Unter Kreidefressern – Im Gespräch mit Identitären

Ein Gastbeitrag von Manuel Gogos
10. Oktober 2018 — Rechtsterror

Es war einmal eine alte Geiß, die hatte sieben junge Geißlein, und hatte sie lieb, wie eine Mutter ihre Kinder lieb hat. Eines Tages wollte sie in den Wald gehen und Futter holen, da rief sie alle sieben herbei und sprach: „Liebe Kinder, ich will hinaus in den Wald, seid auf der Hut vor dem Wolf! Wenn er hereinkommt, frisst er euch alle mit Haut und Haar. Der Bösewicht verstellt sich oft, aber an der rauen Stimme werdet ihr ihn schon erkennen.“

Schaust du die Artedokumentation „Unter Fremden. Auf dem Weg zu Europas Neuen Rechten“ aus dem Jahr 2016, treffe ich auf Minute 24:14 gemeinsam mit meinem Kollegen Jakob Kneser in Wien auf Martin Sellner. Der Chef der identitären Bewegung Österreichs zeigt sich vor der Kamera wie gewohnt als Primus: mit Horn- doch Hipsterbrille, beredt und sonst begabt, ganz mustergültig auch mit seinem klassischen Rauten-Pullover. Sellner, der Prototyp eines Identitären, als wären sie ihm alle aus der Rippe geschnitten, aus der DNA geschlüpft.

O-Ton Martin Sellner (ab 28:17): „Während es im linken Spektrum eine Bandbreite, von Attac über Linksjugend, Antifa, gesellschaftlich legitimierte Gruppen gab, gab es das im rechten Lager auf aktivistischer Seite gar nicht. Insofern ist die identitäre Bewegung auch eine derart revolutionäre Wende, weil sie zum ersten Mal eine aktivistische Plattform für patriotische Jugendliche schafft, die sich klar vom Nationalismus und der alten Rechten abgrenzt.“

Die identitäre Bewegung als Sammelbecken einer Jugend, die sonst nicht weiß wohin mit ihrem patriotischem Idealismus? Versammelt unter der Pathosformel „Identität“ – einer „reinen“ Projektionsfläche zwar, die sich aber gut zu eignen scheint zur je eigenen Aufladung mit Sinn. Sellner zeigt sich sichtlich bemüht, seine IB zur „Bewegung“ aufzublasen und zu einer Art rechter „NGO“ zurecht zu wienern. Der Wiener Schmäh macht dabei einen nicht unbeträchtlichen Anteil seiner Charme-Offensive aus. In Österreichs Umgangssprache kann Schmäh ja eine „verbindliche Freundlichkeit“ meinen, aber ebenso „Kunstgriff“, „Trick“, und „Schwindelei“ bedeuten. Dabei heißt „Schmäh“ – über das Jiddische abgeleitet vom Hebräischen „Schma“ wie „Schma Jisrael“– eigentlich „Höre“, wie „Höre, Israel!“ oder „Höre die Geschichte!“

Es dauerte nicht lange, so klopfte jemand an die Haustür und rief: „Macht auf, ihr lieben Kinder, eure Mutter ist da und hat jedem von euch etwas mitgebracht!“ Aber die Geißlein hörten an der rauen Stimme, dass es der Wolf war. „Wir machen nicht auf“, riefen sie, „du bist unsere Mutter nicht, die hat eine feine und liebliche Stimme; aber deine Stimme ist rau, du bist der Wolf!“

Im Gespräch in diesem Wiener Caféhaus wollte man Sellner all das gern glauben: den Ausstieg aus der Neonazi-Szene, und dass in ihm die gute über die böse Macht obsiegt. Man muss die Geister unterscheiden lernen, auch die im Sellner wirksam sind. Und so stellen wir im Film an dieser entscheidender Stelle (28:48) die Rotkäppchen-Frage:

„Ist Sellner tatsächlich aus der Neonaziszene ausgestiegen? Oder war das nur ein geschicktes Täuschungsmanöver? Hat der Wolf Kreide gefressen?

