Scheinschwuler Kommunistenaraber hochschwanger kauft sich Marzipan und fährt mit Opa Gau nach Land Marzahn, aber dann, aber dann die Vogelschar

Ein Gastbeitrag von Mehdi Moradpour
13. Juni 2018 — Rechtsterror

Basiert auf übertriebenen Begebenheiten

Frühling 2018, ich mag plötzlich Marzipan, Heißhunger, Gau nicht: „Alles! Alles! Esse ich“, sagt er, “außer Stein, Scheiße und Lakritz“, ich schaue ihn an, schaue ihn verwirrt an, und er, „ach so, ja klar, und auch Marzipan“, er lächelt, ich lächle, seine Brille rutscht von der Nase, meine nicht, „die Bügel leiern, die Haut fettet“, sagt er und dann:

– Heute fahren wir nach Land Marzahn
– Okay ... Ich arbeite manchmal dort, was hast Du Dir genau gedacht? Was soll da sein?
– Hast Du Lust auf eine kerndeutsche Wurst? Kennst du die „Nachtruhe“, den „Abgrund“? Sagt Dir zu die „Zerrissenheit“? Willst Du mehr wissen: von bierernster „Einsamkeit“?
– Hm, okay, ja, so wie abgemacht, aber warum fahren wir so weit?
– Fühlst Du Dich denn nicht manchmal bereit, die Kontrolle zu verlieren? Ja oder nein?
– Ja, Opa, ja, okay, aber eigentlich jein, wir wollten doch

Und da unterbricht er mich: „Mein Scheinschwuler Kommunistenaraber hochschwanger, es war ja ausgemacht, dass...“, und da fahre ich dazwischen mit „Du Gau“, so nenne ich ihn auch manchmal, viel öfter als Opa, und schiebe noch hinein:

– Schau! Wir hatten schon „Mutterkreuz“ und „Abendbrot“, „Männerchöre-FKK“, und hier, bei unserem Spanier wollten wir heute Kaffee trinken und lesen; Zahlen, Daten, Anekdoten; Kaffee und Leseragout

Und er unterbricht mich wieder, schiebt seine Brille hoch und sagt, „Ja ... ich weiß, Duh, ja ich weiß, aber wir können auch dort „Kleinstaaterei-Vereinsmeierei“ an so on, you know? Und ich:

– Warte doch, warte doch lieber Gau, wir wollten uns doch in „Die Deutsche Seele“ hineinbegeben, so richtig immersiv „Richard Wagner/Thea Dorn“, so richtig Federlesen und Fernweh, dann German Angst und German Loch, und nächste Woche Gramsci und Sojourner Truth
– Und nicht vergessen: in der Woche drauf: Lustbazillen und Vatertränen
– Ja, aber hmm, aber jetzt, also nach Land Marzahn außerdem und darüberhinaus?

Eigentlich möchte ich sagen, „hm, um ehrlich zu sein: jein“, aber ich sage, „Okay, ja, was soll's, Du bist heute dran“, und sehe wie er seine Stirnglatze als eine liebevolle Geste zu glätten versucht:

– Und noch etwas: Duuh, ich weiß, ich weiß es, die größte Angst nach der Angst vor dem Tod scheint die Angst vor der Langeweile oder Ordnungsliebe zu sein, sogar größer als die Angst vor der Angst nach dem Tod
– Sag doch nicht ständig „Tod“, Du weißt, ich bekomme auf einmal Lust auf Reimerei, also auf Brot, und das stopft
– Ja Ja, okay … vielleicht willst Duuh aber deswegen nicht mit Gau nach Land Marzahn, also wegen der Angst vor Langeweile und so, aber: ich verspreche, ich verspreche es, ich werde bei Dir sein, und wir können dort ein neues Kapitel lesen, zum Beispiel „Vater Rhein“
– De acuerdo

