Politik der Emotion

Ein Gastbeitrag von Olga Flor
15. August 2018 — Demagogie

Politik der Emotion, Olga Flor,
— Residenz Verlag, Februar 2018 / gekürzter Auszug

In Twittergewittern

Im den Jahren 2017 und 2018 fällt es schwer, Hannah Arendts Ausführungen zum Thema »Die Lüge in der Politik« von 1972 zu lesen und sie nicht auf das »sehr stabile Genie« im Weißen Haus zu beziehen, das das Lügen, die permanente Selbstbespiegelung zum Selbstzweck erhoben hat. Doch das ist bei weitem keine Einzelposition in einer Welt, in der die politischen Machtverhältnisse die monetären widerspiegeln, und zwar ausschließlich diese, eine finanzielle Potenz, die sich in ungeahntem Ausmaß in den Händen einer kleinen Gruppe Superreicher konzentriert. Und die haben längst damit begonnen, die Politik nach ihren Vorstellungen zu formen, ob direkt wie in den USA unter Donald Trump oder indirekt durch Steuerumgehungen globalen Ausmaßes, deren Konsequenzen fatal sind – die Aushöhlung von sozialen Umverteilungsstrukturen und den für ein demokratisches Staatswesen wesentlichen Verwaltungs- und Gestaltungsinstanzen. Institutionen, die etwa noch eine Umweltpolitik umsetzen könnten, die das Ziel hätte, die Klimaveränderung zumindest einzubremsen und die Erde für die Nachkommen bewohnbar zu halten. Den entsprechenden Folgen – flächendeckende Verarmung der Unterschichten, von Alleinerziehenden und alleinstehenden, älteren Menschen, insbesondere von Frauen, Wegbröseln der Mittelschicht, Aufgehen der sozialen Schere, Umweltzerstörung und Klimakatastrophen ungeahnten Ausmaßes, Flucht und Vertreibung – soll dann mit scheinbar großzügigen privaten Sozialfonds entgegengewirkt werden, eine Großzügigkeit, die aber angesichts des weltweit eingesparten Steuervolumens nur noch lachhaft erscheint. Wobei sich die Vergabe der durch Privatstiftungen solcherart mit feudalem Gestus verteilten Mittel jeder Kontrolle durch demokratische Instanzen entzieht. Das scheint nur konsequent, denn das Rezept heißt Entsolidarisierung, natürlich immer unter dem Titel »Reform«: Verschlankung, Privatisierung, Deregulierung. Jetzt haben wir den Salat, wir Erdlinge. Überraschend ist eigentlich nur, dass mit immer demselben Rezept immer noch Neuerung behauptet werden kann.
[…]

Die unterdrückte Wahrheit

Einer der erstaunlichsten Aspekte der erfolgreichen emotionalen Selbstentleerung (bei der man so tut, als stülpe man das Innerste nach außen und direkt dem begierigen Publikum vor die Füße) ist die Behauptung, man drücke etwas aus, was ansonsten – von den »Mainstream-Medien«, der »Lügenpresse«, den »Experten« – verschwiegen würde. Interessanterweise reicht das als Nachweis der Glaubwürdigkeit für den jeweiligen Fanclub völlig aus. Überprüfung ist nicht nur aus naheliegenden Gründen unerwünscht, schon der Wunsch nach ihr wird wieder als Beweis für die Verlogenheit der Welt angesehen – das hat was von der Perfidie des Apostasiebegriffs: Das Hinterfragen des Wahrheitsgehaltes wird bereits als Verrat an der Idee betrachtet, Abfall vom Glauben an den einzigen, wahren, echten Glaubwürdigen, der dem Publikum unverfälscht nichts als die reine Wahrheit auftischt.