Im Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstands legen wir die Frage dann Andreas Peham vor: Wer mit Aussteigern aus der rechten Szene arbeitet, sollte der es nicht wissen? Auf meine Frage, „Sellner behauptet ja von sich, aus dem rechtsextremen Milieu ausgestiegen zu sein und mit den Identitären sozusagen einen dritten Weg zu beschreiten. Würden Sie ihm das absprechen, diesen Ausstieg?“ strahlt Peham mich direkt an: „Ja, ja, ja. Ja, unbedingt! Seine ganzen politischen Handlungen, der ganze Diskurs, den die Identitären fahren, ist eindeutig rechtsextrem.“

Da ging der Wolf fort zu einem Krämer und kaufte ein großes Stück Kreide, die aß er und machte damit seine Stimme fein. Dann kam er zurück, klopfte an die Haustür und rief: „Macht auf, ihr lieben Kinder, eure Mutter ist da und hat jedem von euch etwas mitgebracht.“ Da glaubten sie, es wäre alles wahr, was er sagte und machten die Tür auf. Wer aber hereinkam, das war der Wolf.

Im Sommer 2018 stehen Sellner und seine Bande in Österreich vor Gericht. Wohnungen werden durchsucht, Webseiten gesperrt. Grazer Staatsanwälte müssen sich dafür durch unzählige Videos klicken, die die Identitären laufend produzieren. Und sie haben mein Mitgefühl, diese Ermittler auf ihrer Suche nach extremistischem Content. Identitäre sehen ja nicht aus wie Nazis, hören nicht dieselbe Musik, verwenden nicht dieselben Bilder. Darum eben sind sie ja auf dem Sprung raus aus dem rechten Ghetto, weil sie ihre rechtsextremen Botschaften im Gewand von Filmen, Serien und Comics verbreiten, mit denen auch die anderen Vertreter ihrer Generation aufgewachsen sind.

Sellner hat eine ganze Artikelserie über mögliche Anschlüsse identitärer Positionen an die Popkultur geschrieben. Unter anderem über die blauen Eingeborenen aus dem US-amerikanischen Science-Fiction-Film „Avatar“. Ausgerechnet den Kampf der blauen Katzenmenschen gegen aggressive weiße Invasoren deutet er darin zu einer identitären Story um. Identitäre plakatieren das Hollywood-Filmposter zu Eigenwerbungszwecken, mit dem Zusatz „100 % identitär, 0 % rassistisch“. Sie verstehen sich als „Ethnopluralisten“, fast könnte man ihr Plädoyer zum Schutze der Kulturen für linke Globalisierungskritik halten; und doch geht es den Identitären letztlich darum, die Mischung von Klingonen und Vulkaniern, oder mit Klarnamen eben: Menschen-Rassen zu verhindern.

Zugegeben: Wir haben als Autoren Sellner zum Interview geladen, und die Begegnung dann zusammengeschnitten, verdichtet und zugespitzt. Dabei auch filmische Mittel dramaturgisch ausgenutzt – zum Beispiel in der Einstellung, wo die Rotkäppchenfrage nach dem kreidefressenden Wolf auf Bildern in Slow Motion liegt: Sellner, der Agitator mit dunkler Sonnenbrille, unterlegt von unheilvoll dräuender Musik.
Sellner wollte das Bild, das wir von ihm gezeichnet haben, nicht auf sich sitzen lassen, das Bild, das wir von ihm zeichneten. Weil es tatsächlich verzerrt war, oder zu scharf getroffen? Am 03.06.2017 lädt der Youtuber Sellner darum einen neuen Vlog hoch: Jäger des verborgenen Nazis – ARTE über die IB, zugeeignet – uns, und adressiert an seine Anhänger, um zu demonstrieren: Sellner strikes back.

(0:50) Ich hab es ehrlich gesagt nicht mal für wert befunden, mich zu rasieren. Habe ehrlich gesagt weder Zeit noch Lust, möchte nur kurz darauf eingehen...

Auf die 5 Minuten in unserem Film antwortet Sellner dann in einer seiner Wortkaskaden doch geschlagene 35 Minuten lang.

Die Reportage mit Manuel Gogos – mit dem die Gespräche übrigens viel interessanter waren als das, was er hinterher daraus zusammen geschnitten hat: Am Ende kommt dann die Reductio ad Hitlerum, es sind letztlich die alten Nazis im neuen Gewand. Je netter und freundlicher, klarer und rationaler du auftrittst, desto gefährlicher wirst du, denn desto besser ist die Tarnung, die du vor diesem eigentlich metaphysischen Nazi, auf dessen Suche Manuel Gogos und alle Journalisten sich immer begeben, wie Indiana Jones in irgend so einem Abenteuerfilm.

