16. November 2016 — Demokratisierung

Neulich, in der Diskriminierungspraxis: Wir sahen diese Serie namens Der Kampf ums Wesentliche, diese Endlosserie, die gerade in der Election Season angekommen war. Und alle so: Fuck, wie spannend. Und alle so: Hauptsache, Trump macht es nicht in die nächste Staffel. [Und Hofer auch nicht.] Und alle so: Hechel, hechel, hechel, ist das anstrengend, hechel, wie ein Geburtsvorbereitungskurs, hechel, wie die Geburt selbst, hechel, hechel, können wir endlich eine andere Form von Demokratie gebären? Und dann kam das Wahlergebnis, und alle so: Uff. Und dann schwiegen wir. Auf einmal. Auf einmal verstanden wir, daß unsere Post-Bingewatching-Depression diesmal eine andere sein würde, daß das alles vielleicht mehr gewesen war als nur Bingewatching. Niemand von uns hatte das gedacht. Nur einer von uns hatte schon geschwiegen, hatte schon eine ganze Weile geschwiegen: Brian Storm. Der einzige unter uns, der aus den USA kam. Und ich nahm ihn in den Arm und fragte: Wie geht es dir? – Alles, was ich sagen könnte, all das klingt lächerlich, war seine Antwort. Und ich dachte wieder, daß ich an der Art, wie er die Vokale und Konsonanten aussprach, hörte, daß er in den USA aufgewachsen war, Deutsch aber seine Muttersprache ist, die Sprache seines Vaters UND die seiner Mutter, deren Eltern wiederum aus Namibia nach Deutschland gekommen waren, kurz nach 1945. Und ich sage dir, allein heute Abend, hier, habe ich mir schon mehrfach gewünscht, meine Haut wäre so käsebleich wie deine. — Warum das?, fragte ich, und Storm zeigte in eine Richtung, sein Arm war ein Pfeil, der auf einen anderen Pfeil zeigte, und der wiederum zu den Toiletten.

Was Brian Storm geschehen war: Auf der Herrentoilette, an den Pissoirs das Starren des Pißnachbarn, das Starren und Staunen, und dann, an den Waschbecken, als Storm schon dachte, es sei ein sehr, sehr plumper Anmachversuch, den er als Homo von anderen Homos ja total gewohnt sei, die wenig erstaunliche Begründung für Starren wie Staunen. Unglaublich, habe der Starrer gesagt, er habe es immer für ein Gerücht gehalten oder so, aber die Schwarzen hätten ja WIRRKLICH riesige Schwänze, das sei sicher leicht, deutsche Frauen rumzukriegen, oder? Aufrichtige Bewunderung, sagt Brian Storm, es lag aufrichtige Bewunderung in der Stimme des Starrers und Stauners, aufrechte Bewunderung, auf rechts: die Bewunderung! Und ich kann das langsam nicht mehr, ich kann nicht mehr mit dieser Hautfarbe in einer Welt herumlaufen, in der sie starren und staunen und sich auf rechts drehen und dich dann auch noch bewundern. Du bist wie ein Einhorn oder sonst ein Fabelwesen, das bist du für sie. Aber ich, ich muß trotzdem durch diesen Alltag gehen, als wäre nicht nur er die Normalität, sondern auch ich. Dabei will ich nur schreien: Don’t touch my dick! Auch nicht mit deinen Vorurteilen!

Die größte Fiktion der Menschheitsgeschichte? Nein, nicht die Bibel, die ist doch ein Tatsachenbericht. Die Hautfarbe. Diese Erfindung des 15. Jahrhunderts.

