Vergangenheit und Gesellschaft (Ein X-Men-Regierungs-Crossover)

14. März 2018 — Demokratisierung

„2018 markiert aber auch den 80. Jahrestag des Anschlusses Österreichs an das nationalsozialistische Deutsche Reich. Auch diesem Ereignis, das mit viel Leid verbunden war und einen wesentlichen Schritt hin zu einer der größten Tragödien in der Weltgeschichte bedeutete, muss in einem würdigen und respektvollen Rahmen gedacht werden. Österreich bekennt sich zu seiner Mitschuld und 
Verantwortung.“
(Österreichische Bundesregierung)

Ich erinnere mich an fast nichts mehr, auch so eine Tugend, ist das die fortgeschrittene Staatsbürgersterncheninnenehre oder liegts an der sozialen Kälte, der der Körper irgendwas zu opfern hat, um sich warmzuhalten? Aufs Denken lässt sich schließlich verzichten, so lange man im richtigen Umfeld vor sich hinsuppt, in dem ohnehin nicht richtig gedacht wird, oder das einem das Denken wahlweise auch gerne abnimmt, es einsteckt, wegpackt und so lange weiterredet, bis der Unterschied nicht mehr auffällt. Fragen: viele. Antworten: Kurz. Was war noch mal die Frage, die man hier zu stellen hatte, nein, hätte, in diesem Jubiläumsjahr? Die Gedanken stürzen ineinander, türmen sich auf, stürzen wieder ineinander, verwachsen sich miteinander, laufen aufeinander auf, die Geschichte erzählt sich weiter, formt sich weiter, alles geht leider immer weiter, ohne dass ein Sinngehalt dran festzumachen wäre, dass der festzuhalten wäre. Egal. Wenn man sich an nichts mehr festhalten kann, wenn man an nichts mehr etwas festmachen kann von Bedeutung oder sogenannter Perspektive, was kommt denn dann? Keine Ahnung. Im Sonderangebot wäre da ja immer noch die Nation, irgendwas bleibt ja immer übrig, die nimmt sich keiner aus dem Geschenkkörbchen der möglichst billigen Offerte, wenn das Heimatglitzerpapier einmal abgegangen ist, wenn das abgezogen worden ist, wenn so viel drangehängt worden ist, dass jede Glitzerverpackung kapitulieren muss unter der Bedeutungslast. Aber Glitzerpapier ist zum Glück der Mindestlebensstandard, den wir hier zu bieten haben, beziehungsweise geboten bekommen. Und Geschenke, vor allem wenn sie glitzern, sind schließlich die schönste Perspektive von allen, egal, was drin ist oder war. Und das war so einiges. Egal. Ich erinnere mich schließlich an fast nichts mehr, auch so eine Tugend, und zwar eine landdurchdringende, das entnehme ich dem ebenso glitzrigen Bildband, diesem Hochglanzbilderbuch mit seinem Punktefahrplan, der der Regierung ein neues Land schenken soll, eines, in dem kein widerständiger Geist sich regt, nein, regen kann. Der Bildband enthält Überlegungen zu Zukunft und Gesellschaft, nein, zu Vergangenheit und Gesellschaft, weil warum in die Ferne lügen wenn das Altbekannte so nah liegt, weil man ohnehin noch mit einem Bein darin herumsteht, nein, herumsteckt, nein, vor sich hinwartet, bis die sogenannte Gegenwart wieder vorbei ist und man sich endlich wieder diesem Gestern zuwenden kann, in dem alles besser war. Eine Gesellschaft also, die sich auf Vergangenheit gründet. Ja, und wie kommen wir da jetzt wieder hin? Es empfiehlt sich eine Reform das Schulsystem betreffend, und zwar eine noch allumfassendere als die ohnehin schon angedachte: Zugangsbeschränkungen zu Bildung sollen nicht bloß ausgebaut, sondern zum Hauptreformkriterium erhoben werden. Geplant ist eine Schule, in der besondere Fähigkeiten so aus dem Nachwuchs herausgekitzelt werden, dass die Zukunft demnächst endlich nicht mehr ins Gewicht fällt, weil sie ohnehin nicht kommt. HCs School for Gifted Youngsters, schließlich haben auch die X-Men mal klein angefangen, und schließlich wurden auch die X-Men als Täter missverstanden, manchmal auch als Täterinnen, als Randgruppe, Deformierte, Monster, also warum nicht gleich am großen Vorbild orientieren und so beispielhaft aus der Opferrolle rauskommen? Oder endgültig in die Opferrolle hineinkommen? Ach, egal. Mutatis Mutandis - oder: Geändert wird nur, was geändert werden muss. Das war ja einfach. Der feindlichen Superkraft des Großen Austauschs eigene, neue, nein, alte Superkräfte entgegenhalten, die im Nachwuchs so lange herangezüchtet werden, bis er zwischen Geschichte und Geschichten nicht mehr unterscheiden kann. Die Superkraft in die innere Vergangenheit zu migrieren zum Beispiel? Ja, die auch. Und die Superkraft sich ewiggestrig zu fühlen ? Ja, die auch. Und die Superkraft der selektiven Wahrnehmung? Ja, die auch. Und die Superkraft der Formenwandlerei? Ja, die auch. Wenn man sich als Opfer fühlen kann, das ist schon was Schönes. Ja, schon schön. Ja, also, und die Superkraft der Aktenvernichtung? Nein, die leider noch nicht, da muss derweilen noch die alte Heldengarde ausrücken1, mit ihren Degen und Paintballpumpguns und im Namen des Gesetzes zur Korruptionsbekämpfung anmarschieren, um dabei gleich noch, wie es der Zufall halt so will, Recherchematerial mitabzustauben, das die eigenen Superheldenreihen in ein eher finstres Licht taucht. Nein, tauchen könnte. Nein, tauchen gekonnt hätte. Welches Recherchematerial? Egal.

