24. Mai 2017 — Demokratisierung

Ratschläge für einen guten Redner
Hauptsätze. Hauptsätze. Hauptsätze.
Klare Disposition im Kopf – möglichst wenig auf dem Papier.
Tatsachen, oder Appell an das Gefühl. …
Ein Redner sei kein Lexikon. Das haben die Leute zu Hause.
Der Ton einer einzelnen Sprechstimme ermüdet; sprich nie länger als vierzig Minuten.
Suche keine Effekte zu erzielen, die nicht in deinem Wesen liegen.
Ein Podium ist eine unbarmherzige Sache – da steht der Mensch nackter als im Sonnenbad …— Peter Panter, 1930

Herzlich willkommen zum persönlichen Statement, zur persönlichen Erklärung der persönlichen Stellvertreter_innen! Einen schönen guten Vormittag den geschätzten Medienvertreter_innen, den Zuseher_innen, auch denen im Livestream! Danke für Ihr Interesse! Wir haben Sie eingeladen zu einer persönlichen Erklärung, in der wir, die persönlichen Stellvetreter_innen Sie, sprich: die Öffentlichkeit, aber auch die vielen Wähler_innen und Parteifreund_innen, informieren wollen.

Wir alle haben verfolgt, wie sich die Ereignisse in den letzten Tagen und Wochen überschlagen haben. Es gab viele Streitereien. Mehr als uns wohl lieb waren. Und viele fragen sich jetzt zu Recht: Wie geht’s weiter? Wir können sagen: Die Republik gerät nach langem politischen Stillstand in Bewegung. Wir haben es uns nicht leicht gemacht. Politik ist immer auch ein Rendezvous mit der Realität. Wir sind Realist_innen. Wir haben einen Plan. In der Kommunikation zählt nicht die Absicht, sondern nur das, was beim Empfänger ausgelöst wird. Ein Teil des Nervensystems ist gegen den anderen aufgebracht, ein Körper gegen den anderen. Die Luft reicht nicht zum Atmen für beide. Aber ich darf Ihnen hier und heute versichern: Wir sind grundsätzlich Freund_innen der Klarheit. Der Dialog ist uns zumutbar. Politik hat uns immer Freude gemacht. Wir geben uns einen freudvollen Ruck, wir nutzen die Möglichkeit, die Perspektiven zurechtzurücken. Wir können nur für uns persönlich sprechen. Aus den angesammelten Erfahrungen einer Vergangenheit, deren Wiederholung wir in nächster Zukunft prophezeien, können wir sagen: Wir versuchen das zu tun, was wir persönlich als richtig erachten. Wir gehen mit der Partei im Rücken auf die Partei zu. Gehen wir davon aus: Hinter jedem Verhalten steckt eine positive Absicht. Die inzwischen Gegenwart gewordene Zukunft hat unsere Diagnosen und Befürchtungen bestätigt. Jedes Verhalten ist zumindest bei einer Gelegenheit nützlich. So haben wir bis jetzt immer versucht zu handeln. Auch ganz unabhängig davon, ob’s gerade populär ist, oder eben nicht. Sie werden sich fragen: Warum sind diese Wahrheiten plötzlich da? Diese Realitäten? Warum sind wir persönlich plötzlich mit all dem konfrontiert?

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Stressball „Welt“ — Sandra Gugić