Es hatte beinahe etwas Sympathisches, wie Sellner mein Gesicht in das Filmplakat von Indiana Jones montierte, mit viel Liebe zum Detail. Im Gespräch versicherte Sellner mir außerdem sein Mitgefühl: ich sei eben Teil der „Systempresse“, und dürfe als deren Vertreter weder frei denken noch sprechen. Zugleich twitterte Sellner vor unserem Interview triumphierend: „Heute beim Arte-Interview“ – jeden Auftritt in den Mainstreammedien feiert die identitäre Medienguerilla wie einen Sieg.

Und schizophren ist übrigens nicht nur er allein: Denn es sind ja nicht nur die Identitären, sondern auch wir Journalisten, die für ein starkes Bild die eigene Großmutter verkaufen.

Nicht lange danach kam die alte Geiß aus dem Walde wieder heim. Ach, was musste sie da erblicken! Die Haustür stand sperrweit auf: Tisch, Stühle und Bänke waren umgeworfen, die Waschschüssel lag in Scherben. Sie suchte ihre Kinder, aber nirgends waren sie zu finden. Sie rief sie nacheinander bei Namen, aber niemand antwortete.
Endlich als sie an das jüngste kam, da rief eine feine Stimme: „Liebe Mutter, ich stecke im Uhrenkasten!“ Sie holte es heraus, und es erzählte ihr, dass der Wolf gekommen wäre und die anderen gefressen hätte.

Unser Roadmovie hatte uns zuerst nach Berlin geführt, wo die Identitären an einem Sommertag 2016 im grellen Gegenlicht das Brandenburger Tor besetzten, wie uns der kreuzbrav wirkende aber ultrareaktionäre Chef der Berliner Identitären Robert Timm im Film bei einer Ortsbesichtigung anschaulich schilderte. Weiter ging es nach Dresden, zu einer Pegida-Demonstration. Auf Min 9:49 treffen wir da zum ersten Mal auf Sellner, da heizt er von der Rednerbühne dieser „Parallelgesellschaft“ ein. Ballt seine Faust, um Widerstand zu leisten gegen die Meinungsdiktatur in Deutschland. Propagiert seine „Propaganda der Tat“ dabei allerdings ungehindert und öffentlich!

Als wir dann ab Minute 13:18 in Schnellroda auf den neurechten Verleger Götz Kubitschek treffen, eine Mentorenfigur der Identitären Bewegung, verklärt der den jungen Österreicher Sellner nachgerade zu einem „Rudi Dutschke von rechts“. In seinem Milieu-Blatt „Sezession“ lobt Kubitschek den Aktivistenführer dafür, dass er nicht müde werde, „immer neue Haken zu schlagen.“ Wie aber wäre so einem jungen Mann zu trauen, wenn selbst sein geistiger Ziehvater in ihm den Trickser sieht?
Sprichst Du als Pressevertreter mit Sellner, schwärmt der vom gewaltlosen Widerstand Gandhis; veröffentlicht er aber im Antaios-Verlag für die eigenen Leute einen Essay, wie in „Das neurechte Wäldchen“ vom 3. Juni 2017, schwadroniert er gern von „Feindlogik“.

„Die fieberhafte Stimmung, die 2015/2016 herrschte, hat sich gelegt. Der Zauber des Aufbruchs ist verflogen. Diese Stagnation kann, militärisch betrachtet, auch als gute Nachricht aufgefasst werden. Der massive Vorstoß in die Mitte, den die genannten Kräfte der Avantgarde, der Sammlungsbewegung, der Partei und der Gegenöffentlichkeit in den letzten beiden Jahren unternommen haben, ist zum Stehen gelangt. Er hat sich jedoch eine Stellung ausgebaut und zeigt keine Anstalten, den eroberten Raum wieder aufzugeben.“

