13. März 2019 — Rechtsterror

oder: Weshalb Jan Bonnys Film Wintermärchen ein notwendiger Kommentar zu rechter Gewalt ist

Ein anhaltend flaues Gefühl durchfuhr mich im vergangenen Sommer, als ich den Film Wintermärchen beim Filmfest in Locarno sah. Nach der Uraufführung wollte man endlich wieder atmen, doch es war zu heiß gewesen an diesem Tag am Lago Maggiore und es trug sich so zu, wie es der Festivalleiter Carlo Chatrian einführend benannt hatte: Der Film von Jan Bonny sitzt wie ein Schlag in die Magengrube. Schweigen, sprachloses Entsetzen, Erstarrung – und ein Vernehmen von Dringlichkeit, über das Gezeigte schreiben zu müssen.

Direkt gesagt: Die Thematik des Rechtsradikalismus in Wintermärchen, ausgeübt von einer Frau und zwei Männern, steht unausweichlich in Relation zu den Verbrechen des Nationalsozialistischen Untergrunds, welcher um 1999/2000 die gezielte Ermordung von deutschen Bürger*innen ausländischer Herkunft und Migrant*innen aufnahm.

Es ist sogar sehr wichtig, diese Verbindungslinie zu sehen, weil sie die Gedanken zu einem realen Geschehen zurückführen lässt, dieses als solches in seiner Form kritisch erkennt – und tatsächlich kann man sich gar nicht genug vergegenwärtigen, welche Attentate in erneuter Berufung auf nationalsozialistisches Gedankengut in den letzten Wochen, Jahren und Jahrzehnten immer wieder in Deutschland verübt wurden.

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© Heimatfilm

Mit solch einem Bezug, der in vielen Szenen des Filmes unverkennbar ist, wird – mit Susan Sontag gesprochen – als Indiz klar umrissen, „dass Menschen so etwas eben mit anderen Menschen tatsächlich machen.“1 Über die reine Tatsache, dass rechte Gewalt existiert, weist der Spielfilm Wintermärchen2 aber insbesondere hin auf ein Denken, das sich seit der Fußballweltmeisterschaft 2006 in den Köpfen vieler Deutscher gewandelt hat und wieder zu mehr Nationalstolz führte: Das Sommermärchen, wie es aus den Mündern vieler Bewohner*innen der Bundesrepublik tönte. Während Sönke Wortmann sich mit seinem Dokumentarfilm Deutschland. Ein Sommermärchen noch im selben Jahr dem Hype um den Fußball, die deutsche Nationalmannschaft und dem offen gelebten Nationalfieber zuwandte, zeigten Künstler wie Gregor Schneider mit der Video-Installation Sommermärchen 2014 Rheydt,3 wie sehr der erneut aufflammende Nationalstolz sich auf deutschen Straßen in Zerstörungslust und Anarchie auszudrückten vermochte.

Jan Bonny und Jan Eichberg, die im Dialog miteinander das Drehbuch für Wintermärchen verfasst haben, knüpfen an diesen Paradigmenwechsel in den Köpfen der deutschen Bevölkerung an – und zeigen auf schonungslose Weise was es heißen kann, sich als Mensch bis weit über jegliche Grenzen hinaus einer nationalen Selbstgefälligkeit hinzugeben.

Ein Film, dessen Körper um drei provokante Charaktere kreist

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© Heimatfilm

Direkt zu Beginn des Filmes wird deutlich, dass es ein Gewissen gibt: Es ist Tommi (gespielt von Thomas Schubert), der im Selbst-Widerspruch und im Zwiegespräch mit sich steht, wenn er einem Jungen im Park sein Herz ausschüttet und erklärt: „Ich bin keiner von den Bösen“.

Da war der Versuch eines Studiums, doch die Einblende vom Betreten eines Hörsaals und die unmittelbare Kehrtwende zeigt den Zweifel, die Angst vor dem Ungenügen und das Scheitern, das Tommi verfolgt und seine Flucht ins Unbestimmte und in den persönlichen Schatten bekräftigt. Er wendet die Verachtung sich selbst gegenüber im Verlauf des Filmes an anderen Menschen an, jedoch nicht aus Eigeninitiative.

