Untitled [Ich werde keine Titel mehr vergeben, solange Rassismus, Nationalismus, Sexismus und Haß gegen Homosexuelle, Transidente und Muslim*innen dieses Land bestimmen]

13. September 2017 — Demagogie

Die Hartherzigkeit, die diese Republik erfasst hat, klingt so weich, wenn du schwäbelst, Boris Palmer. Und mit dieser Niedlichkeitsschnute, mit jeder Harmlosigkeitsplattitüde als verdeckte Herzlosigkeitsattitüde, mit deiner Genugtuungsstimulations- und Genügsamkeitssimulationsspielerei preschst du vor in die Öffentlichkeit.
Nach Pirinçci, Sarrazin, Sieferle freut sich nun auch ein Grüner diebisch, ein Sachbuch aus dem Fundus seiner eigenen Vorstellungskraft geboren zu haben. Nach dem längst erprobten Muster: I know this is fake, but I want it to be real so bad.
Anfang August war es so weit: Nun stellte Palmer1 sein Buch in Veranstaltungen und Interviews vor, und „[e]r trat nicht ohne das innere Zaudern ein, das alle Phantasiemenschen empfinden, wenn sie die Gewissheit haben, vor einem Kampfe zu stehen.“2 Was solls? Man muss lernen, gut zu plaudern und Dinge zu dramatisieren, die an sich nicht sonderlich dramatisch sind. Jedenfalls nicht dramatisch für einen Menschen, der einer 87.000-Seelen-Stadt als Oberbürgermeister vorsteht, ohne sich für alle Seelen gleichermaßen zu interessieren.

But who will save YOUR soul, Boris Palmer?

Wenn Journalist*innen fragen, warum Palmer regelmäßig von seinem Social-Media-Account aus Ressentiments gegen nicht-weiße Menschen verbreitet,3 gegen gewaltbereite und -tätige biodeutsche Fußballfans aber nicht, lautet die Antwort: „Ich erwarte von Menschen, die Hilfe in unserem Land suchen und bekommen, mehr Rücksichtnahme als von denen, die hier aufgewachsen sind.“4 Es gelten also mindestens zweierlei Maßstäbe. Doch die haben ja NUR mit Bildern zu tun. Bilder, auf denen arabischstämmige Männer am Gleis sitzend aufgereiht werden, da sie schwarzfuhren.
Palmers Social-Media-Pranger zeigt, worauf es ihm ankommt:
ERZIEHUNG NACH SCHWÄBISCHER ART => Beim nächsten Mal werden sie nicht mehr schwarzfahren! (Aber immer noch schwarz sein?)
ABSTANDSWAUWAU SPIELEN => Einer muss ja drauf achten, dass deren Werte einen Abstand zu unseren behalten, damit sie nicht in eins fallen! (Und dafür muss ich bellen!)
TABUS DURCHBRECHEN UND DAMIT DIE VIERTE WAND=> Wird man ja wohl noch sagen dürfen! (Zum Publikum!)

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Palmers politisches Prinzip – irgendwann werde ich schon was greifen!