Als hätte sich Sellner erst Ernst Jüngers „Stahlgewitter“ durch die Nase gezogen, um sich fürs Schreiben in Stimmung zu bringen... Es ist eine wahrlich explosive weltanschauliche Mischung, die in Kubitscheks „Institut für Staatspolitik“ angerührt und dann in Richtung Höcke-AfD vertickt wird. Ein eigentümliches Pandämonium von rechtsrevolutionären Vordenkern, das die Schnellrodarier in ihren Séancen heraufbeschwören. Carl Schmitt wird natürlich angerufen, gelesen in pietistischer Innerlichkeit und Naherwartung. Zu den Hausgöttern der identitären Subkultur gehörten aber von Anfang an auch Neomarxisten wie Antonio Gramsci, der in seinen „Gefängnisheften“ dazu riet, erst den „Kampf um die Köpfe“ zu führen und so der Revolution das Feld zu bereiten. Oder Antonio Negri und Michael Hardt, deren „Empire“-Staatskritik sich auch gegen ein vermeintlich linksliberales „Establishment“ und die Sonnenkönigin Merkel „ins Feld führen“ lässt.

Kubitscheks Kaderschule ist für die Neue Rechte bzw. Rechtsextreme nachgerade zum Sehnsuchtsort geworden, wo bereits über Diskurs- und Deutungsmacht theoretisiert wurde, als die AfD noch NPD hieß. Nicht Anleitungen zum Bombenbau ersannen die Rechtsintellektuellen hier, sondern sie mischten die giftigen Ingredienzien einer Diskursinfektion zusammen – die wohl Wirkmächtigste unserer Tage: der Einwanderer als Sündenbock, und die 68er Generation als Totengräber des Abendlandes. Es sind diese kulturkämpferischen identitären Denkfiguren, die tief eingedrungen sind auch in die DNA der AfD.
Die Scheelsucht, mit der die Neue Rechte auf die Neue Linke schielt, ist eigentlich eine Geschichte der Hassliebe, der Einflussangst. Die Übernahme linker Protestformen und Diskursfiguren seitens der Neuen Rechten geht über Anlehnung und Anverwandlung manchmal bis zur perfekten Mimikry. Provoziert man Sellner am Rande einer Identitären-Demo in Wien mit den Worten, „das seien ja schon tolldreiste feindliche Übernahmen von Monstranz und Demonstranz“, pariert der Spiegelfechter: „Wir nehmen den Linken weg, was ihnen nie gehört hat.“

Identitäre wie Sellner möchten eine Avantgarde, wollen Vorboten der Zukunft sein. Doch es fällt ihnen schwer, Zukunftsutopien zu entwerfen. Stärker ist die suggestive Kraft ihrer düsteren Dystopien. Spezialist hierfür ist die identitäre Meisterfeder Martin Lichtmesz, mit bürgerlichem Namen: Martin Semlitsch, 1976 in Wien geboren. Auch mit dieser Schlüsselfigur identitärer Theoriebildung knüpfte ich über Email ein Gespräch an:
Auch für mich (als Kind eines Griechen) hat die Frage nach Identität etwas Obsessives, die Frage nach Herkunft, Tradition und Überlieferung; die Frage nach der „religio“ – auch wenn ich diesen Sehnsuchtsort niemals mit „Deutschland“ bezeichnet hätte.

Ich las Lichtmesz Buch „Kann nur ein Gott uns retten“, und erinnerte mich dabei meiner alten Faszination für Emil Cioran – einen Autor, der mit seinen „Syllogismen der Bitterkeit“ den Pessimismus zu einer vollkommenen Denkform machte, um dann zu prophezeien, im Jahr 1987 werde Notre-Dame einmal eine Moschee sein; ich erinnerte mich auch meiner Bewunderung für den enzyklopädisch gebildeten Religionswissenschaftler Mircea Eliade – mit seiner unrühmlichen Nähe zu Rumäniens faschistischer „Eisernen Garde“; und natürlich meiner ekstatischen Lektüren des deutschen Meisters Martin Heidegger – jenes Tiefen-Phänomenologen, der Hitler für die Schönheit seiner Hände verehrte... Lichtmesz:
Ich mag den Begriff der „Berührungsflächen“, mit dem Peter Klotz in den 1990er Jahren über die neue Rechte geschrieben hat. Wenn Du Leute wie Eliade oder Cioran liest, sind das zwei Denker, die werden in der Rechten sehr stark rezipiert, aber die gehören ja allen.