Gekoppelt ist seine Wut und die Bereitschaft zur (Selbst-)Zerstörung an die Zuneigung und das Versagen gegenüber der Frau, die er zu lieben glaubt, und mit der er im Untergrund lebt: Becky (gespielt von Ricarda Seifried). Tommi verkörpert die Figur des „Mitläufers“: zunächst durch Becky, der er sich beweisen möchte und für die er sich zum Morden hingibt, verstärkt dann in Konkurrenzposition zu und durch seinen Freund Maik (gespielt von Jean-Luc Bubert), den er in die stagnierende Lebensrealität von Becky und sich einbezieht. Getrieben von einer Obszönität, die sich sexuell wie gewaltvoll-brutal im Morden entlädt, wird Maik zunächst zum Rivalen Tommis doch zunehmend zum Partner-in-Crime: Er vereinnahmt Becky und dominiert Tommi, indem er als potentes Extrem auftritt.

Becky wirkt in allem impulsgebend: Sie hält die Begierden zusammen, sowohl bezüglich der Planung der Morde, als auch innerhalb der sich im Verlauf des Films entwickelnden Dreierbeziehung; sie erniedrigt Tommi und befähigt Maik zur Überheblichkeit und Selbstverherrlichung. Ihr eigenes Handeln folgt dem Motiv der Abgrenzung – zur eigenen gutbürgerlichen Herkunft, zu den Erwartungen ihrer Mutter, zu ihrer Persona Rebecka. Sie zerstört das Bild, das ihr angetragen wird, durch Grenzüberschreitung: Aus Rebecka wird Becky.

Auch Tommi sieht sich (u.a. durch Maik) herausgefordert, zwischenmenschliche Grenzen zunehmend zu überschreiten, die bis hin zum gewaltvollen und skrupellosen Morden führen, auf das er sich von Aktion zu Aktion mehr einlässt. Becky fühlt sich durch Maik – und durch Tommis Eifersucht, den sie nun aktiv aus ihrem erotischen Leben ausgrenzt – zunehmend bestätigt und verübt ihre Begierde am Extrem zwischen egoistischer Lust und impulsivem Starrsinn, welche sie zu keinem Zeitpunkt hinterfragt und die durch Maiks Radikalität an Intensität und Absolutheit zunimmt, ja schließlich auch sie zum eigenhändigen Morden führt: mit einem Zerstörungswillen gegenüber allen Menschen, die keine „Deutschen“ sind.

Ihr Leben als Akteur*innen in einem kollaborativen Netz ereignet sich dabei so, wie sie als Projektionen ihrer selbst bei einer Karnevalsparty auftreten: als gebrochene, marionettenhafte Figuren in einem Raum, der von Stunde zu Stunde sinnfreier wird.

Lust als Quelle der Zerstörung

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© Heimatfilm

Becky wird zum Mittelpunkt, um den sich der Kreis in immer kleiner werdenden Radien schlägt. Ihre sich zunächst von Tommi auf Maik verschiebende, dann im Kollektiv hedonistisch verkörpernde sexuelle Wahl wird zum Sinnbild eines übergeordneten Ziels der Selbstverwirklichung – die sich in ihrem Charakter vordringlich als Obsession ausdrückt. So wird zunächst für Becky, mit zunehmender Dramaturgie aber auch für Maik und Tommi erkennbar, dass ihr – gemeinschaftlicher – Anspruch, Deutschland für sich haben zu wollen, aus einem inneren Überfluss heraus, nämlich aus Lust entsteht.

Durch Anhäufung der gemeinsamen Taten und Attentate, gegenseitiger Erniedrigungen und Verletzungen sowie der zunehmenden Lust am Selbst entwickeln alle drei Protagonist*innen eine Dynamik des Obszönen, in der rechtsradikale Gewalt und sexuelle Begierden zu einem einzigen Körper der Lust verschmelzen. Ein brutaler Körper der Lust, der durch Banalität und Willkür bestimmt ist und eine „Banalität des Bösen“ 4 zu erkennen gibt, wie sie Hannah Arendt im Kontext des Holocausts und der unter Adolf Eichmann organisierten Massenmorde beschrieben hat. In einer Vorlesungsreihe über Fragen zur Ethik,5 die in Bezug steht zu ihren vorangegangenen Überlegungen zur Banalität des Bösen, stellt Arendt heraus, dass der Mensch durch die Sinne der Versuchung ausgesetzt sei, „seinen Neigungen anstatt seiner Vernunft und seinem Herzen zu folgen“, und – in Rückbezug auf Immanuel Kant – indem er seinen Neigungen folge versucht sei, „Böses zu tun, das ‚radikal Böse’“: zwar als Ausnahmezustand, doch seinerseits eingebettet in ein Vermögen, zu lügen.6