Wie Palmer Bilder behandelt, ist fahrlässig. Als wären es nur Bilder. Als wären diese Bilder nur ein Beweis für Dinge, die SO oder SO sind und nicht anders sein können. Als wären Bilder wie die, die er selber produziert, nicht alles durchdringend. Sie durchdringen die Dinge, die sie abbilden, sie durchdringen die Menschen, die sie abbilden, sie durchdringen auch denjenigen, der diese Dinge und Menschen abbildet, sie wirken auf ihn zurück. Und letztlich geht es Palmer auch vor allem um diese Wirkung: Er will von diesen Bildern durchdrungen dastehen: erhaben und zugleich geerdet im Schein. Darin steht er seinen Gedankengenoss*innen von der rechtsextremen Front in nichts nach.5
So polemisiert er – wie viele andere Rechte – in jedem zweiten Statement gegen Moral, beziehungsweise, wie es bei ihm heißt, „moralisierende Politik“. Ein weiteres Mal wird Moral als etwas dargestellt, das unehrlich, dumm, humorlos und jenseits aller Realitäten ist. Vielleicht ist Moral auch genau das. Aber was könnte diese Aussage bedeuten, wenn nicht nur eine bestimmte Moral gemeint wäre?
Boris Palmers Moral ist vielleicht eine andere als die jener, die er diffamiert, wenn er vom „liberalen Bürgertum“ spricht. Aber ist seine Moral die der „Unterschicht“, zu deren Sprecher er sich stilisiert – um sich durch die Wahl dieses Begriffs doch zugleich zu distanzieren? Es gibt nicht einfach EINE Moral. Es gibt die Moral derjenigen, die bedingungslos für Menschenrechte einstehen. Es gibt die Moral derjenigen, die bedingungslos für ihresgleichen und ihr unmitelbares Umfeld einstehen. Es gibt die Moral derjenigen, die bedingungslos für sich selbst einstehen, nur für sich, für ihre eigene PERSON.

I know this is real, but I want it to be fake so bad.

Ob Palmer mit dieser Taktik irgendwann noch einen ehrenvollen Abgang ohne Gesichtsverlust schaffen wird – oder ohne Geschichtsverlust? Einen Teil der Geschichte und der Geschichten WILL er nicht sehen, obwohl es genau das ist, was er seinem grünen Parteikollegium vorwirft.
Und die PR-Maschinerie? Die läuft und läuft und läuft. Diese Mitte-Maschine, die jede weit rechte Äußerung über ein Fließband laufen lässt, auseinanderpflückt, in eine kleine Box legt, einen goldenen Deckel auf die Box drückt, ein Schleifchen dranklebt, das ganze ausspuckt – und so als Teil der bürgerlichen Mitte ausgibt.
Am Ende bleibt der leise Verdacht, der dir, Boris Palmer, ins Ohr flüstert: Du sagst all das nicht, weil du denkst, dass es so ist, sondern DAMIT es so ist, damit es sich so manifestiert und so bleibt.
Im Interview mit dem SPIEGEL gibst du noch zu Protokoll: „[S]pätestens seit den Übergriffen in der Silvesternacht in Köln kommen selbst grüne Professoren zu mir, die sagen: Ich habe zwei blonde Töchter, ich sorge mich, wenn jetzt 60 arabische Männer in 200 Meter Entfernung wohnen.“6 Ein Jahr später wird diese Aussage zurückgenommen:7 „Ich würde heute auch das Wort ‚blond‘ aus dem Spiegel-Interview streichen.“8 Du würdest es zwar immer noch denken, immer noch sagen, aber dann die PR-Pinzette in die Hand nehmen, um die eigenen Dünkel herauszuzupfen.
Boris Palmer, du ideologische Konfettikanone. Du schießt mal wieder eine Ladung Papierschnipsel in den Raum, und während alle staunen, wie es vom Himmel rieselt, hast du die Tabulinien des demokratischen Diskurses schon wieder mit verschoben. Schon sehen die Fakten aus wie Emotionen und die Emotionen wie Fakten.9
Was Palmers Ideologie ist, ist in der Mode ein zu tief ausgeschnittenes Kleid: Beide zeigen mehr als sie verhüllen, und verhüllen durch dieses Zeigen umso mehr. Und wir schauen dir die ganze Zeit in den Ausschnitt, Boris Palmer! Alles, was bleibt, ist dieser Ausschnitt! Und wenn wir hinterher dein Gesicht nachzeichnen sollen, können wir das nicht. Aber du lachst nur, rebellisch, unangepasst und rufst: Fun Fact – I have a lot of luv to give!

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Gutmensch beim Grinsen.

Wir können dem Humanismus nicht halb verpflichtet sein.
So wie wir nicht halb in einem Land bleiben können.
So wie wir nicht halb lieben können.

