05. Oktober 2016 — Demagogie

… Schaut man dann genauer hin, was es für diese Kräfte bedeutet, die Ängste der Bevölkerung ernst zu nehmen, muss man unweigerlich an ein elterliches Schlafzimmer denken, in dem zu nächtlicher Stunde ein verängstigtes Kind auftaucht, das seine Eltern mit dem Ruf weckt, unter seinem Bett befinde sich ein Monster. «Bist du sicher», antworten die Populisteneltern, «dass es nur eines ist?» …
— Jonas Lüscher, Tagesanzeiger, April 2015

Ich bin die Abweichung, das Monster. Ich verkörpere das Andere, das Fremde. Alles, was als nicht normal gilt, wird zum Monströsen. Normalität ist eine Frage der Perspektive. Oder? Ich bin das Monster aka (lat.) monstrum, ich bin das Mahnzeichen, ich monstrare zeige, ich monere mahne, warne, in mir, wie in Wort und Bedeutung, verschmilzt das Wunderbare, Fabelhafte, Faszinierende mit dem schreckenerregenden Omen. Ich bin der Zerrspiegel des Ideals, dessen Abweichung. Idealbilder existieren in Vorstellungen, und nur dort. Das Individuum kann im Vergleich zum Ideal nur abnorm erscheinen: monströs. Je individueller, je monströser. Das ist einfach, oder? Es gilt das Hinschauen und Wahrnehmen neu zu lernen, nicht blind und taub und stumm zu werden, das Anliegen des Monsters ist, seine Augen zu öffnen, die Bilder zu sehen und zu sprechen. Bitte sprechen Sie nach dem Signalton. Das ist einfach, oder? Das Monster fragt: Ist es möglich, ohne Repräsentationen zu leben: ohne Metaphern, ohne Allegorien, ohne Zeichen, ohne Sprache, ohne Ideen, ohne Fragen, ohne Lügen, ohne Gerüchte, ohne Zweifel ... Ist es möglich, in die Abgründe unseres Sprechens abzutauchen, das beredte Verschweigen zu erhören, das Darüberhinwegreden zu erkennen, ist es möglich, sich die Wahrheit diskutierend und reflektierend oder gar jonglierend vom Leib zu halten? Wo ist die Grenze, wo der Moment der Umkehrung aller Gesetze? Jetzt bitte alle: Monster und Nichtmonster und Möchtegernmonster zusammen für ein schönes Erinnerungsfoto unserer Zeit: ganz vorne, in der Mitte, das Königreich des Ich, rechts die Supersouveränität und links die Gegengesellschaften. Wie jetzt, Gegengesellschaften? Hört und lest in der Freiheitlichen Fibel Für ein freies Österreich – Souveränität als Erfolgsmodell, Herausgeber: Nationalratsabgeordneter und Präsidentschaftskandidat Norbert Hofer, Autor: Michael Howanietz:

Grundlagen staatlicher Souveränität: Staaten und Völker sind in unserem Sprachgebrauch weitgehend Synonyme. Das Modell der Nation (von lat. nascere, geboren werden, entstehen) gründet sich auf der Abstammung der Bevölkerung. Nun mag mancher kulturelle Schwärmer einwenden, auch die zweite, dritte oder vierte Zuwanderergeneration sei im Land geboren. Das ist zwar geographisch korrekt, lässt aber ausser Acht, daß kulturfremder Zuwanderernachwuchs in über Jahrhunderte gewachsene Strukturen geboren wird, mit denen seine Erzeuger nichts anzufangen wissen. Dies tun in weiterer Folge auch die Kinder und deren Kinder nicht. So entstehen Parallelgesellschaften und, wie wir in Mittel- und Nordeuropa heute immer häufiger erkennen müssen: Gegengesellschaften.1

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Sticker, Hamburg, 2015 — Sandra Gugić