Es ist im wahrsten Sinn ein Einbruch der Realität: In Maiks und Tommis Morden von türkischen Migrant*innen, die sie gnadenlos im Rahmen ihrer täglichen Arbeit wie im türkischen Supermarkt überfallen, durch Waffen oder vorhandene Ausstattung (so durch einen Feuerlöscher) töten und sich daran anschließend in dem von Becky gesteuerten Fluchtfahrzeug gegenseitig ihre Geilheit bestätigen, woraufhin sich alle drei feierlich besaufen, bündelt sich der menschliche Zusammenbruch und die kollektive Sabotage ihrer je eigenen Moral. Die Selbst-Liebe, die sich hier allem voran als Selbstsucht äußert, wird zum Maßstab allen Handelns und aller Aggression, die aus einer namenlosen Lust am Fremdenhass entsteht – fortlaufend mit dem Willen, Macht über andere haben zu wollen.

Die Wirklichkeit im Schrebergarten und über die eigenen Zäune hinaus

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© Heimatfilm

„Lügen“, schreibt Hannah Arendt, „erscheinen dem Verstand häufig viel einleuchtender und anziehender als die Wirklichkeit, weil der Lügner den großen Vorteil hat, im voraus zu wissen, was das Publikum zu hören wünscht. Er hat seine Schilderung für die Aufnahme durch die Öffentlichkeit präpariert und sorgfältig darauf geachtet, sie glaubwürdig zu machen, während die Wirklichkeit die unangenehme Angewohnheit hat, uns mit dem Unerwarteten zu konfrontieren, auf das wir nicht vorbereitet waren“.7

Und der Film Wintermärchen endet mit dem Unerwarteten – zumindest für die Protagonist*innen. Während Tommi, Becky und Maik sich – in Folge einer internen Eskalation aus gegenseitigem Überdruss und Wollust – wiedervereint haben und sich nun nach einer gemeinsamen Nacht ihre Unbesiegbarkeit als polyamores Crime-Trio verbildlichen, wird ihrer mythenbeladenen, in Selfies festgehaltenen Illusion durch eine Überraschung ein abruptes Ende bereitet: Die Polizei hat ihr Versteck im Untergrund gelüftet und fällt als „Wahrheit“ ein. Tommi, Becky und Maik werden noch nackt, wie sie sind, in der Schrebergartenhütte festgenommen und durch das herabgefallene, braune Laub abgeführt. Das Licht ist grau und kühl, die Blicke leer. Ein Sommermärchen geht in diesem Winter zu Ende. Und es wirkt ähnlich wie das lyrische Bild, das 1844 Heinrich Heine vor dem Hintergrund der politischen und gesellschaftlichen Krisensituation Deutschlands beschrieb: „Als ich erwacht’, fuhr ich einem Wald / Vorbei, der Anblick der Bäume, / Der nackten hölzernen Wirklichkeit, / Verscheuchte meine Träume.“8

Man wünschte sich in diesem Augenblick, dass nicht nur Tommi, Becky und Maik ihrer Illusion entrissen würden. Sondern dass auch die realen rechten und rechtsradikalen Formierungen der Gegenwart und ihre Populist*innen einmal richtig hinsehen, erkennen und insbesondere erinnern, dass bereits in der deutschen Vergangenheit die rechte Ideologie auf Lügen basierte, um ein fiktionales Bild von Volk und Reich zu etablieren – so u.a. durch fotografische Bildnarrative, wie sie Hitler in Kooperation mit dem Fotounternehmer Heinrich Hoffmann gezielt als Weltbildvorlage konstruiert hat. Lügen in der Politik, wie Hannah Arendt sie beschrieben hat, finden die ihrer Zeit entsprechenden Kanäle, um Benachteiligung, Erniedrigung und Überlegenheit darzustellen.

Dass Deutschland nach wie vor ein Problem mit seiner nationalsozialistischen Vergangenheit hat, ist offensichtlich. 1993 griff die Band Die Ärzte mit dem Song Schrei nach Liebe die Problematik rechter Gewalt auf, ereigneten sich 1992, um nur ein Beispiel zu nennen, massive Ausschreitungen mit rechtsextremer Gewalt in Rostock-Lichtenhagen – rassistisch motivierte Angriffe auf ein Wohnheim für Asylbewerber, welche die bis dahin schwerwiegendsten der deutschen Nachkriegsgeschichte gewesen sind, obgleich Rechtsextremismus sich kontinuierlich seit 1946 in der Bundesrepublik fortentwickelt hat.9

