Nur eins. Ein Lied, unentschieden, aber gesungen.

Ein Gastbeitrag von Angelika Reitzer
27. März 2019

(1)
Ich unterhalte mich flüchtig mit einer Frau über einen Film, den wir gerade gesehen haben. Ein wenig später fällt mir ihr Name ein. Ungefähr zur gleichen Zeit schlägt mir (und ihr wahrscheinlich auch) Facebook vor, dass wir uns befreunden könnten. Sicher. Wir kennen das alle, es ist normal geworden, dass wir uns freiwillig orten, von Algorithmen in Zusammenhänge bringen lassen, manchmal miteinander „verbinden“, um uns dann wiederum lax über die Aufzeichnung unserer digitalen Spuren im Netz, deren Auswertung, den Handel mit ihnen zu beschweren. Bislang sind es vor allem stationäre Überwachungskameras, Standortinformation und Gesichtserkennungssysteme, die in rund vierzig chinesischen Städten eingesetzt werden, Drohnen werden wohl folgen. Hinzu kommt ein Sozialkreditsystem, das über jede einzelne Bürgerin, jeden einzelnen Bürger erstellt wird, das Verbot, Gerüchte zu verbreiten, die nicht von der Regierung freigegeben wurden (eine Form der permanenten Kontrolle und Zensur von Meinung und Meldung). Eine befreundete chinesische Künstlerin erzählt im März 2019, dass sie es nicht wagt, sich über ihren eigenen „Wert“ zu informieren – denn jede Abfrage kostet sie weitere fünf Punkte.

(2)
In derselben Nacht treffe ich vor einem Lokal in Graz H.M., der mit seinem kleinen Lastenrad Gebäck vom Vortag unter die Leute/Nachtschwärmer*innen bringt, ein paar Äpfel hat er auch in seinem Anhänger, aber für Obst ist es ein bisschen zu spät. Wir kommen schnell auf gemeinsame Bekannte, aber ausführlicher erzählt er von seinen Bemühungen, die Bedingungen für die Fortbewegung aus eigener Kraft zu verbessern, indem z.B. Radwege ausgeweitet und Spuren verlegt werden sollen, wofür mitunter Parkplätze weichen müssen. Die Fahrradbeauftragten verschiedener Städte sind seine Ansprechpersonen, aber nicht alle aus den Abteilungen für Verkehrsplanung machen sich die Mühe, ihm zuzuhören. Reaktion ist notwendig, aber wichtiger, darüber sind wir uns einig, bevor ich wieder hineingehe (leicht zitternd, es ist noch einmal kalt geworden in diesem März) ist es, die notwendigen Ideen und Visionen an die zuständigen Stellen, an die Öffentlichkeit und in die qualifizierte Nachbarschaft zu bringen, mit dieser zu teilen.

(3)
Alle senden alle empfangen
Immer wenn wir wach sind
Woll’n wir versorgt sein
Mit den Katastrophen von daheim
Aus aller Welt von überall
Eine viertel Sekunde braucht G-Ass
Für zehn Millionen Funde
Disaster Danger Truth
Isn’t a relevant class

Großbrand Skiunfall Lawine
Tick tick tickt der Einsatzticker
Auto in der Klamm ticktack
In den Bach gestürzt auf die Gleise tick
trick Tiefschnee tak
Über die Böschung gestürzt
Bewohner retten sich aus brennendem Haus
Gott seis gedankt tackt tackt der Tag

Für die Reichen gibt’s gute Nachrichten:
R ist größer als G
Ihr Vermögen wächst viel schneller als alles
Was arbeitende Hände schaffen
Sie brauchen nur zu warten
Vielleicht eine Shoppingtour
Nach Minen oder Bodenschätzen
Aber
R ist größer als G
Das genügt
Unser Reichtum ist die Ursache
Die Ursache

Wir wohnen in Amygdala
Wir reduzieren was kompliziert
Wir wissen über den Zustand der Welt
Signifikant weniger als Schimpansen
Disaster Danger Truth
Isn’t a relevant class

Wir senden immer und
Empfangen im Schlaf
Immer für immer schlimmer, wichtig
Daheim von allüberall
Falsch ist das neue Richtig
Disaster Danger Truth
Isn’t a relevant class

Wir wohnen alle in Amygdala
Halten uns an die Gefühle
Zuhaus im Mandelkern
Und weil ich drin bin
Bin ich immer Teil der Mehrheit

(4)
MEMO: Um das nächste Level zu erreichen, was überlegen (Bresche schlagen, ein Lücke, eine Loch in die Mauer, eine Richtung einschlagen oder eher abbiegen). Wir haben nur ein Leben (aber das!).


Angelika Reitzer — geb. 1971 in Graz, studierte in Salzburg und Berlin Germanistik und Geschichte. Nach diversen Arbeiten und Jobs im Kunst- und Kulturbetrieb lebt sie heute als Schriftstellerin in Wien und schreibt Prosa, Romane und dramatische Texte, zuletzt erschien der Roman Obwohl es kalt ist draußen (2018) und die Kurzfilm-Trilogie Woran wir uns erinnern von Antoinette Zwirchmayr mit Text von Angelika Reitzer (2017). Reitzer erhielt u.a. denOutstanding Artist Award für Literatur und den Literaturpreis des Landes Steiermark.
angelikareitzer.at