Mutatis Mutandis.

Das war ja einfach. Auch so eine Kraft: Die Kraft der Geschichtsneuschreibung. Aber dafür braucht es keine Bildung, die wird mit der Staatsbürgerschaftswerdung gleich feierlich mitüberreicht. Jeder muss schließlich irgendwas können. Zumindest an sich finden können, worauf man dann stolz sein kann. Wenn man eine Geschichte hat, das ist schon was Schönes. Apropos Geschichte: HCs School for Gifted Youngsters - auch so ein altehrwürdiger Verein. Denn Geheimbünde mit Superkräften, die so super sind, das man den Mantel des Schweigens darüber breiten muss, um der drohenden Verantwortung noch ein letztes Mal ausweichen zu können, puh, Glück gehabt, solche Geheimbünde, die haben hier schließlich Tradition. Ab 1923 im leopoldinischen Trakt der Wiener Hofburg als Sammelbecken deutschnationaler Verbindungen installiert (im heutigen Sitz des Bundespräsidenten - kommt daher diese Selbstverständlichkeit, sich über ihn hinwegzusetzen?), durch hochrangige Mitglieder (Polizeibeamte, Professoren, Regierungsmitglieder der Ersten Republik) dekoriert, dem Nationalsozialismus mehr als zugetan.; 1939 zwar als sogenannter „Deutscher Klub“2, aufgelöst, nicht jedoch, ohne dessen Mitglieder in wichtigen Leitungspositionen - Rektoren, Bürgermeister, Dekane - fest zu verankern, und zwar fest genug, um sowohl den schönen Verein nach Kriegsende wieder auferstehen lassen als auch sich aufgrund der Auflösung vom Nationalsozialismus distanzieren zu können. Und die Kraft der Verantwortungsvernichtung? Ja, die auch, die vor allem auch.

img_6164-820x615-q92

Wir sind die Bilder, die wir uns von andren machen, damit sich keiner eines von uns machen kann, und die stapeln wir so dick, dass der Unterschied zur Welt nicht auffällt, dass das, was darunter liegt, jetzt nicht mehr ins Gewicht fällt. Wir wenden unsre Bilder nicht, da hat wer was auf die Rückseite gekritzelt, wars die Welt, war das ein Zeuge, wars die sogenannte Wirklichkeit?, egal, denn wir wenden unsre Bilder nicht, wenn man einen Standplatz hat, das ist schon was Schönes. Nein, wenn man einen Standplatz hat, von dem aus man ordentlich schauen kann, nein, ordentlich schießen, aber nur gegen die andren, ja, das schon. Das Gegenüber, durch das wir unsere Geschichte erzählen, ist durchlöchert, aber von unsren Blicken wird es nicht durchlöchert, die bringen es in Form, damit die sogenannte Wahrheit danach daran abgleiten kann und muss. Damit all jene an unserer Geschichte abgleiten, die sie nicht miterzählen wollen, nein, sollen. Die Geschichte unseres Landes, unseres Europas, unserer Welt.

Wenn man eine Opfergeschichte hat, das ist schon was Schönes.


Gerhild Steinbuch — geboren 1983 in Mödling (Österreich), lebt in Berlin. Studium Szenisches Schreiben in Graz und Dramaturgie an der HfS Ernst Busch, Berlin. Arbeitet sowohl allein an Essays, Prosa und Theatertexten als auch im Kollektiv Freundliche Mitte, sowie als freie Dramaturgin.