Ich traf Lichtmesz im Rahmen meines Radiofeatures „Die Invastion der Identitären“ da, wo ich auch Sellner getroffen habe, im Café Rüdigerhof in der Nähe des Wiener Naschmarkts. Und wir fanden Gemeinsamkeiten in der intellektuellen wie in der subkulturellen Prägung. Beide waren wir einmal New Waver gewesen, Anhänger eines Weltschmerzes, den Sloterdijk einmal „Manierismus der Wut“ genannt hat. Wollte ich aber am Ende des Tages mit Lichtmesz überhaupt eine gemeinsame Sprache sprechen? Hatte er die Weltuntergangsstimmung unserer Jugend nicht absolut gesetzt, metaphysisch überhöht und in eine reaktionäre Weltsicht vom Ende der Geschichte transformiert, wo die Straßenbahnfahrt in jeder beliebigen europäischen Metropole zum Menetekel wird, wir er schreibt? Der People of Colour wegen...?
Frage Autor:
Die Apokalyptik hat ja eine lange Tradition. Aber die Welt ist bis jetzt nicht untergegangen, oder?

Antwort Lichtmesz:
Doch, sie ist schon mehrfach untergegangen. Vielleicht ist sie auch untergegangen auf eine Weise, die uns gar nicht auffällt. Das kommt vielleicht gar nicht mit großem Dschingbum und apokalyptischen Reitern. Sondern so ein Weltuntergang kann sich vielleicht ganz langsam und schleichend vollziehen. So ein süßes euphemistisches Einschläfern, so eine Droge, ja?

Lichtmesz gibt sich als feinsinniger Literat und versierter Cineast, und ist zugleich Anhänger der kruden identitären Theorie vom „großen Austausch“ – laut der die autochtonen Völker Europas heimlich still und leise gegen die Völkerschaften Asiens und Afrikas ausgetauscht werden. In dem Zusammenhang interessieren Lichtmesz vor allem dystopische Zukunftsphantasien, wie sie Science-Fiction-Filme entwerfen. Zum Beispiel der US-amerikanische Film „The Invasion of the Body Snatchers“ von Philip Kaufman aus dem Jahre 1978:
Da gibt es diesen Film „Die Körperfresser kommen“, kennst Du den? Mit dem Donald Sutherland, das ist so, da werden die Menschen von irgendwelchen Außerirdischen langsam durch Duplikate ersetzt, es ist immer so wenn sie einschlafen, da erzeugen sie so Schoten und da wachsen dann Doppelgänger ran. Und irgendwann werden immer mehr Menschen ersetzt durch diese Aliens. Und dann gibt es so eine Szene, da ist Donald Sutherland einer der letzten Menschen, umzingelt von Aliens. Und da ist ein Arzt, der Spock, der Leonard Nimoy, der hat eine Spritze, und er will ihn jetzt in ein Koma legen, damit von ihm so ein Duplikat erstellt wird, und sagt: „Sie werden bald merken, dass das die viel bessere Option ist.“ Das wäre auch so eine Art Austausch.

Als ich Lichtmesz fragte, ob das nicht konkret hieße, dass Migranten eigentlich feindliche Aliens sind; und als ich von ihm wissen wollte, ob mein Vater, in den 1960er Jahren als Gastarbeiter aus Griechenland eingewandert, um im Bergischen Land 50 Mal ehrenamtlich Blut zu spenden – ob der nicht auch ein Agent jenes „großen Austauschs“ wäre – da wollte Lichtmesz das nicht haben. Ob es unfair war, unser echtes Gespräch auf diese letzte Frage zuzuspitzen:
Wenn ihr Ethnopluralisten die Kulturen rein erhalten wollt, dürfte dann so jemand wie ich überhaupt existieren?

Nicht in Griechenland steht für Lichtmesz der Feind. Dass mein Vater Leonidas hieß, löste bei ihm fast so etwas wie philhellenische Verehrung aus für jenen antiken Spartaner, der in dem bei Identitären so beliebten Hollywoodblockbuster „300“ mit scharfem Schwert rauschhaft hineinfährt in die feindlichen Reihen der Perser. Für Lichtmesz und Konsorten muß die große Mauer – frei nach der Serie „Game of Thrones“ – weiter östlich errichtet und verteidigt werden, oder südlich. Nicht der „Big Brother“ ist es, der ihm nachts den Schlaf raubt, sondern „the Big Other“: Flüchtlinge, jene Wesen, die aus allen Ecken und Enden dieser Welt auf uns zukommen. Mit denen die Wirklichkeit in unser Bewusstsein einbricht, wie der Autor Navid Kermani geschrieben hat. Und mit denen, laut Lichtmesz, selbst unser Unbewusstes in unser Bewusstsein einbricht – wie Zombies:
Das ist ja sehr auffällig, die Popularität von Zombie-Filmen. Das interessiert mich sehr, dieses Szenario: Die Zivilisation bricht zusammen, dann hat man so eine kleine Bande, die gegen eine Übermacht kämpft – macht ja auch Spaß, dieser „catastrophy porn“.