Sage ich und merke, dass er heute das „Du“ mit einer besonderen Sänfte ausspricht, keine Ahnung warum, und auch das „Dir“, sage ich mir, so, als würde er „u“ und „i“ etwas länger ziehen, als wäre „Du“ ein „Duh“, „Dir“ ein „Diir“ oder so, denke ich mir und biete ihm ein Stückchen Marzipan an, „Rosenwasser“, sagt er, „mit Puderzucker“, sagt er, ich atme tief, stecke mir einen Handschuh in den Mund und sage etwas, unverständlich, es ist Frühling, aber wir tragen Handschuhe, das machen wir immer, wenn wir zusammen lesen oder spazieren gehen, das hilft uns zu kommunizieren: immer wenn wir merken, dass wir das Gegenüber oder andere beleidigen wollen, stecken wir schnell einen Handschuh in unseren Mund, ich sage also etwas, unverständlich, ziehe den Handschuh wieder raus:

– Okay, dann lass uns danach diesen Themenpark besuchen, die Themengärten, diese Gärten der Welt, mit ihren Themen
– Guut … aber wie kommst Du darauf?
– Da hat meine Schwester geheiratet

Das möchte ich eigentlich gar nicht sagen, aber ich sage es eigentlich, und er:

– Sicher im orientalischen Garten, nicht?
– Ja … die Trauung war im orientalischen Saal, das wollte ihr Mann, er ist Deutscher, also sie auch, also Deutsche

Das möchte ich eigentlich auch nicht sagen, aber ich sage es eigentlich, leicht nervös, und dann:

– Und dann waren wir spazieren, im tropischen Garten, Bananenpflanzen, riesige Benjaminis, also Birkenfeigen, sagt man Ficusse?! Luftige Tempel, XXX, und es ist so: ich fühle mich eigentlich außerdem richtig sehr wohlig in den Tropen

Jetzt merke ich, dass ich den Ch-Laut mit etwas Nachdruck ausspreche, aber das ist okay, sage ich mir, das ist eben ein Reibelaut, denke ich mir, eine Wärmelaut also, und merke, auch ihm passt irgendwas nicht:

– Meins ist es nicht, also die Birke schon, aber die Tropen, hhm, zu warm, zu schwül, da rieche ich wie meine Reitgummistiefel, also Gummireitstiefel, schwülwarm, lieber nicht, aber diese Gärten mag ich, da haben wir in unserem kleinen Land Marzahn die ganze Welt zuhause, die gärtnerische Welt, den Renaissancegarten, den christlichen, den japanischen und eben auch den orientalischen, sogar einen Irrgarten, Gärten, überall Gärten, eigentlich mag ich sie, aber wie wäre, aber wie wäre es mit einem Waldspaziergang, anstatt Gärten
– Hm, ja, mir neu, aber ja

Also gehen wir der städtischen Waldwanderlust nach und nach einer Weile sind wir da, mitten drin, in dem großen, finsteren, deutschen Wald, der, wie Gau mir verrät, von den Deutschen so dicht gepflanzt wurde, damit sich französische Soldaten darin zu Tode fürchten. Wir sehen Wölfe, Hexen, kleine Mädchen, die ihren Großmüttern Kuchen und Wein bringen wollen; begegnen Siegfried, Don Giovanni, Schopenhauer und anderen Waldgängern … und dann ... und dann … Bumbum! Bumbum! Und wir hören aus der Ferne Geräusche, zuerst leise und gedeckt, dann dumpf, aber lauter, und nach und nach, und nach und nach ein Hallen, ein Schallen, ein Tönen und Dröhnen, immer lauter, immer lauter …
Und plötzlich ruft Opa Gau: „Schau! Ein Vogel, noch einer, und viele noch, schau!“
Und ich sehe einen Spatz, eine Taube, eine Nachtigall und einen Pfau
Und Gau: „Doktorvögel und Rosalöffler, wow!“
Und ich: „Falke, Taube und Papagei da!“

