschnitzer.com