Unsere Wirklichkeit, erzählt als „castastrophy porn“. Das ist es, was wir täglich erleben. Eine Invasion von Zombies bedeutet immer auch, dass man das eigene Haus abdichten muss gegen Wesen, die von Unten oder Außen eindringen könnten. Lichtmesz hat das „Heerlager der Heiligen“ von Jean Raspail aus dem Französischen übersetzt, ein Buch, 1972 während eines Aufenthalts an der Cote d’Azur entstanden, vom Autor zurückgeführt auf eine „Vision“:
An diesem Karsamstag belagerten 800.000 Lebende und Tote friedlich die Grenze des Abendlandes. Der alte Professor Calguès richtete das Rohr seines Teleskops auf ein von der Sonne besonders gut angestrahltes Schiff und regelte die Einstellung auf klarste Sicht, wie ein Forscher, der in einer Bakterienkultur die von ihm beschriebene Mikrobenkolonie entdeckt. Dann bricht der Sturm los: die Flüchtlinge kommen an Land, treten alles mit Füßen, fäkalieren in die Ecken, beißender Latrinengestank breitet sich aus. Eine Orgie aus Scheiße, wie die Basreliefs der Hindutempel. Massen, Massen, Massen. Massen und Dreck. Abgründe des Elends und der Not. Alptraumhafte Szenarien. Magere Arme, nackte Arme, schwarze Arme, braune Arme streckten sich dem zum Greifen nahen Ufer entgegen. Sie ragten aus weißen Leingewändern hervor, es waren die ausgemergelten Arme Gandhis. Viel zu unglücklich, viel zu bejammernswert. Viel zu grauenhaft in ihrem Elend. Wir müssen das Elend töten. Denn ein solches Elend ist absolut unerträglich. Es darf nicht zugelassen werden.

Noch unter dem Eindruck der Bilderflut der neuen „Boatpeople“ auf dem Mittelmeer nannte Lichtmesz Raspails Buch von 1973 einen „verblüffend hellsichtigen Roman“.
Natürlich ist das problematisch. Aber wo kämen wir hin, wenn die Literatur nicht problematisch wäre. Man muss bedenken, dass das Literatur ist. Ein künstlerischer Ausdruck. Wenn man das aufmerksam liest, wird man das nicht mit der Wirklichkeit verwechseln.

Einige Tage nach meinem Besuch in Wien las ich den Facebook-Eintrag von Thomas H., dem Attentäter auf ein Flüchtlingsheim in Groß Lüsewitz –
„Also man sagt ja, die größte Scheiße schwimmt in Gülle immer oben, aber in dem Fall wohnen sie oben.“

Und ich konnte nicht anders als an Lichtmesz’ Worte denken, daß das nur Worte sind. Wer das kollektive Unterbewusste derart mästet mit fremdenfeindlichem Bildmaterial, wie kann der sich dann mit Berufung auf Kunstfreiheit seine Hände in Unschuld waschen? Ist der nicht im Wortsinn ein geistiger Brandstifter? Mehr noch, ist der nicht selbst ein „Pornograph der Katastrophe“?

Nach der Ausstrahlung des Radio-Features war Lichtmesz ehrlich empört: Ich hätte mich mit Mitteln der „Mimikry“ – der Verstellung und arglistigen Täuschung also – in sein Vertrauen geschlichen.

Ich habe mich gewiss nicht interviewen lassen, um den x-ten Artikel zu lesen, der mich und die Leute, mit denen ich zusammenarbeite, als „gefährlich“, „tückisch“ und kreidefressende Wölfe hinstellt. Eine Nummer, die umso perfider ist, als sie einem einen Verdacht anhängt, den man weder beweisen noch widerlegen kann. Ich bedaure zutiefst, dass ich mich von Dir habe einseifen lassen. Nein, man kann euch einfach nicht vertrauen, egal, auf welchen Pfötchen ihr daherkommt. Wir werden sehen, wer von uns beiden Kreide gefressen hat.