Entscheidend für den Erfolg ist zunächst einmal, dass man darlegt, eine bestimmte einzigartige Information könne nur durch die eigene erhellende Ausführung ans Licht der ansonsten irregeleiteten Öffentlichkeit kommen. Man steht also allein da mit einer Meinung, die aber präsumtiv jener der Zielgruppe entspricht, ist also doch nicht so allein, ist, im Geheimen, einer von vielen, wenn nicht der Mehrheit!, und zwar der schweigenden, die nun endlich nicht mehr schweigen wird – dazu braucht es Instinkt, da darf man sich nicht verschätzen, zumindest nicht in der Anfangsphase. Später, mit einer gewissen kritischen Masse, kann man eigentlich alles von sich geben, die wohlgesonnenen Zuhörer und Exegetinnen werden es schon recht zu deuten wissen.
[…]

Angst

Leicht ansprechbar und kaum verborgen ist die Angst der in einem globalen Maßstab immer noch klar privilegierten »westlichen Mittelschicht«, die Angst davor, Privilegien zu verlieren, denn im Untergrund glost da etwas: Immer heißer schwelt das Gefühl, auf Kosten der anderen zu leben, auf Lebenskosten der zu Arbeitssklaven marginalisierten Menschen, derer die globalisierte Wirtschaft zur Erzielung immer größerer Gewinnmargen bedarf. Werden die Arbeitskosten und die arbeitsrechtlichen Forderungen der Arbeiterinnen und Arbeiter etwa in China zu hoch, verlagert man Produktionen in billigere Standorte mit noch ausbeuterischeren Verhältnissen: Malaysia, Indonesien, und neuerdings wird von chinesischer Seite gerade der afrikanische Kontinent auch als Arbeitskräfteressource entdeckt, etwa Äthiopien.

Der Druck, unter den auch die in den europäischen Sozialstaaten gewohnten Sicherheiten geraten, wird immer offensichtlicher: Die Auswirkungen der gewissermaßen gesetzgebenden Macht des neoliberalen Hyperkapitalismus, der den Abbau von Sozialtransferleistungen massiv betreibt und betrieb, spürt man möglicherweise bereits im eigenen Haushalt. Die Entsolidarisierung wird jetzt Eigenverantwortlichkeit genannt, ein Zustand, in dem der und die einzelne gelernt hat, sich als selbst verantwortlich für das eigene ökonomische Schicksal zu sehen, und zwar ausschließlich!, eine Verantwortung, die jedoch nicht mit dem entsprechenden Einfluss auf die wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen einhergeht: All das macht Angst.

Der Umstand, dass man in vielen Weltregionen von lokalen Arbeitseinkommen gar nicht leben kann, erhöht den Migrationsdruck, wie Europa gerade sehr deutlich spürt. Diesem Umstand wollen europäische Regierungen unter anderem auch mithilfe von paramilitärischen Söldnerorganisationen zur Sicherung von Vorposten in Nordafrika entgegenwirken.

Unter dem Strich bleibt: Das freie Flottieren des Geldes ist politisch und wirtschaftlich erwünscht, das der Produktionsstätten und Arbeitsplätze ebenfalls – die wandern immer dem günstigsten Angebot hinterher. Die Mobilität der Menschen, die den Arbeitsplätzen folgen könnten, wird unterbunden: Wo bleibt sonst der Standortvorteil?! Dabei sind die zur Abwehr einer solchen »strukturellen Migration« angewandten Mittel auch auf europäischer Ebene äußerst fragwürdig.

Ja, man weiß im Grunde, wenn man der globalen Oberschicht angehört, dass dieses Ungleichverhältnis etwas Prärevolutionäres hat und man selbst bei Eintritt des erwartbaren Druckausgleichs auf der falschen Seite stehen wird, ça ira! – umso wichtiger ist es, die Augen vor dem Offensichtlichen zu verschließen und die Möglichkeiten der Marginalisierten zu verringern, sich einen gerechteren Anteil zu holen. Denn das wäre für die eigenen Interessen fatal, zumindest scheint das so, auf den ersten Blick. Sklavenmarktähnlicher Handel mit Migrantinnen und Migranten, wie jüngst nach Medienberichten in Libyen dokumentiert, wird von den europäischen Regierungen – und damit letztlich auch von der Öffentlichkeit, also allen Europäerinnen und Europäern – wissend in Kauf genommen, ganz ohne permanente Schamröte oder gar den Versuch, Konsequenzen zu ziehen und an den unmenschlichen (faktisch: sehr menschlichen) Verhältnissen etwas zu ändern. Die Unmenschlichkeit um des eigenen Vorteils willen scheint das Menschlichste überhaupt zu sein.

