30. Mai 2018 — Demokratisierung

ich lese
schlanker staat
befragung des volkes

und denke
das kann unmöglich schiefgehen

ich lese
nuklearwaffenfreie welt
einsatz für verfolgte christen
aktive neutralitätspolitik
schuldenbremse
autochtone volksgruppen
deregulierung

und denke
dass mir das sehr bekannt vorkommt

ich lese
schutz der polizeilichen persönlichkeitsrechte
recht auf bargeld
wählerwille

das positive miteinander auf diesem kontinent

und denke 
da wendet sich alles zum guten es stülpt sich alles um
die weiche fleece-innenseite der dinge wird zum alles beherrschenden außen
ich denke ich werde enttäuscht

ich lese
die staatsbürgerschaftsverleihung
die man auch einbürgerung nennen kann
die staatsbürgerschaftsverleihung soll in zukunft NOCH feierlicher gestaltet werden

und denke
an die vergangenen zeiten

in denen die jugendlichen 

zu denen auch ich mich zählte 

diesen vorgang diese im privaten kreis ausgetragene feier also
kartoffelparty nannten
man brachte den glücklichen chips und wodka mit und

mit aufgemalten lachgesichtern verzierte knollen

was für eine wunderbare zeit
wir waren jung
wir hatten nichts
doch hatten wir einander
und den gemeinsamen traum von unsren deutschen ländern
wir hatten also alles
alles mögliche

ich denke weiters
überall tost und rumort es im volkskörper
wie die ankündigung einer schmerzhaften flatulenz
die jeden niederstreckt in diesem aufzug den wir leben nennen
selbst den täter

ich lese
diesmal in einer zeitung

dass ein paar rebellische wendländer
einem polizisten vor seinem haus mit volksmusik aufgelauert haben

dass der staat polizisten auch dafür bezahlt
ganz gleich was die davon halten
aus einer menschenmenge heraus flaschen auf ihre kollegen zu werfen

auf dass die räumung schneller begänne

dass die irren jetzt noch besser weggesperrt werden können

dass man ein bisschen den überblick verloren hat über die anzahl
heimischer besitzer von handfeuerwaffen

ich lese
resilienz
nachhaltigkeit
effizienz

und denke
das ist fitspo pur
nobody ever regretted a workout
mehr denk ich nicht dazu

ich lese
einige fragen
nach dem sozialen frieden und
nach der doppelten staatsbürgerschaft

und träume
dass ich dem vaterland
hab doch nur das eine 
alles andere wäre ja unfair
ich träume also 
dass ich dem vaterland die angeborenen dellen wegknet
ihm zuflüster
keine panik
die hat doch jeder

das vaterland ist wie ein schönes ungeschminktes mädchen
dem wesen nach
ungeschminkt nicht ungepflegt
es trägt no-make-up make-up look
wenns nur seinen innren schweinehund überwindet
wenns nur die letzten fünf kilo verliert
dann ist es perfekt

ich lese
einschränkung der ärztlichen verschwiegenheitspflicht

bei grundversorgungsrelevanten erkrankungen oder einschränkungen

ich lese das hier alles alles auf 

vom bodensatz der tatsachen

also der sachen die getan werden

wenn nicht hier dann woanders

zum beispiel
bei uns

ich denke
dieser kontinent ist ein dorf
und zu den kennzeichnenden eigenschaften des dorflebens gehören bekanntlich
klatsch tratsch inzest versteckte verkrüppelte kinder auf den dachböden
wunderschöne landschaften die pflege des handwerks das bewahren des guten
unduldsamkeit dem fremden gegenüber
eine gewisse charakteristische unnachgiebigkeit die nur mit einem wunderbaren
auf eine eigentümliche art und weise schönen 
knorrigen eichenast verglichen werden kann

ich lese
brückenklassen
ankerzentren
außereuropäische rescue centres

ich lese
in einem anderen text allerdings
keine stelle die dich nicht sieht

und frage mich

wie das lager zum zentrum wird

und ob es seine innere mitte je zu finden vermag

ich lese
die unterwanderung durch feindliche kräfte muss um jeden preis vermieden werden
wir lassen uns nicht unterwandern

und denke
denke an familie x

familie x wird eingebürgert 


eine frau 

eine frau die verblüfft ist diese menschen nach all den jahren noch immer hier zu wissen und gleich auch noch als die ihren

eine frau die sich möglicherweise fragt was sie bloß falsch gemacht hat

eine frau weist die familienmitglieder an

ihre zehn finger auf einem winzigen fingergliedgroßen scanner abzurollen


dann kündet sie von einigen rechten und pflichten 

ob die iksens die haben wollen?

unbedingt! 

wunderbar
dann einmal hier hier hier und hier unterschreiben

die verhinderte abschieberin nickt also feierlich

oder genauer gesagt so dass man es auf englisch solemnly nannte 

und wünscht

viele viele jahre nach dem der erste x des vaterlands süße scholle mit seinem unwürdigen schuhwerk platttrat

die gute frau also wünscht den eingewanderten und den hier geborenen

wünscht allen iksens 
willkommen in deutschland


vier grundgesetze im din-a6 format 

deutsches institut für normung wir lieben auch dich denken die iksens

wechseln die besitzer

auf der rückseite unterhalb der dazugehörigen noten 

die dritte strophe des deutschlandlieds 



und die welt wird ganz kultur ganz sich selbst verschlingendes zuckerschlecken
ganz dörflicher friede

die schornsteine krachen zusammen
die gruben kollabieren

die erdbeeren metastasieren in den feldern


irgendwo nahe marl holt sich ein kind einen tennisarm

beim rühren des blutes für die wurst 

die blinden gehen 

die lahmen sehen

das inland in seiner alten wunderbaren unform kommt über sie

es könnte jedes sein 

am ende ähneln sie sich ja doch

doch es ist dieses einzigartig anormale beruhigende hier 

nur dieses

ich lese 
it is spring 

moonless night in the small town

starless and bible-black

you can hear the dew falling

and the hushed town breathing 



the one place of worship

with its neglected graveyard

is of no architectural interest

ich lese

du wälzt dich nicht 

mit grobianen kohlenschippern

deinen neugeborenen verhängst du
s
tatt sie abzutreiben 

kain oder abel zu sein


Enis Maci — geboren 1993 in Gelsenkirchen, hat Literarisches Schreiben und Kultursoziologie in Leipzig und London studiert. Sie ist Autorin der Theaterstücke Lebendfallen, Mitwisser und Autos sowie des Essaybands Eiscafé Europa (Suhrkamp, 2018).