20. Dezember 2017 — Demokratisierung

Und sie ist da. Geboren vor zwei Wochen. Kurz nach Zwölf. Von Ärzten in einen Brutkasten gelegt, erstversorgt und auf die Intensivstation gebracht. Denn sie kam viel zu früh, medizinisch gesehen. Ich sitze nun an ihrem Bett und es trennt uns eine durchsichtige Plastikwand. Ihr Essen sickert über einen Schlauch in ihren kleinen Bauch. Sie atmet und streckt Arme und Beine von sich. Nein, sie ist nicht zu früh, persönlich gesehen. Sie kommt zur rechten Zeit.

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Blick auf Wien — Autor

Denn draußen, jenseits der durchsichtigen Plastikwand, wird gerade alles vorbereitet, um die Gesellschaft zu verändern, in die meine Tochter geboren wurde. Noch vor zwei Monaten hatten ihre Mutter und ich für eine andere Gesellschaft gestimmt. Es sollte eine weltoffene sein, und eine freie. Eine, die sich solidarisch zeigt, mit Armutsgefährdeten, Schutzlosen und Benachteiligten. Die darauf achtet, dass Einkommensunterschiede geringer werden und soziale Netze gestärkt. Die darum weiß, dass Verantwortung nicht jenseits durchsichtiger oder undurchsichtiger Wände und Mauern endet. Meine Tochter ist derzeit angewiesen auf Hilfe, die ich ihr nicht geben kann. In solchen Momenten blickt man anders auf vorhandene Systeme, die viel Geld kosten und dennoch da sind – für alle. Auch für Mohammed im Wärmebett gegenüber. Für Oscar schräg im Eck. Leonie in Raum Zwei. Bashar gleich neben mir. Und die anderen Frühchen auf der Neonatologie.

Doch nun ist auch SIE da. Angelobt vor zwei Tagen. Kurz vor Zwölf. Die neue Regierung. Sie war zu erwarten, politisch gesehen. Und AN DER ZEIT, wie manche es nennen. Denn zu lange sei zugeschaut worden, wie diese Manchen es sagen, denn es seien nicht alle gleich zu behandeln. Es gäbe den Unterschied der Leistung. Gekoppelt an den Unterschied der Herkunft. Und das macht mich wütend.

Ich schaue derweil der Muttermilch zu, wie sie oben von der Ampulle durch den dünnen Schlauch nach unten tropft. Ich frage mich, was ich nun tun kann, was ich meiner Tochter geben kann, abseits der Milch, die ihre Mutter für sie abgepumpt hat. Ich drücke den Hebel an der durchsichtigen Plastikwand zurück, öffne die kleine Luke, stecke meine Hand hindurch und berühre sie sehr vorsichtig – vor Kurzem erst geboren, IN DIESE ZEIT. Und nein, denke ich, es ist ganz und gar nicht an der Zeit, dass diese Regierung neue Gesetze beschließt, die nachjustieren sollen, wo Versäumnisse passiert wären, denn diese Justierung wird das, was ich Gegenwart nenne, in vielen Belangen zurückdrehen, ins Vergangene. Diese Regierung agiert GEGEN MEINE ZEIT und jene meiner Tochter.

Ich lege meinen Mund also in die Öffnung und gebe ihr das, was ich geben kann: ich spreche sie an.

Liebe Tochter. Du kommst zur rechten Zeit. Denn ich möchte dir heute sagen, dass jenseits deines Bettes gerade alles verändert wird. Es ist ein Papier unterschrieben worden, das für fünf Jahre gelten soll. Und was darin steht, klingt anfangs noch nicht schlimm. Aber oft ist das Schlimme in sanfte Worte gekleidet. Und oft werden schlimme Worte, spricht man sie mehrmals und regelmäßig aus, gar nicht mehr schlimm empfunden. Und je mehr in den kommenden fünf Jahren all das zur Sprache kommt, was in dem Papier steht, desto selbstverständlicher und unumgänglicher wird es dem Land, für das das Papier gelten will, vorkommen. Ich möchte dir heute sagen, dass diese Sprache aber alles andere als unumgänglich, selbstverständlich, oder an der Zeit ist. Jede Sprache ist veränderbar. Und nie als solche gegeben. Gerade für dich, die du mit diesen Sätzen aus diesem Papier aufwachsen wirst, ist das eine Nachricht, die gut tut. Denn du bist Sprache. Du trägst Veränderung in dir.