Die Vorstellung, Angst nur durch Abschottung und – konsequenterweise – mit der Waffe in der Hand in den Griff bekommen zu können, ist in ihren Auswirkungen verhee- rend, kann nicht anders als verheerend sein. Abschottung ist nur durch den Einsatz enormer struktureller Gewalt zu verwirklichen.
[…]

Neid

Als Gegengift zur Angst wird mit Neid gehandelt: Nichts scheint einfacher, um Wählerstimmen zu lukrieren, als den Neid zu bedienen, um dem Druck, den die Angst erzeugt, ein Ventil zu geben. So plante etwa die vormals als ÖVP bekannte »Liste Kurz« in ihrem Wahlprogramm 2017 für die österreichische Nationalratswahl, das bisher zuerkannte »Taschengeld« für Asylsuchende in der Höhe von 40 € im Monat an gemeinnützige Arbeit zu koppeln – bei bestehendem Verbot des Zugangs zum regulären Arbeitsmarkt.

Wenn man selbst den Eindruck hat, zu kurz zu kommen, dann kann man sich allerwenigstens darüber freuen, dass andere noch kürzer kommen, beziehungsweise durch das eigene Wahlverhalten dafür Sorge tragen, dass die ominösen »anderen« in Zukunft noch schlechter gestellt sein werden als man selbst. An der sozialen Unausgewogenheit ändert das naturgemäß gar nichts, aber man hat mal wieder Schuldige ausgemacht, die dem Publikum zum Fraß vorgeworfen werden können, und: das Publikum schluckt bereitwillig.

Das Ausleben von Neidgefühlen – beziehungsweise deren Kanalisation durch die Degradierung der anderen, denen nun (endlich!) verschiedene vermeintliche Privilegien wie die Grundsicherung weggenommen werden, das bewusste Gegeneinander-Ausspielen unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen – vermag bei der nun de facto privilegierteren Gruppe, die selbstverständlich nicht so genannt werden darf, tatsächlich ein menschliches Grundbedürfnis zu stillen, zumindest kurzfristig und rauschhaft. Es wird sogar in Kauf genommen, dass man selbst im Fall des Falles (dessen Eintritt offensichtlich als nicht realistisch eingeschätzt wird) weniger bekommen würde: Die Grundsicherung wird gekürzt, das Arbeitslosengeld an neue Bedingungen geknüpft und so weiter, all das ist in Ordnung, so lange nur sichergestellt wird, dass die ANDEREN, die Asylsuchenden, die Arbeitslosen, die Alleinerzieher und, anteilsmäßig wohl überwiegend, Alleinerzieherinnen, die, der bereitwillig geschluckten Doktrin zufolge, alle irgendwie selbst an ihrem Zustand schuld sein müssen, auch nicht mehr bekommen als man selbst, im Gegenteil: möglichst weniger. Dazu wird dann auch noch der Begriff »Gerechtigkeit« bemüht, doch statt Verteilungsgerechtigkeit ist hier eher eine Nivellierungsgerechtigkeit nach unten gemeint, die sozialen Transferleistungen werden nach unten korrigiert, was naturgemäß die Bedürftigsten am Härtesten trifft. Wobei viele der vorgeschlagenen Steuermaßnahmen zum Ausgleich dafür sorgen würden, dass denen gegeben wird, die ohnehin schon haben: Transfer, wenn schon, dann aber bitte von unten nach oben.

