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man muss den ganzen Körper als Hirn benutzen

26. Juli 2017 — Demokratisierung

Sommer 2017, es regnet seit ca. 365 Tagen. Unausgesprochenes Motto: Berlin fluten. Abpumpen. Leicht antrocknen lassen. Nochmal fluten. Et cetera. Die Feuerwehr rät, möglichst Zuhause vor den Bildschirmen zu bleiben.

Die Augen eben erst aufgeschlagen, zappe ich im Liegen durch Statusmeldungen, Headlines, Nachrichtenfetzen, bis mir das Smartphone auf die Fresse fällt. Also aufstehen. Um 9:30 zurück vom Yoga, notiere ich: Wir als Yogamatten-Gesellschaft. Einmal durch alle Widerstände und zurück. Man muss den ganzen Körper als Hirn benutzen.

Die Autor_in ist anwesend. Der Cursor ist ein Ausrufezeichen. Der Text ist keine Privatsache. Er geht alle an. Machen Sie präzise Aussagen zum Thema, jedoch nicht über XYZ Normseiten Länge. Schreiben Sie schnell! Liefern Sie in 48 Stunden! Der Ausgangszustand ist der Angstzustand, in dem der Text noch nichts weiß. Welche Wirkung wird es haben, interpretiert, kategorisiert und zitiert zu werden? Was der Text zusammengefügt hat, wird auseinandergenommen werden. Der Text ist körperlich, die Seiten gut durchblutet, zwischen den Zeilen ein Herz, das schlägt.

Juli 2017, Berlin, Time to say goodbye oder frei nach C.: Ein Rausch von Arbeit seit XYZ Jahren, wir bedanken uns bei unseren Feinden, wir bedanken uns beim künstlerischen Personal, wir bedanken uns bei den Arbeitern, wir haben Solidarität geübt, wir fordern/der Text fordert ein gleichberechtigtes Verhältnis zwischen Kopf- und Handarbeit, wir gewinnen Schlachten und verlieren Kriege, wir haben/der Text hat politische Hoffnung, wir werden/der Text wird enttäuscht werden (das gehört dazu), wir hoffen, dass wir nicht Zorn mit Wut und Hass verwechseln, wir wünschen uns allen, ganz Europa und dem Rest der Welt, einen symbolischen Sommer mit viel Regen. 1

Feedbackrunde: Das Herz, der Zorn, die Wut, das durchdachte wiedergekäute Wort, aha, schön und gut, aber das wird nicht reichen, das muss plakativer, muss subversiver, muss auch mal provozieren, gscheid provozieren, vastehst mi? Sonst lockt das keine NaziIdentitärPopulist*innenS A U et cetera hinterm Ofen äh Bildschirm hervor.

Bildbeschreibung, Istanbul, #scholl2017: Wir sehen: Einen Standard Office-Drucker, unscheinbar grau, aus der Vogelperspektive betrachtet, gegen ein ebenso unscheinbares Fenster gekippt. Flugblätter, die aus dem Fenster Richtung Straße segeln. Eins nach dem anderen. Wo die Öffnung in der Scheibe ist, können wir von hier aus nicht sehen. Wir hören: das monotone, unermüdliche Klick und Klack des Druckers im Arbeitsmodus, während unten auf der Straße dottergelbe Taxis vorbeiziehen, ein Taxi nach dem anderen, ein schwarzes Auto biegt links ab, auf der anderen Seite flanieren die Füße und Beine von – aus dieser Perspektive – kopflosen, namenlosen Passanten. Wenn wir genauer hinsehen, sehen wir im Bildausschnitt ein Stück der Preisliste des Hotel-Spas. Was wir auch sehen: Das Spiegelbild des Druckers, der segelnden Flugblätter im gekippten Fensterglas. Was auf den Flugblättern steht, bleibt den Betrachter*innen verborgen. Perspektivwechsel: Wir sehen den Drucker, jetzt aus größerer Distanz, gegen das Fenster gelehnt, jetzt ein grauer Monolith, das monotone Geräusch, unermüdlich. Das Fallen der Blätter Richtung Straße kann man aus dieser Perspektive nur ahnen. Wir hören, dass heftig an die Tür geklopft wird, wir hören, wie die Tür geöffnet wird, sehen, wie ein Mann und eine Frau hereinkommen, wir sehen nur ihre Torsi, die Köpfe bleiben außerhalb unseres Bildausschnitts, wir sehen zu, wie der Mann die Arbeit des Druckers stoppt und das Fenster schließt. Wir sehen, wie die Frau in unsere Richtung zeigt. Black. 2