Das Medium massiert das Monster und das Monster das Medium: Zeigt uns endlich, wo GOTT und das Monster wohnen! Kommen wir zum Agenda-Setting der sehr geehrten Monsterifikationsexpertinnen und -experten: im Monsterifikations-PR-Sprech werden monstermäßige To-do-Listen geschrieben, das Rezept ist einfach und geht so: Komplexe Sachverhalte verknappen und vereinfachen, schlicht monstermäßig passend gemacht, dann alles gut durchrühren, mehroderweniger vorsichtig Dramatik unterheben und mit viel Emotion würzen, keinesfalls rasten lassen, kurz vor dem Anrichten liebevoll personalisieren. Für Sie und Sie und ganz besonders für Sie werden all die schönen narrativen Schablonen, Allgemeinplätze und Schubladen gemacht, damit Sie und Sie und ganz besonders auch Sie endlich verstehen, auf wen Sie mit dem Finger zeigen dürfen, für Sie und Sie und ganz besonders für Sie legen wir den Finger in die Wunde, aber nicht nur dort, überall tut es weh, vor lauter Zersetzung im Inneren und Bedrohung von Außen, es ist ganz einfach: Hier wohnt GOTT und dort wohnen die Monster. Einer muss ja sagen, dass das Geheure, sprich der Heurige, sprich die Heimat umgrenzt und bedroht ist vom Ungeheuren sprich den Fremden, die ganz sicher noch nicht beim Heurigen waren, und dort sind sie auch nicht Willkommen. Was heißt hier, es könnte auch anders sein? Was heißt hier offene Gesellschaft? Hier und nicht nur hier, international wird auf populistische Kirchturmpolitik gesetzt, vermischt mit nationalistischen Instinkten2, dass die Fundamente der globalen Ordnung nur so wackeln, da sind die Österreicher ganz vorne mit dabei, die selbsternannte Soziale Heimatpartei schwingt freudig Fahnen auf internationalen Titelblättern, die Hipster- nein Ipsterboygroup Identitäre druckt flotte Sprüche auf T-Shirts. Wir sind das Gesicht der neuen Rechten in Europa? Weit gefehlt, wir sind weder links noch rechts, wir machen uns bloß Sorgen, wir nehmen die Wünsche des Volkes ernst, aber weil Politik kein Wunschkonzert ist, ihr euch aber bestimmt noch wundern werdet, was alles möglich ist, halten wir uns an das prinzipielle Dagegenhalten und Nazisprech im Popkulturkleid, heute sagen wir nicht mehr Ausländer raus!, heute sagen wir stolz, dass wir Patrioten sind, die gekommen sind, das Abendland zu retten. Wir, die Verteidiger Europas laden schon bald zum ersten österreichischen Kongress3 gegen ethnoMonsterkulturelle Verdrängung der euroMonsterpäischen Völker ein, zur Leistungsschau der patriotischen, identitären und konservativen Arbeit. Einer muss ja!, die Völker, Traditionen und Werte beschützen gegen all die MonsterMonsterMonster, damit man in Europa nicht nur Bio kaufen und essen, sondern auch endlich wieder Biodeutsch, Biofranzösisch, Bioitalienisch etcetera sein darf. Jedem sein ganz individuelles, höchstpersönliches, selbstverständlich ganz normales BioEuropa! All das sind ganz natürliche Gefühle, wie die Liebe. Kommt dann auch wieder die John Otti Band, wie letztens, im Juni, beim Patriotischen Frühling? Kommt dann wieder der Marcus Horst Hubertus Pretzell und erklärt uns die Liebe, weil ja eben Frühling war und: Ein deutscher Patriot liebt, was Deutschland einmal war. Er liebt, was Deutschland einmal sein könnte.4 Oder kommt gleich die Frauke, weil die liebt er ja auch, der Marcus Horst Hubertus Pretzell, und die Frauke Petry bringt uns dann das neue Alphabet bei, das mit V wie Völkisch beginnt?

Mit Worten hat alles angefangen, mit der Grenze zwischen Worten und Leben und Worten und Taten, mit Worten wird alles enden. Am süßen Leim der Angst, an den (ablösbaren) Klebeflächen, an den Sollbruchstellen, dockt sich das Monster ans Material an, das andere gefunden haben, um es zu drehen, zu wenden, es einer Gesundenuntersuchung zu unterziehen, aus einer anderen Perspektive zu zeigen. Wollen Sie damit sagen, ich beziehe meine Weltsicht aus zweiter Hand, aus den Monstermedien? Schreien Sie jetzt los, skandieren Sie gar: StaatskunstMonster, LügenMonsterpresse? Welche Weltsicht setzt sich nicht aus MedienMonsterberichten zusammen, also: was wäre ein Weltsichtmonstrum aus erster Hand? Und aus welcher Hand? Die Hand die einen füttert, beißt man nicht!
Wo liegen die GrenzMonstren, UnterMonsterscheidungen und NorMonsterierungen, wo beginnen die Konstruktionen? Was sind Ihre VorMonsterstellungen vom Anderen, von NorMonsteralität? Ist es möglich, das Schweigen und das Schreien zu bannen, es hier und jetzt festzuhalten und zu verdichten, als eine Art Bindemittel. Ein Königreich für einen ordentlichen Kleber! Ein Königreich für ein ordentliches Monster!