Es ist in der Tat erschreckend, dass das einzige, was zum Abschöpfen politischen Kleingelds anscheinend immer und überall funktioniert, das Bedienen negativster Regungen ist. Auch wenn es sehr viele positiv zu konnotierende Gefühle gibt und gab, die in den letzten Jahren, gerade in Europa, öffentlich ausgelebt und auch in der Praxis unter Beweis gestellt wurden – Hilfsbereitschaft, Großzügigkeit, Empathie, von Menschen, die andere unterstützten, bei sich aufnahmen und in manchen Fällen sogar für sie bürgten (woraus ihnen im Dezember 2017 in Deutschland ganz reale finanzielle Probleme weit über das absehbare Maß der Bürgschaft zu erwachsen scheinen) –, so ist nun anscheinend kollektiver Menschlichkeitskater angesagt, die Härte und Verhärtung gegenüber dem Leid anderer wird zur politischen Notwendigkeit erklärt und zur gesellschaftlichen Norm erhoben: Andersdenkende, anders – das heißt aus dem Gefühl der sozialen und mitmenschlichen Verantwortung heraus – Handelnde, werden als naiv, egoistisch (da sie sich, wie unterstellt wird, in ihrer Rolle gefallen) und sogar als sträflich rücksichtslos diffamiert: Die Helfenden zögen die Hilfesuchenden an, heißt es, und Hilfesuchende gilt es um jeden Preis fernzuhalten. Hilfsbereitschaft wird konsequenterweise zur gesellschaftlichen Dysfunktion erklärt, dieses Paradigma wird als pragmatische Notwendigkeit verkauft: Antihumanismus als neuer Pragmatismus.
[…]

Sprache

Es kann sicher keine Lösung des hier umrissenen Problems sein, Emotionen aus der öffentlichen Diskussion zu verbannen. Im Gegenteil, es braucht Raum, sie auszudrücken und zu benennen. Dazu bedarf es einer Sprache der Emotion, nicht einer der Gefühligkeit, die in Wörtern wie Heimat, einem diffusen Konzept des WIR, wahlweise auch EUCH, gerne in Großbuchstaben, Fremdes gegen das Eigene stellt und so weiter, Wörter, deren Umrisse schwammig sind und die deshalb beliebig mit Emotionen beladen werden können, ohne dass sie das zugrunde liegende Unbehagen, wie etwa das mit den sichtbaren Folgen der Globalisierung, der Ausbeutung der Umweltressourcen, der neoliberalen, auch wirtschaftlichen Vereinzelung benennen würden. Der Missbrauch von Emotionen, für welche Zwecke auch immer, muss ebenso klar als solcher bezeichnet werden. Die Emotion selbst allerdings muss von der Politik ernst genommen werden, ihre Ursachen untersucht werden und, sofern die Emotionen negativ sind, müssen Strategien entwickelt werden, die diesen Ursachen entgegenwirken. Der wachsende Unmut der absteigenden Mittel- und Unterschichten im Westen, die nicht nur das Gefühl haben, abgehängt zu wer- den, sondern auch tatsächlich in den letzten zwanzig Jahren wirtschaftlich unter Druck geraten sind, deren Einkommen und Perspektiven nach unten korrigiert wurden, wenn auch auf global vergleichsweise hohem Niveau, muss die politisch Verantwortlichen interessieren, wenn sie verhindern wollen, dass Menschen in Scharen den populistischen Vereinfachern zulaufen.

Da Politik sich neben Bildern nicht zuletzt über Sprache vermittelt, und sei sie noch so verkürzt, lohnt es jedenfalls, Sprache unter die Lupe zu nehmen, Wörter genauer zu betrachten, die im politischen Diskurs derzeit hoch im Kurs stehen, und die Menschen, die sie verwenden, zu befragen, was die Begriffe für sie bedeuten.
Demokratiemüdigkeit zum Beispiel: müde durch die oder in der Demokratie. Was würde denn weniger ermüden? Die Diktatur vielleicht? Und wenn, warum eigentlich? Was soll das bedeuten?