J. sagt: Stell dir vor, die Brenner-Grenze zur Römerzeit: Nördlich der Alpen waren die Barbaren, die Völkerwanderung ging damals vom Norden Richtung Süden. Sprich: Die heutigen selbst ernannten Zivilisationsbewahrer sind die Barbaren von gestern.

Das Textsubjekt steht inmitten einer Landschaft, die an einem Strand liegt, im Gebirge, angrenzend an eine größere Stadt, an die Reihen von immer kleineren Städten, Stränden und Gebirgen anschließen, die unendlich auf- und absteigen. Der Text fällt durch die Jahrhunderte. Die Geografie, der Geburtsort, das Geburtsland des Textes ist sein Schicksal. Die Heimat immer das Wort. Der Text bekommt nur kleine Schnipsel zu fassen: Realitätskonfetti. Gedanken an die Kindheit, das Vergangene in der Vergrößerung und Verkleinerung und überhaupt, als die Sommer noch Sommer waren, und die Sommerlöcher noch Sommerlöcher, die Sehnsucht nach einer Leerstelle, nach dem Kommen und Gehen der Wellen, nach dem Geräusch der Stille.

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Sandra Gugic

Abends, zwischen zwei Regengüssen, ich esse mit einer Kollegin zu Abend:
––Wir haben ein paar Linke in unserer Hamburger Wohnung wohnen lassen, für die Dauer der Proteste, so linke Zecken aus Wien, ganz heiser haben die mich dann nochmal angerufen, ich war ja zu der Zeit in XYZ und in den Proben und vorübergehendnichterreichbar, aber auf meinem Band waren diese heiseren, abgekämpften Stimmen die DANKE gekrächzt, gehaucht haben. DANKE. Im Übrigen bin ich der Meinung, die Eskalation war vorhersehbar. Darüber hinaus: Die Unterscheidungen zwischen Gewalt an Menschen und Gewalt an Dingen sind keine Spitzfindigkeiten. Rückblickend ist das mediale Echo die Fehlinterpretation einer guten Sache.
Ich entgegne etwas über die Verhältnismäßigkeit der Mittel. Ich höre mir selbst nicht zu.

Frauke P., inszeniert als Madonna mit so-gut-wie-Neugeborenem, sagt: Trau dich, Deutschland! Diese sanften wissenden rehbraunen Mutterpolitiktieraugen vor babyblauem Photoshopverlauf kommen der Antwort zuvor die der Frage zuvorkommt: Und was ist Ihr Grund für Deutschland zu kämpfen?

Die letzten erwünschten Einwanderer titelt die TAZ über die Ankunft von zwei Pandabären im Berliner Zoo.

Ist das jetzt noch privat, oder schon politisch? Die Möglichkeiten fangen hier an, Schalter vier, wo die Mutterzunge des Vaterlandes verwiesen wird und Fragen sich quer stellen. Geben Sie eine Identität an, nehmen Sie eine allgemeingültige Präposition ein, umgehen Sie Zäune und andere Sprachbarrieren. Aus welchem Schreib-, Denk- oder Lebensprozess stammen Sie eigentlich? Jetzt aber raus mit der Sprache und zurück zum roten Faden zwischen innerer und äußerer Welt: Kehren Sie mal vor Ihrer eigenen Tür, mit großer Selbstverständlichkeit wartet dort ein Haufen angeblicher Muttersprachler, deren Sätze lassen sich definitiv verbessern, unter uns, zwischen den Zeilen, den Vorschlägen und Zuschreibungen. Zwischen Unterhaltungserwartung und Inszenierungsverdacht haben wir das Wort ANGST in die ganze Welt verkauft.