Warum alles in der Welt bin ich, Brian Storm, als Man of color geboren? Warum kann ich nicht weiß sein? Warum kann nicht auch ich sagen, Black Lives Matter sei eine unaufrichtige Forderung, es müsse heißen, ALL Lives Matter? Und als Beweis meiner Aufrichtigkeit ein Selfie mit meinen schwarzen Freund*innen posten. Und auf diesem Selfie wäre ich eben weiß und müßte mich gar nicht drum kümmern, welche Leben nun tatsächlich eine Rolle spielen. Die weißen Leben spielen eine Rolle, ohne es zu wissen und ohne das wissen zu müssen, spielen alle Rollen, ohne sie kennen oder kennen zu müssen. Deshalb wäre ich gern weiß. Denke ich. Und dann denke ich das Gegenteil und schäme mich dafür, daß ich meinen Stolz im Starren der Menschen am Pissoir und in der U-Bahn manchmal verliere. Und jedes Mal, wenn mir das passiert, schwöre ich mir:

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COMING NOW: Zwei Best practice-Beispiele für harmlos daherspazierenden Rassismus in der deutschen Entertainmentindustrie, mit ein wenig Support aus der Schweiz. Nummer Eins: Willkommen bei den Hartmanns, die sogenannte Flüchtlingskomödie der Stunde, in der eine sogenannte ganz normale Familie [also: weiß, heterosexuell, mittelständisch, klar!] einen Flüchtling bei sich aufnimmt, um damit sogenannte Wirrungen und Turbulenzen auf sich zu nehmen. Der offizielle Pressetext von Warner Bros. schreibt tatsächlich: „Inmitten aller Wirrungen und Turbulenzen des normalen Wahnsinns unserer Zeit bleibt nur die Hoffnung, dass die Familie ihre Stabilität, Zuversicht und ihren Frieden wiederfindet – so wie das ganze Land.“ Und wie das GANNNZE Land vergißt dieser Film im Jahr 2016 auf seinem Plakat etwas wichtiges: Das Foto zeigt sechs Darsteller*innen, unter anderem den des Flüchtlings Diallo, Eric Kabongo, der auf dem Sofa zwischen den NORMalen, also Senta Berger und Heiner Lauterbach, sitzen darf. Über dem Titel des Films prangt der Name des Regisseurs. Und über dem Namen des Regisseurs prangt die Besetzung. Und dort stehen FÜNF Namen. Und wenn dort der Name: Eric Kabongo fehlt, wieso kann dann in der Mitte des Sofas, zwischen Senta Berger und Heiner Lauterbach, nicht auch eine Leerstelle sein? Könnte so eine Leerstelle mehr über die WIRRungen und TURBOlenzen in diesem Land erzählen als der abgebildete Schauspieler, dem der Name verwehrt wird? Geht es gar nicht darum, daß dort Eric Kabongo als Diallo sitzt, sondern nur irgendein Schwarzer? Die Stelle, die nicht leer bleiben darf, damit diese Komödie funktioniert, wird durch Kabongo gefüllt, der damit diese Stelle vertritt, doch auf dem Poster darf er nicht sich selbst vertreten, denn sonst könnte er wiederum auch als etwas auftreten, das er NICHT ist und auch niemals sein soll. Hallo, Afrikaner, schön, daß du da bist. Mal das hier aus! Es ist ganz einfach, die Farben sind numeriert, und, ja, es ist nur ein einzige Zahl, und dieser schwarze Edding ist der passende Stift dazu, also, mach schon. Und mit diesem Edding können wir auch gleich weiterarbeiten und andere Erfahrungen, andere Lebensgeschichten mit dicken Strichen verbinden, sagt Brian Storm, egal, wieviel wir dabei mit denselben dicken Verbindungen durchstreichen. Hier: Wenn man Interviews zum Film liest, in denen Palina Rojinski, eine weitere Darstellerin, über ihre eigenen Erfahrungen als AUSLÄNDERIN spricht, um die Botschaft des Films zu beglaubigen, oder wenn Regisseur Simon Verhoeven sich selbst lobt und erzählt, daß die Figur des Assistenzarztes, gespielt vom [Achtung!:] österreichischen Schauspieler Elyas M’Barek, die makelloseste alle Figuren sei: „Auch Elyas hat in seinem Leben negative Erfahrungen gemacht und ist als KANACKE beschimpft worden. Der ist aber ein deutscher Junge. […] Deswegen bekommt Elyas diese besonderen, deutschen, wertkonservativen Sätze im Film.“ Die einzige Möglichkeit des Migranten, zum VOLLK zu gehören, ist also, dem VOLLK aufs Maul zu schauen – oder nicht mal!: dem Script zu folgen, das diejenigen geschrieben haben, die dem VOLLK aufs Maul schauen, nur weil der Plot des Films dann glaubwürdiger rüberkommt. Und noch mehr Edding: In einem weiteren Interview erklärt der Komödienregisseur Verhoeven: „Es ist wichtig, zu begreifen, dass bei mir von Anfang an nie dieses ‚Refugees welcome‘-Gutmenschen-Gefühl drin war. Das wollte ich auch nicht.“ ZUM GLÜCK! Zum Glück kann der Künstler-Allmachtsgott und Prominentensohn mithilfe des Eddings auch noch die sogenannten Gutmenschen wegstreichen, wobei sich nicht er, aber sogar der Edding fragt, warum das Vokabular von Rechtsextremen herhalten muß, um zivilgesellschaftliches Engagement zu beschreiben. Während woanders längst Normalität gelebt wird,1 muß der weiße Regisseur hier das Fremdheitstheater weiterführen. Noch einmal Edding: „Für den Flüchtling wollten wir natürlich jemanden, der in Deutschland nicht bekannt und auch selbst ein Fremder im Land ist.“ Denn nur der schwarze Fremde kann ja den schwarzen Fremden autistisch, sorry, authentisch verkörpern. Aaaaaaaaaaaaargh, ich kann nicht mehr,