Man kann diejenigen fragen, die sich für starke Männer aussprechen, die gerne von sich behaupten, außerhalb des Systems zu stehen, die mit ihrem Publikum gerne auf Du und Du wären und gleich versprechen, in unserem Sinn zu entscheiden – nur wer sind WIR und woher kennen die, die sich auf den Plakaten so zutraulich präsentieren, unseren Sinn? Und was heißt es schon, in diesem zu entscheiden? Ob die Wählerinnen und Wähler der sogenannten starken Männer wirklich davon überzeugt sind, es wäre auch für sie ganz persönlich in jedem Fall besser und angenehmer, wenn jeder und jede, die etwas wollten und gar laut aussprächen!, was der starke Mann eben nicht für in unserem Sinn hält, mal eben mit Berufsverbot belegt oder ins Gefängnis verfrachtet würden, von Schlimmerem ganz zu schweigen? Glaubt irgendjemand wirklich, wenn schon, dann würde der Zorn des nunmehr Höchsten immer nur die anderen treffen, die Nachbarn, die Fremden, nie den eigenen Sohn oder die Schwester, nie die Mutter eines Freundes? Glaubt irgend- jemand wirklich, so vom Grund der eigenen Unsicherheit auf, dieser einmal erkorene Politiker, der einfach mal so richtig durchgreift, würde immer desselben Sinnes sein wie man selbst? Und könne sich folglich auch nicht gegen einen selbst wenden? Scheint es so undenkbar, dass der Durchgriff auf die Durchgriffheischenden selbst erfolgt?

Vermuten diejenigen, die sich so sehr nach dem Durchgreifen sehnen, es sei besser, nur einmal zu entscheiden, indem man den einen Menschen, meist den einen Mann, wählt, den man dafür für den geeigneten hält? (Schön wäre es schon, wenn einem jemand bei der Bewältigung der eigenen Überforderung mit der Gegenwart einfach helfen oder einem vielleicht gleich alles Unverständliche abnehmen würde, so eine Lichtgestalt, die man wählen kann, bis auch das überflüssig wird und die Gewissheit siegt, dass für alle gesorgt wird, für die einen so, die anderen anders.) Und dann, falls man sich geirrt haben sollte, wäre es besser, einfach den Mund zu halten und zuzusehen, wie das eigene demokratische Recht zunehmend eingeschränkt wird – ja, auch das Recht, auf die Straße oder den nächsten öffentlichen Platz zu gehen und gegen wen oder was auch immer, gegen die Eliten, die Aufnahme von Flüchtlingen, das Gen- dern, die Gleichstellung nichtheteronormativer Beziehungen, überhaupt diese ganze Rücksichtnahme auf angebliche Minderheiten, die manchmal, im Fall der Frauen etwa, sich dreist zu Mehrheiten auswachsen, Steuern, Handelsabkom- men, die Autobahnmaut oder Katzenfotos zu protestieren? Letztere stauben dem mobilen Endgerät der Wahl ja auch wirklich langsam bei den digitalen Ohren raus.

Das Wesen der Demokratie ist doch: Man kann sich verwählen, man kann sich irren als Wähler, als Wählerin, und man geht davon aus, dass ein solcher Fehler auch wie- der korrigierbar ist. Bei der nächsten Wahl. Dies geht aber nur, solange es noch eine funktionierende Demokratie gibt mit Gewaltenteilung, einem handlungsfähigen Verfassungsgerichtshof, einer unabhängigen Justiz. Wie fragil ein solches Demokratiekonstrukt ist, wie jung auch in der Geschichte, wie schnell man also diese demokratische Staatsform an den Fundamenten ansägen und anschließend durch Druck von oben zerstören kann, wird der staunenden Weltöffentlichkeit gerade von den Erdoğans, Putins, Orbans, der PiS und so weiter vorgeführt. Trump und seine On/Off-Mitstreiter wie Steve Bannon (und deren Geldgeber wie etwa der auch Nigel Farage nahestehende Milliardär Robert Mercer) haben ihr Werk begonnen, welche mittelfristigen demokratiepolitischen Folgen es für die USA haben wird, ist noch fraglich.