Die Therapeutin im Supervisionsgespräch: Ich habe den Eindruck, die konkrete Welt bleibt draußen, aber die Ängste, die mir gegenüber Platz nehmen, nehmen zu. Ich habe den Eindruck, dass jetzt verschüttete Dinge hochkommen, dass da richtige Traumata jetzt aufbrechen. Meine Patient_innen fragen: Warum geht das denn jetzt los? Ich habe keine Angst vor Terrorismus. Keine Angst vor Flüchtlingen. Aber warum geht das denn jetzt los? Ich glaube, die Antwort ist das Klima, ist der Sommer des Klimas der Unsicherheit.

Die Übersetzer_innen übersetzen: Unsere Mandant_innen aka die Antragsteller_innen haben sich Europa anders vorgestellt. (Und wir auch). Das Image wirkt zurück ins Heimat-nein, Herkunftsland, nein, in den sicheren Drittstaat, falsch, in das Erstankunftsland. Infolgedessen wird die EU mit sofortiger Wirkung auch als Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts bezeichnet. Hoffnung ist viel zu passiv.

Aktuelle Wettermeldung aus Berlin: Starkregen. Ein Fotograf aus Wien twittert: Lieber Freund! Welch ein Sommer! Ich denke Sie mir im Zimmer sitzend, mehr Omelette als Mensch. / Nietzsche, 1887

K. sagt: Neulich, während es draußen in Strömen geregnet hat, bin ich mit Ai WeiWei in der Kassenschlange bei Saturn angestanden. Echt jetzt.

Live im Studio Europa sitzt eine Dichterin und sagt: Does anybody remember how Britain was 40 years ago when nobody could go anywhere and everything tasted terrible? 3

Die Wirklichkeiten fallen dieser Tage sehr weit auseinander. Es ist die Rede von einer klaren Sprache und ihrer Abwesenheit. Wer spricht warum? In die Amygdala, das Angstzentrum in unserem Hirn, dringen Infraschallgeräusche, ist man diesen Frequenzen über längere Zeit ausgesetzt, kann dies zu Schlafstörungen, Ängsten, Depressionen sowie Gleichgewichtsstörungen und Tinnitus führen. Ohne Kommando sprechen alle gleichzeitig.

Listen und One-Man-Shows Eben noch hoffnungsvoll En Marche! gerufen, im nächsten Augenblick werden die Wohnbeihilfen gekürzt En Marche! denn zum Ausgleich gibt es Steuererleichterungen für die Wohlhabenden En Marche! Entlasten wir den Staat um 100 Millionen Euro, En Marche! Belasten wir den Staat mit bis zu vier Milliarden Euro. Meanwhile in Austria: Land der Bildung, chancenreich, werden breite Themenfelder abgeschritten und in Sommergesprächen die Besten Sager und klare Gewinner gekürt. Wir bieten: Knackig Kurz(e) Listen ellenbogentechnisch perfekt getimed präsentiert, im O-Ton: Wir brauchen keine Studien mehr um zu wissen, dass das falsch läuft, was da in Wien abläuft. Wir bieten jetzt auch: Transparente Listen. In these uncertain times stehen liegen fallen die Chancen politisierter Individualist_innen für ein respektables Abschneiden, steigt der Absatz politischen Frischfleischs für die mediale Wählerwunschmaschine, übrigens, sollte die Transparenz in der Darstellung der Medien problematisch sein, sei auch weiß möglich. 4