Wer nicht dafür einsteht, dass ein Land wie Afghanistan kein sicheres Herkunftsland sein kann, wer nicht bedingungslos für die Rechte Geflüchteter eintritt, wer zwischen ihnen und denen, die vorher schon in diesem Land waren, eine Grenze aufmacht und kriminelles Verhalten einzelner Schwarzfahrer und einzelner Sexualstraftäter aus dem Kontext reißt und sie zu rassistischen Stereotypen verdichtet, der ist entweder naiv oder spielt ein gefährliches Spiel. Und du Palmer, pokerst.
Was tun gegen diesen geistigen Klimawandel, der sich im Zuge solcher Karriere- und Kampagnenhengste wie Palmer, Scheuer und Weidel abspielt? So oder so: Es ist schwer ihn zu leugnen. Rassismus, Nationalismus, Sexismus, Hass gegen homosexuelle und transidente sowie muslimische Menschen existieren – egal, in welcher politischen Ecke.
Anstatt die Definition von Rassismus beständig zu verändern – denn ansonsten wären wir unter Umständen selbst Rassist*innen! –, sollten wir die existierende Definition ernstnehmen. Wir sollten anerkennen, dass auch Die Grünen keine nicht-rassistische, nicht-nationalistische, nicht-sexistische und nicht-islamophobe Partei bilden. Die Grünen sind nicht die Partei, die wir uns erträumten. Wir sollten klipp- und klarmachen: Was Palmer sagt, IST rassistisch. Anstatt drauf hereinzufallen, dass er sagt, nicht alle, die sich rassistisch äußern, seien auch Rassisten, sollten wir ihn dazu ermutigen, zu seinem eigenen Rassismus zu stehen. Wenn du den Rassisten performst, dann bist du auch einer.
Also: Weg mit der Verschleierung der Begriffe! Lass uns in dein Gesicht sehen, Boris Palmer! Auch wenn die Abgründe am Rande deiner Verschleierung wahrscheinlich erst beginnen.


  1. Bürglicher Sonderberater für Deregulierung rechter Hetze. 

  2. Honoré de Balzac: Verlorene Illusionen, Übersetzung: Hedwig Lachmann. 

  3. Ist das eigentlich das Hobby oder die hauptberufliche Tätigkeit aller rechten Politiker*innen? 

  4. taz.de/Boris-Palmer-ueber-Fluechtlingspolitik/!5432230 

  5. Die ihn ja auch prompt als Freund im Geiste feiern – wenn sie auch bedauern, daß das, was er sagt, sie selbst nie sagen dürften, nur, um es dann doch zu sagen: sezession.de/57251/zehn-thesen-zu-boris-palmer

  6. spiegel.de/spiegel/die-gruenen-boris-palmer-will-mehr-fluechtlinge-abweisen-a-1077806.html 

  7. NOT! 

  8. taz.de/Boris-Palmer-ueber-Fluechtlingspolitik/!5432230 

  9. Vgl. im oben zitierten taz-Interview: „Schwere Straftaten von Asylbewerbern nehmen leider zu. Aber das hat mit der Bedeutung des öffentlichen Raums zu tun. Tatsächlich findet natürlich die Masse der Vergewaltigungen im privaten Umfeld statt und wird nie öffentlich. Deshalb ist der Standardtäter in Deutschland auch ein weißer Mann. Aber die angsteinflößende Wirkung von Gewalt auf die Allgemeinheit entsteht im öffentlichen Raum. Wenn Frauen glauben, sich dort nicht mehr frei bewegen zu können, dann können Sie ihnen diese Angst nicht mit Zahlen nehmen.“ 


Jörg Albrecht — geboren 1981 in Bonn, aufgewachsen in Dortmund, lebt in Berlin. Er schreibt Prosa, Essays, Hörspiele sowie Texte für Theater und Performance. Seit 2018 baut er als Gründungsdirektor das Center for Literature auf Burg Hülshoff bei Münster auf. Jörg Albrecht ist Mitglied des PEN-Zentrums Deutschland.

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