aber

das war noch nicht genug. Beispiel Nummer Zwei: Verstehen Sie Spaß vom 29. Oktober 2016, die Show, in der Moderator Guido Cantz sich als Südafrikaner of color schminken läßt und in eine gefühlige Show im schweizerischen TV geht, um den dortigen Moderator, der weiß ist und auch nichts anderes spielen muß, reinzulegen, und zwar, indem er sich als angeblich gesuchter Vater einer angeblich ihren Vater suchenden Frau ausgibt, die aber im Gegensatz zu ihm selbst [ihm in Verkleidung, nicht ihm, Guido Cantz als Guido Cantz] weiß ist. WAS EIN DILEMMA! Da weiß ich gar nicht, wo ich anfangen soll. Ja, WO? Bei der Idee, den weißen Moderator überhaupt in einen Man of color zu verwandeln, ohne die historische Beziehung zu Minstrelshows zu sehen? Soll ich anfangen beim schweizerischen Publikum, das sich offenbar prächtig amüsiert, weil der Vater der weißen Frau ein Schwarzer ist und doch wohl kaum sein kann? Oder beim schlecht gespielten Dialekt des gefakten Afrikaners? Oder beim Humor der gesamten Sendung, ihres Moderators, ihrer Redaktion, der Verantwortlichen, diesem Humor, der auf dem Niveau einer Komödie des Jahres 1952 stehengeblieben ist? Womit sich am Ende beide treffen, die Flüchtlingskomödie und Verstehen Sie – … NEIN, ICH VERSTEHE KEINEN SPASS! Verstehen SIE denn Haß? Wenn nicht, dann können Sie hier fündig werden, denn diese Stereotype sind nichts anderes als der Jahrhunderte dauernde Haß der Weißen, deren Erfindung – der Schwarze – als Projektionsfläche für Spott und Abwertung herhalten muß, ja, auch heute noch, wieso denn nicht? Sagen unisono Lenny Scheinbaum und das Fräulein vom Steinbruch von der identitären Front und posten selbst Selfies in Blackface. Der SWR dagegen als Produzent rechtfertigt die rassistische Entgleisung in Form von Make-Up mit der Aussage: „Nur durch eine extreme Veränderung ist es Guido Cantz möglich, Prominenten direkt gegenüber zu treten und mit ihnen zu agieren, ohne erkannt zu werden.“

FRAGE: Wer darf sich extrem verändern und wer nicht? Wer darf agieren, ohne erkannt zu werden, und wer soll immer erkannt werden, egal, wie er agiert oder nicht?

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Fuckfacing.

