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Neulich, im Viagra Falls:
Wie die fürstlichen Kammern vergangener Jahrhunderte Riesen, Zwerge und Einhörner ausstellten, waren hier wie jeden Abend Seltenheiten versammelt, die die Normalos sonst nicht zu Gesicht bekommen. Neben Männern mit Vagina, stillenden Müttern mit Bart, schwulen Kampftrinkern, Rollstuhlfahrerinnen an der Tabledancestange und einer Kellnerin, die aussah wie Justin Bieber, sah das staunende Pulikum ein Double der jungen Judy Garland als Dorothy Gale.
Und das war ich. Und ich dachte an dich, dachte, wann wirst du auftauchen? Heute läuft alles auf diesen Wettbewerb hinaus zwischen dir und mir. Denn dein Kleid und mein Kleid, deine Haare und meine Haare, deine Fähigkeit, als Frau durchzugehen, zu passen, und meine – sie stehen sich heute gegenüber. Und ich dachte an dich und fragte mich, ob du noch kommest, fragte mich, ob dein Eintreffen, so verspätet wie es war, aus taktischen Gründen erfolgte, oder ob die Angst vor dem Mißerfolg dich zurückhielt – oder der Mißerfolg an sich. Denn eins ist klar: Wenn du und ich nicht als Frau durchgehen, durchs Leben gehen, obwohl wir als Männer auf die Welt kamen, als Männer, die eigentlich Frauen waren, na, du weißt schon, wenn du und ich das nicht schaffen, ist alles zur Disposition gestellt. Dann ist, was die vergangenen Jahrzehnte an Mühsal und Verbitterung und Kämpfen brachten, nicht mehr wirksam, die Homobefreiungsbewegung, diese Hormonbefreiungsbewegung.
NICHTS?
IST?
MEHR?
WIRKSAM?

Neulich, bei maximaler Wirksamkeit: Männer, die als Männer auf die Welt kommen, die so über die Welt kommen, dass die Welt, wie du und ich sie kennen, zur Disposition steht, wie der Körper nie zur Disposition steht, der Uneindeutigkeiten, nein, der Unterlegenheiten vermeidet. Beim Eintritt in diesen erlauchten Kreis hier wird er also erst mal abgelegt. Das war ja einfach. Na gut, hatte eh mal vor, was andres zu probiern als diesen Körper, mit dem man ohnehin nicht weit kommt. Mit dem ich hier nicht weiterkomme. In der Mehrheitsmännerkörperhülle trittst du also ein in die Politik, um den Rückzug ins Private zu vermeiden, kommst rein in diese Politik des Miteinanders. Defending Austria and the rest of Germany semierfolgreich since 1938. Ehre wem Ehre gebührt und Freiheit wem Freiheit und Vaterland wems den Boden unter den Füßen wegzieht, wem der Boden wegsumpft, weil da immer was durchsuppt. Von früher? Ja, von früher. Und von der Welt? Ja, auch von der Welt. Und vom eigenen Irrsinnszustand? Ja, davon vielleicht auch. Farbe bekennen. Farben nicht erkennen. Es ansonsten nicht so genau nehmen mit der Blindheit. Geschichte neu schreiben. Das war ja einfach. Aber ist das jetzt die Liebe?
Loslegen. Zustechen. Aufnehmen. Fröhliches Miteinander.
Und jetzt?
Anpacken. Ausmachen. Anpöbeln. Anfassen.
Angreifen. Zutreten. Zuschlagen. Fröhliche Abgrenzung.

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Und die Tränen laufen herunter an den Fliesen, den Keramikfliesen auf der Toilette, dieser Toilette, die kein Geschlecht kennt, sie ist nicht das eine, nicht das andere, sie ist keins UND alle, sie kümmert sich nicht, doch die Kacheln, die Kacheln in diesem Raum, in dem es immer und ausnahmslos nach Rosen duftet, so wie du zwischen deinen Arschbacken, die Kacheln sind schwarz. Und nur wer sich nicht abwendet, von Ekel oder Desinteresse oder Langeweile oder Melancholie befallen, wer bleibt und hinschaut und sein Opernglas zückt oder seine Lupe oder sein Mikroskop oder das Gewissen der Augen, der kann jenseits des Schwarz sehen, daß das nicht nur schwarz ist.
Es ist Schwarz, nicht mehr als Schwarz. Es sind Buchstaben, und wir, die wir hier stehen, kennen sie nur in Schwarz.
Buchstaben stehen dicht an dicht, sie stehen so dicht bei einander, als hätten sie Angst, daß zwischen ihnen etwas hindurchschlüpfte, daß durchschlüpfte, wie sehr sie sich Schicksalen verschrieben haben, sie wollen kein Risiko. Jetzt, wo ich hinsehe und hineinsehe, was du siehst, wo ich hineinlese, was du liest, lese ich sie auch. Diese Geschichten. Es sind die Geschichten von Überlebenden.
Die Schwulen, die nach dem Krieg aus den KZs wiederkamen und auch dann nichts nachholen können und nicht ihre Trauer verbergen können.
Die Lesben, die endlich von ihren Männern befreit waren, und kaum sind die zurück von der Front oder aus der Gefangenschaft, geht ihre eigene Gefangenschaft wieder los.
Die Transidenten, die noch zehn Jahre nach der Befreiung vom Faschismus auf die Befreiung warten und auf der Straße angespuckt werden und auf dem Klo geschlagen und vergewaltigt und auf der Arbeit gedemütigt und ausgelöscht, die Fortführung der Vernichtungslager, noch zehn Jahre danach, noch zwanzig Jahre danach, noch dreißig Jahre, vierzig Jahre, noch fünfzig, sechzig, noch siebzig Jahre danach.
WHEN WILL MY LIFE END?
WHEN WILL MY LIFE END THIS?
WHEN WILL THIS END, THIS END TO A LIFE IN DIGNITY?
Wann wird sich mein Traum erfüllen?
Für diese Menschen, deren Geschichten in kleinster Schrift hier stehen, so klein und so dicht an dicht, daß niemand [NIEMAND!] sie lesen kann, daß wieder niemand sie lesen kann, für sie erfüllt sich ihr Trauma. Wieder und wieder.

