15. November 2017 — Demokratisierung

wir sind alle gegen nazis. keiner ist offen für nazis. sogar die tausenden rechtsrockfans kürzlich in themar, die alle möglichen lustigen t-shirts trugen mit aufdrucken wie I<3HTLR würden sich nicht selber als nazis bezeichnen. höchstens ironisch. wir alle sind gegen nazis. wir demonstrieren gegen nazis, schreien sogar mitunter sachen wie alerta alerta antifascista oder nazis raus oder so, tragen entsprechende t-shirts, haben freunde, die queer und nicht biodeutsch sind, ja, sind vielleicht sogar selber queer und nicht biodeutsch. wir sind gegen nazis. betreiben blogs gegen nazis. schreiben texte gegen nazis. betrachten trump mit einer mischung aus sorge und abgeklärtem sarkasmus. die pis-partei, die afd, sebastian kurz, den brexit. wir sind die guten. sind wir doch! einmal, in der straßenbahn, sind wir sogar gegen nazis aufgestanden. wir sind entsetzt über die polizeigewalt bei g20. wir hassen intoleranz. wählen grün oder links, wir kaufen im biomarkt ein und fahren fahrrad. wir sind gegen nazis. wir sind kulturell aktiv und nehmen am urbanen lifestyle teil. vielleicht machen wir sogar mal urban gardening. nazis würden nicht urban gardenen. wir bestellen espresso und croissant ohne akzent, wir wissen, wie man lahmacun ausspricht und wie ein sesamring schmeckt, wir sind keine nazis. wir tragen schwarz. wir streiten mit oma. wir hassen dresden als hauptstadt der bewegung. wir kämpfen für eine bessere, gerechtere gesellschaft in bewegung. wir sind entsetzt über die ertrinkenden im mittelmeer. wir begrüßen integrative theaterprojekte. wir sind teil einer elite. wir sind teil keiner elite: wir sind keine nazis. wir kämpfen für eine klassenlose gesellschaft. in indien wählen sie einen aus der untersten kaste zum präsidenten. wir sind keine nazis. nazis sind nazis: I<3HTLR. einen neuen typus politiker, der charisma und chuzpe hat. der sich nichts gefallen lässt. der auf der höhe der zeit ist, politisch wie technologisch und kulturell. wir können die gesellschaft der zukunft bauen, antikapitalistisch, sozial, nachhaltig. ein wahres utopia auf deutschem boden, geschichtsbewusst und fortschrittlich. wir sind die guten.

nazis = negative gefühle + spätkapitalismus.

nazis empfinden angst und neid, und daraus entwickelt sich hass. dieser hass geht nach außen, aber wie das so ist mit negativen gefühlen, oder sogar mit gefühlen insgesamt, geht der dadurch nicht aus mir selbst raus. im gegenteil. meine art damit umzugehen, wenn ich nicht ganz dumm bin, ist ironie. dunkle ironie. sarkasmus. I<3HTLR. oder gar zynismus. AUSCHWITZ UNIVERSITY. ich will provozieren. das seelisch-moralische äquivalent zu einem gesichtstattoo. hass, ein gutes gefühl. aber warum fühle ich mich abgehängt? warum habe ich nicht genug geld, um mir die dinge zu kaufen, die ich brauche? essen, wohnung, auto, großen fernseher? liegts an den gierigen juden? an den ausländern, denen alles in den arsch geschoben wird? an der politik, die den kleinen mann vernichten will?

wir sind keine nazis.

die antwort liegt in der logik des globalen systems. was man so als spätkapitalismus bezeichnet, wenn man slowenische pop-philosophen mag. das system ist nicht böse. nochmal: das system ist nicht böse. niemand ist böse. seit dem zweiten weltkrieg, dem weltenbrand, den die nazis mit ihrem zur utopie kultivierten hass entfacht haben, galt als maxime zum wiederaufbau zuerst und dann zur wohlstandsmehrung die maxime: wirtschaftswachstum. soziale marktwirtschaft. wenn es der wirtschaft gut geht, geht es uns allen gut. dabei wurden viele arbeitskräfte benötigt, in deutschland mehr, als nach dem krieg da waren, also kamen gastarbeiter. fußnote: da man sie nicht dauerhaft hier wollte, wurde eine parallelgesellschaft erschaffen, die nun wieder wunderbar als projektion für erwähnten hass dient. fußnote ende. mit den gastarbeitern kam der aufschwung. wunderbar. oder doch nicht wunderbar. fußnote: denn die wirtschaft ließ sich nicht beliebig weiter wachsen. fußnote ende. irgendwann gings langsamer, und dann kamen schlaue finanzmathematiker auf die idee, dass man ja mit geld selber auch geld verdienen kann, auch ohne real produzierte produkte. das war damals eine gute idee. aber insgesamt war das keine so gute idee. nun bildete sich eine blase. und als die letzten bremsen an den globalen finanzmärkten begannen, das wachstum wiederum einzudämmen, wurden sie kurzerhand gelöst, von vermeintlich linken politikern wie bill clinton und gerhard schröder. fußnote: leider war nun auch der letzte rest der sozialen marktwirtschaft beim teufel. sobald man nicht produktiv war, kam mit hartz IV ein mächtiges mittel zur disziplinierung und marginalisierung. fußnote ende. wir sind keine nazis. aber wir konsumieren. und wir wollen weiter konsumieren. und wenn wir nicht mehr konsumieren können, warum nicht, dann liegt das entweder an uns oder an den anderen. arbeit zuerst für deutsche. das problem ist: es gibt keine lösung. angela merkel ist nicht böse. sie kann aber keine andere antwort geben auf die wachsende soziale spaltung in der gesellschaft als mehr wirtschaftswachstum. gewinnmaximierung. kostenminimierung. konsumbedürfnis. wachstum. es gibt keine friedliche lösung.

wir sind keine nazis. wir sind die guten.


Konstantin Küspert — Autor, Dramaturg, Übersetzer, 1982 geboren in Regensburg. Studium der Germanistik, Politik, Philosophie an der Universität Wien und Szenisches Schreiben an der Universität der Künste Berlin. Von 2013 bis 2015 Schauspieldramaturg am Badischen Staatstheater Karlsruhe, dort u. a. Stückentwicklungen zu NSU und NSA sowie eine Bühnenadaption von Hermann Hesses Roman Das Glasperlenspiel. Für europa verteidigen, entstanden als Auftrag für das Theater Bamberg, erhielt er 2017 bei den Mülheimer Theatertagen den Publikumspreis. Ab der Spielzeit 2017/18 Dramaturg am Schauspiel Frankfurt.

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