Wenn die Worte derer, die einst gegen Nazis kämpften zu Worten von Nazis werden

Ein Gastbeitrag von Sabine Scholl
03. Oktober 2018 — Rechtsterror

„WIDERSTAND“ rufen die schwarzbraun Gekleideten von Chemnitz im Fernsehen und gebrauchen diesen im Laufe der Jahrzehnte nahezu verklärten Begriff, der eigentlich den Kampf gegen das nationalsozialistische Regime bezeichnet, für gegenwärtige Aufrufe zur Gewalt.

Als ich derartigen Verdrehungen nachforsche, werde ich umgehend von einer Webseite mit „Herzlich Willkommen beim Widerstand“ begrüßt, welche neue Produkte bewirbt, z.B. den „Hochwertig gefertigten Autoaufkleber aus Vinyl, daher witterungsbeständig. Hält auch gut auf Messingplatten. Jeder Aufkleber ist eine Einzelanfertigung in einem regionalen Betrieb mit Angestellten, die schon länger hier leben“, erfahre ich. Die Motive sind aktuellen Geschehnissen angepasst:
Ein Sticker in der Art eines Messingstolpersteins, mit denen normalerweise an ermordete Juden erinnert wird. Hier mit der Aufschrift „Daniel H.“, der Name des Opfers aus Chemnitz.
Darunter ein Kleber in Form eines Judensterns mit der Aufschrift „Sachse“.
Die pervertierte Identifikation mit Ausgrenzung oder gar mit jüdischen Opfern des Nationalsozialismus wird auf diese Weise in greifbaren Produkten für jedermann zugänglich. Der Chemnitzer mit kubanischem Vater, der wegen seines dunkleren Teints früher von Rechten verprügelt wurde, wird zum Volldeutschen erhoben, sobald er nur von Ausländern angegriffen wird.

Auf der Webseite finde ich auch T-Shirts mit den Konterfeis der Geschwister Scholl. Entweder als Paar oder als Einzelporträt von Sophie. Darunter die Aufschrift „Wir würden AfD wählen“.
Ich verzichte, mir die auf Kaffeebecher und Handyhüllen etc. angebrachten Sprüche und Motive anzusehen. In einem Statement des Verkäufers werde ich beruhigt: „Diese sind natürlich nur für den Hausgebrauch oder eben in Eurem privaten Umfeld bestimmt.“
Die Inanspruchnahme des Wortes „Widerstand“ geschah mithilfe einer, an der historischen Gruppe, „Die weiße Rose“, Beteiligten. Die inzwischen verstorbene Susanne Zeller soll mit Mitgliedern der Widerstandsgruppe bekannt gewesen sein, kam mit dem Leben davon und entdeckte als Hochbetagte ihre Sympathie für die Republikaner. Im Einflusskreis aufstrebender rechter Bewegungen diente sie als Vorzeigefigur und Legitimation für ihre Umwertung der Worte. Von Zeller ging angeblich die Idee aus, eine „Neue Weiße Rose“ zu gründen. Die Argumente dafür lägen auf der Hand, lerne ich aus einem Artikel der Webseite „politically incorrect“: Im Grunde wäre der Nationalsozialismus eine linke Bewegung gewesen und eigentlich ähneln sich Islam und Nationalsozialismus sehr. Der Islam folge einer faschistischen Ideologie. Daher war es logisch, dass sich Nazis und Islam damals verbündeten. Das erkläre auch, warum heutzutage der Islam von den Linken unterstützt wird. Und zwar, voilà, von den heutigen Nationalsozialisten, die sich selbst „Antifa“ nennen.
(Warum es dann von rechten Gruppen in Köthen Sprechchöre gab, die „Nationalsozialismus jetzt jetzt jetzt“ skandierten? Hm. Keine Ahnung.)
Jedenfalls verdeutlichen diese ideologischen und geschichtlichen Verdrehungen, warum die erste Reihe der Gedenkmärschler in Chemnitz sich zum Tragen weißer Rosen berechtigt fühlte. Denn ihre „Bewegung der Guten“ werde wie damals von Nazis unterdrückt, ihre Meinungen würden heutzutage von den Linken, sprich Linksradikalen, sprich Islamfreunden, sprich Nationalsozialisten verunstaltet und verboten, heißt es.
Dazu kommt, dass sich anscheinend seit Kriegsende die kollektive Erinnerung der Deutschen (und Österreicher natürlich) an den Zweiten Weltkrieg von einem als erzwungen empfundenen Selbstbild als Täter zum Opfer jener Erinnerungskultur gewandelt hat, verbunden mit der Überzeugung, dass alles so schlimm nicht gewesen sein kann. Und die stilisierte Nähe zu Juden, ob nun in der Vergangenheit oder der Gegenwart ermöglicht in der Folge umso diskriminierender gegenüber anderen Fremden vorgehen zu dürfen. Seelische Entlastung is everything.

Der Entwurf zu AfD-Wahlplakaten, auf denen Spruch und Verweis auf Sophie und Hans Scholl erstmals auftauchten, wurde damals verboten. Warum ist es also weiterhin erlaubt, frische und von lokalen Kräften produzierte Sticker und T-Shirts online zu verkaufen?
Und welches Wort soll ich nun verwenden, wenn ich vom historischen Widerstand gegen die Nazi-Diktatur sprechen will? Alter Widerstand? Linker Widerstand? Katholischer Widerstand? Oder gleich ein anderes Wort? Sowas wie, Widerspenst? Gegenkampf? Oder: Die Rose machen?
Und wie werde ich die Bilder der bescheuerten Sticker, die ab jetzt in meinem Hirn kleben, wieder los?


Sabine Scholl — Autorin und Essayistin, lebt in Berlin. Lehrtätigkeit in Portugal, USA, Japan, Österreich. Zuletzt erschien der Roman „Das Gesetz des Dschungels“ im Secession Verlag.