Ich wiederum war getroffen von der Wucht seiner Wut: Andererseits: Hatte ich ihm je einen Rosengarten versprochen?

Vielleicht hast Du recht, und ich habe Kreide gefressen, um unter den Wölfen zu wildern. Im Infamen bist Du der Meister, „abartig" habe ich Euch jedenfalls nicht genannt. Aber was soll’s, am Ende ist es doch so: Both read the Bible day and night / But thou read’st black where I read white. (The Everlasting Gospel, William Blake)

In seinen Bezichtigungen zeigte Lichtmesz weniger die höfliche Zurückhaltung eines Konservativen, eher waren seine Reaktionen „reaktionär“:

Das wird nicht ohne Antwort bleiben, verlass Dich drauf.

Am 1. Juni brachte er dann in Kubitscheks Sezession seine Replik. Veröffentlichte, natürlich ohne mein Einverständnis, unseren privaten Mailverkehr. Stellte auch das gesamte Gespräch online, das ich – Schaf, das ich bin – ihm vertrauensselig zugespielt hatte. Um damit zu belegen: ich hätte es nach unserem Gespräch mit der Angst bekommen.

Es war einmal ein kleines süßes Mädchen, das hatte jedermann lieb, der sie nur ansah, am allerliebsten aber ihre Großmutter. Einmal schenkte sie ihm ein Käppchen von rotem Samt, und weil ihm das so wohl stand, und es nichts anders mehr tragen wollte, hieß es nur das Rotkäppchen.

Als ich die Haltungen der Identitären für die Öffentlichkeit bearbeitete, habe ich Sellner und Lichtmesz porträtiert und ihnen damit auch einen Spiegel vorgehalten. Und was sie sahen, hat ihnen offensichtlich nicht gefallen. Sellner will den Patrioten in sich sehen, ich sah in ihm den Demagogen. Lichtmesz gibt den Konservativen, ich nahm den Reaktionär wahr. Es ist genau wie der Kollege Jens Jessen am 21. März 2018 in der „Zeit“ schrieb:

„Der Begriff des Konservativen wird oft gewählt, um das Reaktionäre zu tarnen. Genauso wie der Begriff des Reaktionären dazu dient, den Konservativen zu denunzieren.“

Rotkäppchen wunderte sich, dass die Tür aufstand, und wie es in die Stube trat, so kam es ihm so seltsam darin vor, dass es dachte: Ei, du mein Gott, wie ängstlich wird mir's heute zumut, und bin sonst so gerne bei der Großmutter! Es rief: „Guten Morgen“, bekam aber keine Antwort. Darauf ging es zum Bett und zog die Vorhänge zurück. Da lag die Großmutter und hatte die Haube tief ins Gesicht gesetzt und sah so wunderlich aus. „Ei, Großmutter, was hast du für große Ohren!“ – „Dass ich dich besser hören kann!“ – „Ei, Großmutter, was hast du für große Augen!“ – „Dass ich dich besser sehen kann!“ – „Ei, Großmutter, was hast du für große Hände!“ – „Dass ich dich besser packen kann!“

Der letzte Satz von Lichtmesz’ letzter Mail lautete: „Du schreibst noch in der Sprache des alten Paradigmas, aber the times they are a-changin'.“ Und könnte er da nicht recht behalten, wenn den Rassismus, den Identitäre verhehlen, die AfD heute im Bundestag herausposaunt? Wenn aus Worten längst Tagen, und aus Jägerhallali wie „Wir werden sie jagen“ in Chemniz längst Menschenjagden geworden sind? Müsste man heute nicht umgekehrt fragen, wozu es die Identitären noch braucht. Mit all ihren Diskursinfektionen und Angst-Inflationen, mit ihrem Marsch durch die Institutionen, wenn Bürgerliche und Neonazis, Innenminister und Verfassungsschützer Seit’ an Seit’ gegen das System Merkel marschieren – haben sich die Identitären da nicht längst zu Tode gesiegt?

