nachrichten
aus marathon

Ein Gastbeitrag von Max Czollek
07. November 2018
27.09.17

der wechsel der jahreszeit als amnesie. dumpfer aufschlag fallender kalenderblätter. ich kann mich schon jetzt nicht mehr an sommer erinnern, ohne die brandflecken auf meinem sweater als schwarze löcher. schöner 27. september. wir laufen durch honiggelbe räume, tauschen plätze, bloß lyrik findet mal wieder keinen stuhl. stand schon auf dem schulhof in einer ecke und dachte nach, während die anderen steinschleudern spannten. schlechte nachrichten aus marathon. reise nach jerusalem. habe ich je verknüpft, worüber zu schreiben wäre und worüber ich schrieb?







28.09.17

ich kann diese spannungen zwischen israel und freddy mercury nicht lösen. das zwitschern in den gasküchen meiner kindheit. jewish pride. aus den medien wisst ihr, dass wir östrogen in das trinkwasser leiten. mit aba kovner waffen schleifen. am ende der reproduktionsfähigkeit des weißen, heterosexuellen, christlichen mannes arbeiten. ivo antic schreibt, erst der, der in beide richtungen zu blicken wagt, darf sich zeuge nennen. vielleicht müsste ich mir also öfter einen weißen spitzhut aufsetzen und fackeln schwenken. seit ich weiß, dass dichtung fliegen lehrt, trage ich die ironie wie blei an der hüfte.







29.09.17

ich sehe den vater vor jahren in der küche stehen und sagen: ich verkleiner meinen wortschatz und streich das wart noch. sehe mich im flugzeug nach portugal sitzen und sagen: ich ersetze hochzeitsbesuch durch asylantenstatus. diese kette aus kalenderblättern. das gefühl, als wäre beim reißverschluss der schieber kaputt. da plant die eine hirnhälfte die flucht, während die andere behauptet, dass man sie mit den füßen zuerst aus dem land tragen muss. wir werden nur noch mit tarnkappen tanzen und trinken gehen mit falschen bärten. ein leben lang songtexte gehört und nun bin ich so klug wie bibelforscher.







30.09.17

ist der himmel eine augenhöhle ist das meer eine innere blutung. den blick von den klippen wie zeppeline auf der suche nach menschenkonfetti, dass um schlauchboote verteilt. das licht der utopie fällt scheinwerfergleich, darunter heiraten zwei. verstauen zeilen von rumi in einer plastikflasche, schleudern sie auf das meer hinaus. das gefühl kauert mir im innenraum wie eine sphinx. wird schon wer finden, der damit etwas anfangen kann. angemessen wäre: das gedicht beschwert sich bei der welt, dass sie nicht seinen ansprüchen entspricht. angemessen wäre: die welt läuft aus dem ruder und das gedicht läuft mit.







01.10.17

sicher hat zweig in petrópolis nicht gefroren. und auf einer strandliege vor dem pazifik lag feuchtwanger, folgte einer cloud. in portugal baumelt die mittagsstimmung wie lampen in einer moschee. der pool türkis wie eine zweite schicht fliesen. darauf ein gummitoucan mit hängendem kopf. hohe urlaubstage als verbot, bis zum abend über politik oder arbeit zu sprechen. in der ecke ranken blüten wie feshüte. würde sie gern näher beschreiben, aber jede abbildung trägt mikroschichten farbe ab. darum werden wir alle als schwarz-weiß aufnahmen enden.







02.10.17

der koboldmakis muss seinen kopf bewegen, um zur seite zu sehen. seine augen sind schwerer als sein hirn. ehrlich wäre: uns geht es genauso wie ihm, mit starrem blick und beweglichem hals. also entzünden wir leuchtfeuer, lassen zugbrücken hinab und bringen die mauren zurück nach al-gharb. historische dehnübung, lyrisches yoga, entspannung vielleicht. zur blauen stunde leuchten die wolken wie umgestülpte gebirge. der gedanke, man könnte diese erde durch einen der glühenden wolkenpässe verlassen. und hätte mal keine ahnung, was anschließend geschieht.







3.10.17

ob es wirklich nur bei worten bleibt, ob wir singend durch buchenwälder, ob wir wieder an den fjorden sitzen ohne zu weinen, ob wir an meere fahren ohne die eigenen flucht zu planen, ob wir die leeren flaschen in den altglascontainer und nicht zur tankstelle, ob wir weiterhin nicht anstehen um dinkel, roggen, chia, weizen, ob die sicherheitszäune europas uns nicht einsperren werden wie armselige tiere, ob die freundinnen einen nicht verraten, ob wir schreien vor hoffnungslosigkeit, ob also geschichte unsere größte verletzung bleibt, steht noch dahin, steht alles dahin.








Max Czollek — 1987 in Berlin geboren. Mitglied des Lyrikkollektivs G13 und 2013 – 2018 Kurator des internationalen Lyrikprojektes Babelsprech.International. Mitherausgeber des Magazins Jalta – Positionen zur jüdischen Gegenwart. Seine Gedichtbände erscheinen im Verlagshaus Berlin, das unsachliche Sachbuch Desintegriert Euch! 2018 im Carl Hanser Verlag, München.