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Salzburg, 2015 — Sandra Gugić

Es könnte sollte müsste würde alles so einfach sein, wenn es so wäre, dass: Die jeweils bestehende Ordnung ist das Gute und die Veränderung, der Wandel dieser Ordnung die Zerstörung.
Der rote Faden ist die Aufteilung der Welt, in schwarz und weiß, Feind und Feind und noch mehr Feind und was heißt hier Freund!, ich bin nicht hier, um Freunde zu machen, die Anderen, das sind die MonsterMonsterMonster. Das Konzept des Feindes generiert das Bild des MonsterMonsters. Was klammern wir dabei aus: kulturell, moralisch, politisch oder theoretisch? Wenn erklären wir zu den neuen Monstern? Vielleicht das sogenannte Kopftuchmädchen, die Burkafrau, die Burkinibadende? Weil: Wer sich verbirgt, hat monstermäßig etwas zu verbergen. Zum Beispiel: patriarchale Unterdrückungsstrukturen, religiösen Fundamentalismus, integrationsunwilligen Traditionalismus, einen Sprengstoffgürtel sogar.5 Es gibt nur Schönheit, Licht und Gerechtigkeit versus Chaos und Willkür. Alles Recht soll vom Volk ausgehen, aber wer dieses Volk ist, das will ausgesucht werden. Kein schöner Land für: Volksseelenverkäufer, Familienzerstörer, Sozialromantiker, Gutmenschen, Mulitkultis, etcetera, denn ein guter Tag beginnt mit einem knackigen Hass-Neologismus und Pop-Propaganda. Alles Recht soll vom Volk ausgehen, aber ihr seid halt nicht völkisch genug! Tut mir leid. Macht ja nichts, wenn das in den Vordergrund stellen von Mehrheitsrechten und Mehrheitsgesetzen Minderheitenrechte und Gleichbehandlungsrechte bedroht. Einer muss ja das völkische Volk sein, und die Anderen die Monster. In Zeiten politischer Verzweiflung, in these uncertain times, brauchen wir Monster, ganze Horden von Monstern, überhaupt und sowieso und im Übrigen:

Wussten Sie, dass Abweichungen von der Norm diese Norm in Frage stellen? Hier bin ich, die Abweichung, das Andere, das Fremde, ich stehe zu Ihrer Verfügung. Ich melde mich freiwillig als Monstrum, in mir, wie in Wort und Bedeutung, verschmilzt das Wunderbare, Fabelhafte, Faszinierende mit dem schreckenerregenden Omen. Denken Sie nicht, das sei einfach, aber es ist einfacher, wenn Sie denken. Pro futuro: Es gilt, das Hinschauen und Wahrnehmen neu zu lernen, nicht blind und taub und stumm zu werden, es gilt, die Augen zu öffnen, die Bilder zu sehen und zu sprechen, auch wir produzieren diese Welt. Bitte sprechen Sie jetzt. (quod erat deMonsterandum)


  1. http://nfz.fpoe.at/fur-ein-freies-osterreich-souveranitat-als-zukunftsmodell/37365969 

  2. John Chipman, International Institute for Strategic Studies (IISS) 

  3. http://europaeisches-forum.at/ 

  4. Zitat Marcus Pretzell / AfD im Juni 2016 auf der von der FPÖ organisierten Veranstaltung: „Patriotischer Frühling“, bei dem u.a. auch Marine Le Pen vom Front National, Michal Marusik aus Polen vom „Kongress der neuen Rechten“ (KNP), Gerolf Annemans aus Belgien vom Vlaams Belaang und Lorenzo Fontana von der italienischen Lega Nord teilnahmen. 

  5. Matthias Burchardt, Das Medium ist das Monster, 52/2013, APuZ Aktuell 


Sandra Gugić — geboren 1976 in Wien. Studium an der Universität für Angewandte Kunst Wien und am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Veröffentlichungen (Prosa, Lyrik, Essays) in Zeitschriften und Anthologien, Arbeiten für Theater und Film. 2016 erhielt sie den Reinhard-Priessnitz-Preis für ihren ersten Roman Astronauten (C.H.Beck, 2015). Im Frühjahr 2019 erscheint ihr Lyrikdebüt Protokolle der Gegenwart im Verlagshaus Berlin.

→ http://sandragugic.com/