Ich meine, dass es um so dringlicher ist, die Geister unterscheiden zu lernen. Die Geister, die in einem Januskopf wie Sellner wohnen, in dem man einen modernen Dutschke, aber ebenso einen modernen Goebbels sehen kann. Die Identitären bleiben ideologisch der harte Kern dessen, was heute bereits als konservative Wende beschrieben wird. Wo die FPÖ Identitäre strafrechtlich verfolgt, wohl, um sich selber reinzuwaschen, unterwandern Identitäre die Junge Alternative (trotz Unvereinbarkeitsbeschluss), sind Ehrengäste auf dem Kyffhäusertreffen des rechtsnationalen Flügels der AfD, schreiben AfD-Parlamentariern ihre Reden. Und da tönt die Menschen-Verachtung immer unverstellter durch. In den Obertönen identitärer Dog Whistler wie Björn Höcke mit weißer Rose im Knopfloch: „Heute, liebe Freunde, lautet die Frage Schaf oder Wolf. Und ich, liebe Freunde, meine hier, wir entscheiden uns in dieser Frage: Wolf.“ Ist es unmöglich, nicht auch Goebbels mitschwingen zu hören.

„Wir gehen in den Reichstag hinein, um uns im Waffenarsenal der Demokratie mit deren eigenen Waffen zu versorgen. Wir werden Reichstagsabgeordnete, um die Weimarer Gesinnung mit ihrer eigenen Unterstützung lahmzulegen. Wenn die Demokratie so dumm ist, uns für diesen Bärendienst Freifahrkarten und Diäten zu geben, so ist das ihre eigene Sache. Wir zerbrechen uns darüber nicht den Kopf. Uns ist jedes gesetzliche Mittel recht, den Zustand von heute zu revolutionieren. […] Wir kommen nicht als Freunde, auch nicht als Neutrale. Wir kommen als Feinde! Wie der Wolf in die Schafherde einbricht, so kommen wir.“
(Was wollen wir im Reichstag?, in: Der Angriff vom 30. April 1928; Nachdruck in: Joseph Goebbels (Autor), Hans Schwarz van Berk (Hrsg.): Der Angriff, Aufsätze aus der Kampfzeit, Franz Eher Nachf., München 1935, S. 71 u. S. 73

Der Jäger ging eben an dem Haus vorbei und dachte: Wie die alte Frau schnarcht! Du musst doch sehen, ob ihr etwas fehlt. Da trat er in die Stube, und wie er vor das Bette kam, so sah er, dass der Wolf darin lag. „Finde ich dich hier, du alter Sünder,“ sagte er, „ich habe dich lange gesucht.“ Der Jäger schoss nicht, sondern nahm eine Schere und fing an, dem schlafenden Wolf den Bauch aufzuschneiden. Wie er ein paar Schnitte getan hatte, da sah er das rote Käppchen leuchten, und noch ein paar Schnitte, da sprang das Mädchen heraus und rief: „Ach, wie war ich erschrocken, wie war's so dunkel in dem Wolf seinem Leib!“ Und dann kam die alte Großmutter auch noch lebendig heraus und konnte kaum atmen. Rotkäppchen aber holte geschwind große Steine, damit füllten sie dem Wolf den Leib, und wie er aufwachte, wollte er fortspringen, aber die Steine waren so schwer, dass er gleich niedersank und sich totfiel. Da waren alle drei vergnügt. Der Jäger zog dem Wolf den Pelz ab und ging damit heim, die Großmutter aß den Kuchen und trank den Wein; Rotkäppchen aber dachte: Du willst dein Lebtag nicht wieder allein vom Wege ab in den Wald laufen, wenn dir's die Mutter verboten hat.


Manuel Gogos — Autor, Kritiker, Ausstellungs- und Filmemacher, zuletzt mit der Arte-Dokumentation „Unter Fremden. Auf der Reise zu Europas Neuen Rechten“ (2017). Seine Arbeiten bewegen sich zwischen wissenschaftlicher Essayistik, Hörbildern und Bildsprachen. Er promovierte über jüdische Diasporaliteratur. Von 2002 bis 2005 war er im Forschungs- und Ausstellungsprojekt „Projekt Migration“ der Kulturstiftung des Bundes tätig. Seit 2005 firmiert er in seiner „Agentur für Geistige Gastarbeit“ als freier Kurator und kuratorischer Berater.

→ http://www.geistige-gastarbeit.de./