2018 zur Premiere und nun 2019 zum bundesweiten Filmstart ertönt der Schrei nach Liebe erneut: Diesmal aber als ein mahnend-geisterhaftes Flüstern im Abspann, intoniert von Lucas Croon. Wo stehen wir jetzt? Die Formen haben sich gewandelt, doch die Dringlichkeit der Aussage ist erschreckenderweise immer noch dieselbe: Es ist einmal mehr an der Zeit, „die Grenzen menschlichen Wissens denkend zu überschreiten“.10

Jan Bonnys Film Wintermärchen provoziert dieses Denken und Nachdenken. Dabei steht er auch als Gegenentwurf zu dem kollektiven Märchen von der Möglichkeit, seinem Land wieder völlig bedenkenfrei mit Stolz begegnen zu dürfen.11 Menschliche Abgründe durch subjektive Lust, das Obszöne und erschütternde Gewalt durchschreitend, erinnert dieser Film daran, dass es noch sehr viel aufzuarbeiten gibt, dass humanistisches und solidarisches Handeln stets bei uns selbst beginnt – und dass wir der Willkür der anderen durch Gegenbilder und unserer Reflexion darüber aktiv begegnen können.

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© Heimatfilm

Alle Abbildungen: Filmstills, W-Film.


  1. Sontag, Susan: Das Foltern anderer betrachten, in: dies., Standpunkt beziehen – Fünf Essays, Stuttgart 2018, S. 49. 

  2. Produktion: Heimatfilm, Köln. 

  3. Vollständiger Titel: Sommermärchen 2014 Rheydt – 13. Juli 2014, 21:00 – 23:36 Uhr (Fußball-Weltmeister / Deutschland). 

  4. Vgl. Arendt, Hannah: Eichmann in Jerusalem – Ein Bericht von der Banalität des Bösen, München 2011. 

  5. Some Questions of Moral Philosophy, Vorlesung in vier Teilen an der New School for Social Research, New York, 1965. 

  6. Vgl. Arendt, Hannah: Über das Böse – Eine Vorlesung zu Fragen der Ethik, München/Berlin 2016, S. 27f. Arendt führt in dieser Publikation die Grenzenlosigkeit des Bösen wie folgt aus: „Wenn sie [eine Person] ein denkendes Wesen ist, das in seinen Gedanken und Erinnerungen wurzelt und also weiß, daß sie mit sich selbst zu leben hat, wird es Grenzen geben zu dem, was sie sich selbst zu tun erlauben kann, und diese Grenzen werden ihr nicht von außen aufgezwungen, sondern selbst gezogen sein. Die Grenzen können sich in beachtlicher und unbequemer Weise von Person zu Person, von Land zu Land, von Jahrhundert zu Jahrhundert ändern; doch das grenzenlose, extreme Böse ist nur dort möglich, wo diese selbst-geschlagenen und gewachsenen Wurzeln, die automatisch Möglichkeiten einschränken, ganz und gar fehlen. Sie fehlen dort, wo Menschen nur über die Oberfläche von Ereignissen dahingleiten, wo sie sich gestatten, davongetragen zu werden, ohne je in irgendeine Tiefe, derer sie fähig sein mögen, einzudringen.“, in: ebd., S. 86. 

  7. Arendt, Hannah: Wahrheit und Lüge in der Politik, München/Berlin 2015, S. 10. 

  8. Heine, Heinrich: Deutschland. Ein Wintermärchen, Stuttgart 2017, S. 47. 

  9. Vgl. hierzu Arndt, Ino / Schardt, Angelika: Zur Chronologie des Rechtsextremismus – Daten und Zahlen 1946-1989, in: Benz, Wolfgang (Hg.): Rechtsextremismus in der Bundesrepublik – Voraussetzungen, Zusammenhänge, Wirkungen, Frankfurt/Main 1989, S. 273-324, sowie Benthin, Rainer: Die Neue Rechte in Deutschland und ihr Einfluß auf den politischen Diskurs der Gegenwart, Frankfurt/Main 1996. 

  10. Arendt, Hannah: Wahrheit und Lüge in der Politik, München/Berlin 2015, S. 48. 

  11. Dank an Peter Maximowitsch für den wertvollen Gedankenaustausch. 


Christina Irrgang — ist freie Autorin und Musikerin der Band BAR (Band am Rhein), sie lebt und arbeitet in Düsseldorf und Bielefeld. 2018 hat sie an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung Karlsruhe mit einer medienanalytischen Arbeit über den Fotografen-Unternehmer Heinrich Hoffmann promoviert, die einen kritischen Blick auf politische Bildstrategien in den von Hoffmann herausgegebenen fotografischen Propaganda-Bildbänden als konstitutiven Teil der nationalsozialistischen (Bild)-Politik richtet.