Debatten und Leser_innenbriefe Die Autorin findet in ihrem Maileingang eine Nachricht mit dem Betreff Anschreiben aufgrund der zufälligen Entdeckung Ihrer Person, liest darin Theorien über sich selbst, es wird vom Äußeren auf das Innere geschlossen, spekuliert, es wird von Faszination gesprochen, von Elfenlandhänden, Fragen gestellt, was die Autorin anmacht äh einschaltet et cetera. Der Mensch, der das geschrieben hat, gibt sich einen Frauennamen und gleichzeitig zu, mit einem Pseudonym zu schreiben. Die Autorin fragt sich, ob sie eine solche Nachricht auch als Autor bekommen hätte. Die Autorin wird kurz darauf eingeladen, einen Beitrag zur aktuellen Sexismusdebatte zu schreiben. Sagen wir: to be continued. 5

Einer plötzlichen Eingebung folgend stehe ich von meiner Arbeit auf, gehe zum Bücherregal, bleibe unvermittelt stehen und kann mich nicht erinnern, was ich eigentlich wollte. Draußen im Hof steht ein Kleinkind im dottergelben Plastikmantel im strömenden Regen und badet eine Superheldenfigur in einer Pfütze.

Die Mediatorin sagt: Stellt euch darauf ein, dass alles, was in Bewegung geraten ist, jetzt Zeit und Raum hat, zur Ruhe zu kommen.

Der erste Satz der polnischen Nationalhymne: Noch ist Polen nicht verloren.

Der letzte Satz der Kurzbiografie der Journalistin: Ich forsche vor allem über Krieg, Liebe und die Finanzmärkte.

Ein Satz, den ich unmöglich zuordnen kann: Ich träumte, dass ich träumte, die Revolution war verloren, bevor wir begonnen hatten.

In Flip Flops geht die Autorin durch einen leichten Hagelschauer nach Hause und erinnert sich an den Versprecher des Radiomoderators: Anschlag auf den Weihnachtsmann. Statt Weihnachtsmarkt.

Ich notiere: Seinen Assoziationen überlassen, verbringt der Mensch seinen Tag, indem er sich von einer Menge disparater Momente überschwemmen lässt. Zerstreuungen und Automatismen beherrschen das profane Bewusstsein. Ich notiere weiters folgende Schlagwörter: Antiregierungsdemonstration, erinnerungspolitisch, Gewaltgeschichte, Kontinuitätsdiskussion, Motivbündel, Realitätsbanalisierung. Ich streiche: Das Schweigen der Väter verbindet uns. Ich unterstreiche: Sprache ist kein Nebenschauplatz.

Sommer 2017, Berlin: Singing in the rain. Kiez fluten. Wasser abpumpen. Leicht antrocknen lassen. Berlin fluten. Wir betten das Jetzt in den Lauf der Geschichte ein. Der nächste Sommer kommt bestimmt.


  1. Frei nach Frank Castorfs Abschiedsrede, Juli 2017 

  2. Aktion des Zentrums für Politische Schönheit (ZPS), die unter dem Namen Scholl2017 firmiert und an den Widerstand der Geschwister Scholl erinnern soll. Die Szene im Text beschreibt eine Installation im Fenster eines Hotels am Istanbuler Gezi-Park, der Drucker wurde über einen Cloud-Dienst ferngesteuert. Auf den Flugblättern wurde zum Widerstand gegen den autokratischen türkischen Präsidenten Erdogan aufgerufen. 

  3. Lavinia Greenlaw am Poesiefestival Berlin 

  4. vgl. En Marche! Emmanuel Macron; Liste Kurz – Sebastian Kurz; Liste Peter Pilz 

  5. https://www.merkur-zeitschrift.de/blog/ 


Sandra Gugić — geboren 1976 in Wien. Studium an der Universität für Angewandte Kunst Wien und am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Veröffentlichungen (Prosa, Lyrik, Essays) in Zeitschriften und Anthologien, Arbeiten für Theater und Film. 2016 erhielt sie den Reinhard-Priessnitz-Preis für ihren ersten Roman Astronauten (C.H.Beck, 2015). Im Frühjahr 2019 erscheint ihr Lyrikdebüt Protokolle der Gegenwart im Verlagshaus Berlin.

→ http://sandragugic.com/