Es ist vielleicht ganz einfach. Widerstand erfordert unsere Flexibilität. Man verwandelt sich vom Subjekt des Verdachts zum Objekt des Verdachts. Plötzlich wird man zum Star, zur Verkörperung der Manipulation, zur Figur der Verschwörung. Wir sind die üblichen Verdächtigen, die verdächtigt werden, besonders zynisch, besonders manipulativ, besonders geschickt und effektiv mit den Medien umzugehen. Absicht und Verhalten müssen nicht zwangsläufig übereinstimmen. Wir stellen uns hinter die bedrohte Mehrheit. Es mag überraschend sein, dass wir so lang damit gewartet haben. Es geht um Visionen und es geht um Geduld. Es geht um Leidenschaft, um Dankbarkeit, gegebenenfalls um Demut. Es geht hier nicht um persönliche Feindschaften, sondern um höchstwahrscheinliche Herabwürdigungen. Brutalbeleidigungen sind Antworten von gestern. Wir wählen stets die beste Möglichkeit, die uns im Moment verfügbar ist: So einfach wie möglich, so komplex wie nötig! Wir haben für uns persönlich in den letzten Tagen entschieden, dass wir diesem Stil, auch in diesen aktuellen und schwierigen Fragen, treu bleiben möchten. Bei allem, was wir tun, haben wir die Welt – nein, die Partei, immer die Partei, die Partei is our happy place – die Partei im Rücken. Eine Veränderung ist nur dann gut, wenn sie dem komplexen Gleichgewicht der Partei als ganzheitliches System gerecht wird. Wir werden mit der parteiinternen Regierungsmüdigkeit wie auch der Demokratiemüdigkeit umgehen, mit der Bedrohung der normativen Ordnung 1 wie auch mit dem allgegenwärtigen Zweifel. Und wir werden damit umzugehen wissen. Da ist der Hass der einen, dort die Depression der anderen. Das Außen sickert immer ins Innere, das Unbewusste hinter dem eigenen Denken oder der eigenen Imagination, dem eigenen Zweifeln. Das Unbewusste verfügt über kreative Fähigkeiten. Das Unbewusste organisiert Selbstheilungsprozesse: So einfach wie möglich, so komplex wie nötig! Wir können sagen: Wir glauben an die Partei Liebe. Dabei benötigen wir weniger Energie, um unsere Ziele zu erreichen, da keine Kräfte im Widerstreit der Wünsche vergeudet werden. Aber da ist immer noch das Außen: hier die Depression der einen, und dort die Zweifel der anderen. Wir können statt zu zweifeln etwas anderes tun, beispielsweise ins Theater gehen oder besser noch: ins Kino. Und wenn wir dann endlich mal im Kino sind, schlafen wir vor der Leinwand ein, um dahinter aufzuwachen, verschluckt vom submedialen Raum, tastend in der Enge dieses Raums, schweißgebadet wachen wir auf in einem Zimmer, und es ist so vertraut, es sieht so vertraut aus, aber vielleicht ist es ein Traum, vielleicht ist da etwas Furchtbares verborgen2, als wären wir in einem Hitchcock Film, wo wir in endlos langen Sequenzen des Alltäglichen und Normalen darauf warten, dass etwas Schreckliches geschieht. Im Grunde ist man dann unglaublich erleichtert, wenn es ENDLICH geschieht. Im Angesicht der Erfüllung der Erwartung des Schrecklichen können wir endlich glauben, was wir sehen. Als wäre nichts gewesen, als würde diesmal wirklich alles anders werden, bieten wir Ihnen stattdessen hier und heute Projektionsflächen für vielfältige Sehnsüchte.

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Aus: Sprache ist eine Waffe, Sprachglossen/Rowohlt — Kurt Tucholsky