Natürlich. Jede Veränderung dauert. Und nicht jedes Wort aus dem Papier der neuen Regierung wird die Gesellschaft, wie sie heute noch ist, aushebeln können. Aber so, wie für dich nun jeder Tag eine enorme Entwicklung bedeutet, an dem du scheinbar Unermessliches erlernst, dein Körper und dein Gehirn nicht nur wachsen, sondern Welt erfahren, in immenser Dichte und Intensität, Verknüpfungen und Grundfesten für alles Weitere geschaffen werden, so ist es auch mit den Sätzen. Sie nisten sich in den Ohren ein, arbeiten sich in die Gehirne vor und hallen durch die Körper. Das kann Fundamente untergraben.

Daher verspreche ich dir heute: Ich werde achtsam sein, liebe Tochter. Ich werde nachfragen und mich nicht mit den ersten Antworten zufrieden geben. Ich werde wissen wollen, wo die geplanten EINSPARUNGEN BEI DEN FÖRDERUNGEN tatsächlich stattfinden, was hinter den Worten von EVALUIERUNG und ÜBERPRÜFUNG steckt. Ich werde aufzeigen, dass ein KINDERBONUS FÜR JEDES KIND kein Kinderbonus für jedes Kind ist, wenn es eigentlich um Steuererleichterungen für jene geht, die in bestimmte STEUERKLASSEN fallen. Ich werde ausrechnen, wer von einer Steuersenkung IN RICHTUNG 40 PROZENT tatsächlich profitiert. Ich werde mit anpacken, dass das PRINZIP LEISTUNG nicht das Prinzip Gerechtigkeit kaputtmacht. Ich werde dem EIGENTUM, von dem die Rede ist und das am EFFEKTIVSTEN scheinbar gegen Armut vorsorgen würde, die Bildung entgegenhalten, und die Emanzipation des Menschen. Ich werde auf Maßnahmen verschärfter SICHERHEIT mit geistiger Wachheit reagieren. Ich werde nicht aufhören zu sagen, dass ich für dich, kein System von ANREIZ, OUT-PUT UND DISZIPLIN will, sondern einen Raum, in dem Schule einkommensunabhängig und chancengerecht gedacht wird. Ich werde darauf hinweisen, dass ich mich von dem UNS vor der HEIMAT in diesem Papier, und von dem WIR vor der BEWAHRUNG nicht angesprochen fühle, und dass du, bevor du selbst beurteilt haben wirst, was die kulturellen VORZÜGE dieses Landes sein könnten, immer erst die kulturelle Vielfalt der Menschen erfährst. Und ich werde laut und immer lauter bezweifeln, dass FAMILIE EINE NATÜRLICHE KEIMZELLE DER GESELLSCHAFT sei, denn deine Mutter und ich, wir werden dich mit aller Liebe zur Gesellschaftskritik erfahren lassen, dass es weniger die Natur war, die uns gesagt hat, dass wir für dich da sind, sondern vielmehr die persönliche Entscheidung zu dir und zueinander. Auf keinem BODEN VOLLER STAMMBÄUME wird unsere Familie wurzeln, sondern auf der Fähigkeit zu denken. Das verspreche ich dir, liebe Tochter.

Ich weiß, das ist viel, was ich nun gesagt habe. Und allein meinen Finger zu umfassen, ist Anstrengung für dich. Daher werde ich dich unterstützen, dir helfen, dir aber immer auch Wahrheit und Wirklichkeit zumuten. Noch sehr viel mehr werde ich dir erzählen. Wir werden uns streiten. Du wirst mir widersprechen. Wir werden ausverhandeln, wo du mitgehen willst, und wo du deinen eigenen Weg findest. Aber wir werden nicht aufhören, zueinander zu sprechen. In Sätzen, die fähig sind, die Welt in ihrer Fülle zu erfassen. Sei es durch diese oder eine andere Öffnung zwischen uns, durch durchsichtige Plastikwände oder über Mauern hinweg. Vergiss das nie: die Welt, in die du vor zwei Wochen geboren wurdest, ist keine unverrückbare Gegebenheit der Umstände, sondern Aufforderung, sie selbst zu gestalten, deine Zeit.

Da ist die Muttermilch nun im Bauch meiner Tochter angelangt. Und ich spüre, wie ihre Hand plötzlich eigenwillig gegen die meine drückt, und einen Widerstand bildet.


Thomas Arzt — geboren 1983 in Schlierbach (Oberösterreich), lebt in Wien. Studium der Theater-, Film- und Medienwissenschaft an der Universität Wien. Schreibt Lyrik, Prosa, Essays, Hörspiele und Theaterstücke.

→ http://www.thomasarzt.at