Scary World Theory: Die Angst vor der Welt. Die Angst vor dem anderen. Die Angst vor Geschichte. Die Angst vor Verantwortung. Die Angst vor Mensch. Die Angst vorm Spiegelgesicht. Die Angst vorm Körper, der kein Heldenkörper ist. Die Angst vor Gemeinschaft, in Auflösung befindlich. Die Angst vor Ununterscheidbarkeit. Die Angst vor wo verläuft die Grenze. Die Grenze zwischen dir und mir? Nein, das war eine Metapher. Das war keine Metapher, das war nur ein Wort. Die Angst vor dem Wort. Die Angst vor dem Austausch der Wörter. Vor dem Austausch der Körper. Der Kampf der Körper. Körper bringen sich ins Spiel. Nichts aufs Spiel gesetzt. In den Kopf gesetzt, dass Angst immer einen Grund hat. Kopf an der Garderobe abgegeben beim Eintritt in die Volksgemeinschaft. Die große Verwechslung, wenn einer doch mal rauswill. Und da behaupte man noch, der große Austausch hätte nicht stattgefunden! Sich nicht austauschen lassen. Sich nicht auflaufen lassen. Geschichte auf und ab promenieren. Geschichten auf und ab deklamieren. Leben und leben lassen. Sich nicht ableben lassen. Vorsprechen. Absprechen. Abwehren. Abschlagen. Zuschlagen. Zutreten. Das war ja einfach. Aber wer blutet, lebt noch. Immerhin. Wem das Herz blutet, der lebt noch.

Und vorn steh ich und hab nichts an, doch, dieses Kleid.
Ich weiß, die Erinnerung will irgendwohin, doch ich will nicht mit. Das Denken muß irgendwohin gehen. Aber wohin?
Jemand betritt diesen Raum. Jemand, der mir verdammt ähnlich sieht, verdammt ähnliche hochhackige Schuhe trägt, verdammt ähnliche künstliche Wimpern schlägt, auf- und niederschlägt, jemand stolziert sehr, sehr langsam durch die Tür und sieht schon den Neid der anderen auf sich gerichtet, den Neid auf das Kleid, und setzt einen Stöckelabsatz vor den anderen, einen Stöckel vor den andere, einen Absatz vor den –, eine Zeile vor die andere.
Ein Scheinwerfer verfolgt mich, wie ich hereinkomme, in diesem Kleid, in meinem Palettenkleid, an dem ich das ganze Wochenende herumgeschraubt und gehämmert hab. Drei Europaletten, zwei Stahlseile als Träger, eine riesige Blamage.
Stand nun auf dem Flyer: Kommt in eurem schönsten Palettenkleid!? Oder waren es meine Augen, die Paletten aus den Pailletten machten?
Die Musik bricht ab. Die Blicke richten sich auf mich. Der Scheinwerfer hört nicht auf, mich zu verfolgen.
Ich steh hier, drinnen aber doch draußen, ich steh inmitten dieses Raums, der sonst meiner war, ich steh da, umhüllt von Holz und doch nicht, ich stehe draußen und hab nur die Wörter an.
Am Ende des Abends gewinnt das Palettenkleid nicht den Wettbewerb. Es wird auserkoren, zu sein, was sich alle hier so lange erhofften:
Das Denkmal für die ermordeten Transidenten, weltweit, durch alle Zeit.

Der Text ist ein Gemeinschaftsprojekt von Jörg Albrecht & Gerhild Steinbuch und entstand im Rahmen von "Die Palette", einem performativen Projekt von Greta Granderath im Hamburger Gängeviertel, 2017.

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