Wir haben sieben Punkte formuliert. Es handelt sich dabei nicht um Bedingungen, sondern um Vorraussetzungen. Und nicht nur wir haben sieben Punkte formuliert. Als wäre nichts gewesen, als würde diesmal wirklich alles anders werden. Sieben ist die neue Glückszahl der Minimalkompromisse. Wir sind uns bewusst, dass das viele anders sehen als wir. Sieben ist die neue Losformel der weichen Machtverheißung. Es war immer ein Anspruch, auch mutig zu sein. Auf sieben stürmen wir die Kriterienkatalogeskapismuskatapulte. Wir haben gesehen, was alles geht und was alles möglich ist. Wir sind keine Platzhalter auf Abruf, bis irgendjemand Zeitpunkt, Struktur oder Konditionen festlegt. Das können Sie abhaken, das wird nicht so sein. Wir werden agieren. Wir ganz persönlich. Wir brauchen keine Doppelfunktionen oder verdeckte Strukturen. Wir haben die Führung übernommen, wir bleiben uns selbst treu, wir persönlich glauben, es wäre nur gut und anständig, auch da haben wir persönlich eine ganz klare Haltung, wir geben die Führung gegebenenfalls wieder ab: So wie’s war, so kann es nicht bleiben. Und es will ja wie immer niemand schuld sein. Es wurde gesagt: Wir sind die Männer der Mitte. In der jetzigen Situation macht das aber keinen Sinn. Wir finden, es ist genug. Wir denken, wir zweifeln3. Wir verdächtigen die Außenwelt, dass sie anders ist, als sie sich uns zeigt. Bei aller Freude bis zum gestrigen Tag: Wir geben zu, die Probleme sind vielfältig. Die Probleme können qualitative Probleme der jeweiligen Führungskräfte sein, könnten aber auch strukturelle Probleme sein oder auch die Notwendigkeit, unser Erscheinungsbild zu überdenken. Dabei ist es angebracht, die Dinge ins Maß zurechtzurücken. All das sind zu lösende Herausforderungen. Bei aller Freude bis zum gestrigen Tag: Wir denken an die Zukunft unserer Kinder. Verstehen bedeutet bekanntlich, „Jetzt weiß ich weiter“ sagen zu können.4 Es werden Entscheidungen getroffen werden in aller Verantwortung. Das hängt vor allem davon ab, ob unsere Entscheidungen mitgetragen werden oder nicht. Wir können sagen: Wir glauben an die Partei Liebe. Trotz aller parteiübergreifenden Querelen und internen Querschüsse: Wir wollen von der Partei Liebe sprechen. Es ist gesagt worden: die ParteiWelt ist eine Single-Bar geworden, in der wir abhängen, zu uns nach Hause gehen, Sex haben, einander niemals wiedersehen, uns nicht an die Namen der anderen erinnern können, wieder in die Bar gehen, und neue Leute treffen. Es ist gesagt worden: Wir befinden uns in einer Partei Welt ohne Bindungen.5 Im übrigen sind wir der Meinung, der letzte Satz vieler Diskurse ist: Ich bin überhaupt nicht betrunken.

Wir für unseren Teil vertragen ja nichts mehr, nicht die Langeweile und den Wahnsinn unseres Alltags, nicht das Rauschen der Informationskanäle, nicht die dramaturgischen Überspitzungen, nicht den Countdown der Klicks-Quoten-Aufmerksamkeit, nicht den Druck im Legitimitätsvakuum. Wir geben zu, das waren Tage und Wochen voller Überraschungen, wo eine Zeit lang eine gewisse Ratlosigkeit geherrscht hat. Aber dann haben wir mit klaren Aussagen wieder das Gesetz des Handelns übernommen. Wir ganz persönlich müssen rausgehen zu den Anderen, und das tun wir auch: wir gehen raus zu den Anderen, nein, wir sind ja die Anderen, zu denen wir rausgehen. Wir gehen also, und wir gehen raus, voraus. Mit der Partei im Rücken können wir national, international und elektoral Schockwellen standhalten, können wir uns steigern von Umfragehoch zu Hochrechnungshigh, in der Gegenwart gewordenen Zukunft können wir, die Partei im Rücken, auf die Partei zugehen. Ein großes Versprechen, das wir nicht einmal mehr aussprechen müssen. Denn es steht schon im Raum.

Peter Panter aka Kurt Tucholsky,— Sprache ist eine Waffe, Sprachglossen, Rowohlt

Unter freier Verwendung von Statements von: Eva Glawischnig, Christian Kern, Sebastian Kurz, Reinhold Mitterlehner sowie von Leitsätzen aus der Welt des NLP


  1. Ivan Krastev: Auf dem Weg in die Mehrheitsdiktatur, in: Die große Regression, Suhrkamp 2017 

  2. René Descartes 

  3. René Descartes 

  4. Wittgenstein 

  5. Ivan Krastev: Auf dem Weg in die Mehrheitsdiktatur, in: Die große Regression, Suhrkamp 2017 


Sandra Gugić — geboren 1976 in Wien. Studium an der Universität für Angewandte Kunst Wien und am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Veröffentlichungen (Prosa, Lyrik, Essays) in Zeitschriften und Anthologien, Arbeiten für Theater und Film. 2016 erhielt sie den Reinhard-Priessnitz-Preis für ihren ersten Roman Astronauten (C.H.Beck, 2015). Im Frühjahr 2019 erscheint ihr Lyrikdebüt Protokolle der Gegenwart im Verlagshaus Berlin.

→ http://sandragugic.com/