Im selben Moment setzt sich ein Klunkerkranich auf den Baumwipfel, dann ein lachender Hans neben einen Schuhschnabel, der gegenüber einem Brillenpinguin steht, der mit einem Steißhuhn schmust, das vor einem Unglückshäher neben einer stachligen Kaktuszaunkönigin sitzt, die gegenüber einem hawaiianischen Kleidervogel tanzt, der ganz oben über einer Himalayawachtel liegt und nach unten blickt.
Als wären sie aus allen Winkeln der Welt herbeigekommen nach Land Marzahn, abertausend lebendige Vögel, aber auch einige hunderttausend Schatten, und plötzlich, plötzlich geht ein Zwitschern, ein Pfeifen, ein Gurren durch die ganze Vogelschar, ein wildes Durcheinander lässt alle Bäume erbeben, und der Opa, der Gau, er ruft vor lauter Aufregung wie in Dauerschleife nur noch: „Der Fink, der Papstfink, schaut, er ergreift das Wort, dort dort! Er, das Wort, dort, der Fink, der Papstfink ...“:

„Hey ihr tollen Vögel, wir sind im Land Marzahn!
Weit war die Reise: Hört zu, hier ist mein Plan!
Ihr, der Erdgebilde höchster Schatz!
Willkommen an diesem Heiligen Platz!
Fliegt hoch, kommt näher, zu hören ist folgende Sentenz!
Lasst ganz locker, denn jetzt beginnt: DIE VOGELSCHISSKONFERENZ!
Habt ihr alle euer Abführmittel genommen?
So lasen wir die Symphonie ertönen!“

„Und du da“, ruft mir der Fink zu, „ja, du, der Schwangere da, husch husch weg“, er spricht mit mir, er spricht zu mir, verdammt, denke ich, wirklich, sage ich: „weg!, habe ich gesagt, husch husch!, habe ich doch gerufen“, ich traue meinen Augen nicht, und frage Opa Gau:

„Hey Gau, hörst Du das auch?“

Aber er, wie gezaubert, schaut mit offenem Mund nach oben zum Baum und ruft wie gebannt:

„Der Fink, der deutsche Fink, er spricht, der Ozean meiner Seele, meiner deutschen Seele bewegt seine Wogen, auf tausenderlei Art: Wie sollte ich da auch nur eine Sekunde lang schweigen? Der Fink, der spricht … “

Ich höre Geräusche wie aus Kanonenschüssen
und renne weg
als würde eine Vogelschar viele feuchte Blähungen abgehen lassen
und renne weg
als würde ein ganzes Bataillon
und renne weg
schießen, feuern und böllern
und renne weg

Ich höre: „Ihr Vögel, wir brauchen mehr Schwung, wer hat ein Instrument?“
Dann drehe ich mich um und sehe
ein braunes Gau-Monument


Mehdi Moradpour — Mehdi Moradpour | DEU Autor, Übersetzer, Dolmetscher (Farsi, Spanisch) | 1979 in Teheran | Studium Physik, Industrietechnik (Iran); Soziologie, Hispanistik, Amerikanistik, Arabistik (Leipzig und Havanna); FORUM TEXT (Graz) | 2015 Jurypreis des 3. Autorenwettbewerbs der Theater St. Gallen und Konstanz für "mumien. ein heimspiel“, 2016 exil-DramatikerInnenpreis für "türme des schweigens", 2017 Grabbe-Preis für „reines land“, 2018 Übersetzungspreis eurodram für „ein körper für jetzt und heute“ | 2017/18 nahm er am Projekt »Krieg im Frieden«, einer Kooperation des Literarisches Colloquiums Berlin, Maxim Gorki Theaters, Neuen Instituts für Dramatisches Schreiben und der Robert Bosch Stiftung teil |Arbeiten an der Deutschen Oper Berlin, Maxim Gorki Theater, Münchner Kammerspiele, Schauspielhaus Wien