Um von all diesen Vorgängen aber überhaupt zu erfahren, braucht es vertrauenswürdige Plattformen, Medien, von denen man sicher annehmen kann, dass die dort präsentierte Information korrekt, der Hintergrund akkurat recherchiert ist, weil sie sich freiwillig journalistischen Ethikgrundsätzen unterwerfen: ja, die geschmähten Qualitätsmedien, gerade auch in ihrer elektronischen Form. Je schneller der Menschheit geschredderte Informationshappen um die Ohren fliegen, desto eher besteht auch die Hoffnung, dass die Qualität verlässlicher Nachrichtenquellen als solche erkennbar wird und die Bereitschaft des Publikums steigt, für diese aufklärerische Arbeit auch zu zahlen; tatsächlich ist seit der Inauguration des neuen amerikanischen Präsidenten die Zahl der Online-Abos der von ihm so gering geschätzten Medien deutlich angestiegen. Kritischer Journalismus erlebt offensichtlich gleichzeitig mit den Attacken auf ihn eine gewisse Renaissance, wie nachhaltig dieser Trend sein wird, bleibt abzuwarten, er gibt jedenfalls Hoffnung, dass die Mechanismen einer funktionierenden, demokratischen Öffentlichkeit wie- der klarer in den Vordergrund und ins Bewusstsein treten.

Wichtig ist also, sich der Qualität der in und von der Demokratie (also durch das geschmähte System) garantierten Auseinandersetzungsmöglichkeiten zu versichern und darüber zu reden, gerade auch mit jenen, die an deren Wert zweifeln. Sich mit Einwänden auseinanderzusetzen und ihnen Argumente entgegensetzen. Aufmerksam zu sein, wenn wesentliche Elemente des Rechtsstaats frontal angegriffen werden. Das Problem klar zu benennen, etwa konkret im Fall des polnischen Verfassungsgerichtshofs: Aushöhlung der rechtsstaatlichen Verankerung der Gewaltenteilung, der Achtung der Menschen- und Minderheitenrechte. Und natürlich auch, etwas dagegen zu unternehmen, etwa auf Seiten der EU-Instanzen, die einzigen, die auf nationale europäische Regierungen politischen und vor allem auch finanziellen Druck durch das Einfrieren von Förderungsleistungen auszuüben vermögen – und was wäre in ökonomisierten Zeiten wirksamer als die Sprache des Geldes?

Diskutieren, argumentieren, spezifizieren, Ansichten auch aufgrund besserer Argumente der anderen Seite revidieren oder nachjustieren, ohne die eigenen Grundsätze aus den Augen zu verlieren, all das ist mühsam. Demokratie ist anstrengend, und, ja, Anstrengung kann ermüden. Reden fordert und fordert heraus, doch es ist das Einzige, das meines Erachtens dem manifest drohenden Zerfall zivilisatorischer Übereinkünfte entgegenwirken kann, mittelfristig und nachhaltig.
[…]

Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Residenz Verlags

––

Ein Interview mit der Autorin führte Juliane Noßack im Rahmen des Blogs zur Konferenz. konferenz.nazisundgoldmund.net/blog/olga-flor-klare-worte-finden-auf-eine-politik-der-emotionen


Olga Flor — geboren 1968 in Wien, aufgewachsen in Wien, Köln und Graz. Sie studierte Physik und arbeitete im Multimedia-Bereich. Seit 2004 freie Schriftstellerin. Romane, Kurzprosa, Essays, Theater – und Musiktheaterarbeiten. Sie erhielt unter anderem den Anton-Wildgans-Preis 2012, den Outstanding Artist Award 2012 und den Veza-Canetti-Preis 2014. Nominierungen für den deutschen Buchpreis und den Alfred-Döblin-Preis. Zuletzt erschienen: 2015, Roman Ich in Gelb bei Jung und Jung; 2018, Essayband Politik der Emotion bei Residenz