Und was, frage ich Brian Storm, hat das nun mit Black Lives Matter zu tun, sind es nicht völlig singuläre, voneinander abgetrennte Ereignisse? – Nein, sagt Brian Storm, vergleiche doch mal: die Rolle, die ein Schauspieler of color spielt und die ihn auf diese eine Rolle festlegt, und die Rolle, die ein weißer Moderator spielt, der sich aussuchen kann, welche Rolle er will. Und die Rolle, die ein Mann namens Michael Brown spielen MUSSTE, als er seine Hände hob. Und es GIBT da einen Zusammenhang, auch wenn ich ihn nicht ganz klar benennen kann, gerade weil es so verdammt schwer ist, ihn zu benennen, jenseits aller Emotion – und diesseits auch, denn ich, ich habe meine Gefühle HIER, ich trage sie an meinem Körper. Warum können wir uns nicht als diejenigen wehren, als die wir angegriffen werden? Wenn man als Schwarzer angegriffen ist, muß man sich als Schwarzer verteidigen. Und ob dieser Angriff die Kugel aus einer Polizeipistole ist, ein Weißer in Blackface oder ein fehlender Name auf einem Kinoplakat – es bleiben Angriffe. Wie Judith Butler schreibt, geht es genau darum, welche Leben betrauert werden dürfen, wenn sie beendet werden oder enden – und welche nicht. Und einige werden eben weniger betrauert. Wie beim NSU, der neun sogenannte Migranten ermordete, deren Tode jeweils zur Folge etwaiger krimineller Machenschaften der Toten erklärt wurden – ohne einen einzigen Beweis für diese These zu erbringen –, während der zehnte Mord an der biodeutschen Polizistin mit dem würdevollen offiziellen Trauerakt begegnet wurde, den ich allen anderen auch wünschte. Von daher muß ich eben sagen: Ihre Leben, die Leben dieser neun Toten, spielen eine Rolle, und sie tun es als die Leben von Migranten, von Menschen, die gewandert sind, irgendwann mal in dieses Land gewandert sind. Da kann ich noch so oft sagen, daß es eigentlich KEINE Rolle spielen sollte, ob es Migranten waren oder nicht, denn sie, die Toten MÜSSEN diese Rolle spielen, auch nach ihrem Tod, weil sie in dieser Rolle ermordet wurden. Für sie ist dieser Tod weder die Grenze der Rolle noch der Geschichte, sie dürfen nicht ruhen. Und wenn ich das nicht anerkenne, wieso sollte ich dann alle anderen Lebenden, die potentielle Opfer rassistischen Terrors werden könnten, als betrauerbar anerkennen? Und deshalb: BLACK lives matter! Es muß gesagt werden, daß es um die Leben von Menschen of color geht, da sie besonders gefährdet sind, was nicht heißt, daß alle anderen NICHT gefährdet wären. „Gefährdung ist nicht einfach als Merkmal dieses oder jenes Lebens zu begreifen; sie ist vielmehr eine Bedingung, deren Allgemeingültigkeit nur geleugnet werden kann, wenn das Gefährdetsein selbst geleugnet wird.“2 Der Satz: BLACK LIVES MATTER geht davon aus, daß ALLE Leben sowieso eine Rolle spielen, daß er selbst aber, dieser Satz, wiederholt werden muß, um genau das klarzumachen: daß es um ALLE geht. Und wenn ich sage: ALL LIVES MATTER, weiche ich die politische Forderung schon wieder auf, die gerade diejenigen schützen soll, die nicht so schützenswert erscheinen wie andere. Es ist so ein schmaler Grad. Es ist so wie bei der Ehe für ALLE, die dann mit einer Demo für ALLE bekämpft werden soll. Sofort ist das ALLE uns wieder entzogen. Patsch! Ohrfeige. Die Strafe dafür, daß ich für ALLE sprechen wollte, ist, daß ich wieder auf meinen Platz verwiesen werde. Und ich gehöre eben nicht dazu, ich bin nicht ALLE. Das heißt, langsam bin ich doch alle, leer, ausgelaufen. Aber was solls, sagt Storm und atmet, als wäre er gerade einen Marathon gelaufen, und atmet und atmet und atmet und schweigt.


Jörg Albrecht — geboren 1981 in Bonn, aufgewachsen in Dortmund, lebt in Berlin. Er schreibt Prosa, Essays, Hörspiele sowie Texte für Theater und Performance. Seit 2018 baut er als Gründungsdirektor das Center for Literature auf Burg Hülshoff bei Münster auf. Jörg Albrecht ist Mitglied des PEN-Zentrums Deutschland.

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