03. April 2019 — Land/Stadt

Geht der Bleimfeldner Karl, April 1938, geht er die Ortsstraße hinan, vom Bleimfeldnerhaus, wo der Vater ein Schuster und er schon gar nicht mehr wirklich daheim, weil er doch lang schon fort. Ein Studierter, der Bleimfeldner Karl, aber trägt das Zuhaus noch in sich, samt Schustervater und Näherinmutter, kleinbürgerlich die Sippschaft allesamt. Ganz bist ja nie weg, auch wennst nimmer da, denkt sich der Karl und spürt so etwas wie eine Verwurzelung, erstmals vielleicht. Und die Mutter hebt mahnend die Hand, im Kopf vom Karl, soll er den Gang unterbrechen?

Jetzt muss er an das Gespräch von gestern Abend denken, als er angekommen ist, mit dem Zug aus der Stadt. Die Mutter beim Tisch in der Kuchel, weißt, Karl, ist halt nimmer wie früher, und sie hat dabei zum Fenster rausgeschaut, wo drüben beim Platzer die Dorfjugend auf ein Bier, den Hitlergruß ganz artig und musterhaft vorführend, lächerlich, denkt der Karl. Die gleichen Burschen haben vor Kurzem noch artig und musterhaft den Herrgott beschworen. Nicht mehr wie früher, wiederholt die Mutter, und setzt fort, weil wichtig ist, egal was kommt, die Familie. Schaut in die Runde, mit Mutteraugen, war da eine Angst? Angstmutteraugen schauen in Angstvateraugen. In Angstschwesterhänden blitzt ein Messer, willst ein Brot, Karl?

Egal also was kommt, denkt sich der Karl, den Abend von gestern im Kopf, und steht jetzt schon auf Höhe Baronteich, da ist einst die jüngste seiner Schwestern, lang lang ist's aus, die ist da hinein, in der Nacht, und nimmer raus. Das Kind konnt nicht schwimmen, eine Tragödie. So kommt ihm seine Verwurzelung recht schwerwiegend vor, und schwer muss er atmen, obwohl's doch ein sonniger Tag, ein Sonntag. Als würden's mich nach hinten ziehen wollen, die Heimatwurzeln, mich festhalten: tu's nicht! April 1938 und der Ort ist geschmückt.

Da stellt sich wer in den Weg, wirft einen Schatten auf ihn, an diesem Sonnensonntag, servus Karl. Und der Karl schaut rein, ins Gesicht von der Korn Cilli. Gar nicht bei der Mess, Karl? Und die Korn Cilli baut sich auf, einen Kopf kleiner, aber heut in einer Aufgerichtetheit. Hab gehört, hast was Dummes vor, hast doch nix Dummes vor, bist doch nicht dumm, und die Worte haben was Anmaßendes, heut redet die Korn Cilli als würd sie in die Höhe schießen, weil sie ja die Tochter vom neuen Bürgermeister, der ja auch ein Hochgeschossener ist, mit Parteigewalt, so ist die Cilli mitgewachsen, mit Vater, Familie, der gesamten Gemeinde: und eine nicht dagewesene Größe spricht aus ihr. Ist heut ein Freudentag, Karl, den wirst doch nicht zu einem Verderbnis machen wollen. Wem sollt er hier was verderben? Wen wollt er denn hier mit reinstürzen, ins Verderbliche? Der Mensch verdirbt sich sein Leben schon ganz von selbst, fällt es aus dem Karl raus, in einer nüchternen Klarheit, auf den Kopf von der Cilli, hat sie's gehört, die Bürgermeistertochter? Hat dieser Bürgermeistertochterkopf überhaupt die Ohren fürs Nüchterne und Klare? War doch immer die erste, die in Euphorie beim Faschingsball sich selbst vergessen wollt und die Burschen einen nach dem anderen verschlingen hätt können, oder ist er jetzt nur eifersüchtig? Hätt der Karl gern was von dieser euphorischen Selbstvergessenheit abbekommen? Und von der Korn Cilli ihren verschlingenden Lippen. Verrennt sich der Karl in etwas, am Gang zur Wahlurne, wo er sich am Sonnensonntag zu einer Dummheit hinreißen will lassen. Wer reißt hier wen? Ist doch eine ausgemachte Sach, Karl, der Anschluss ist lang schon passiert, und da lacht die Korn Cilli, fast freut sich hier ein Mensch ganz ohne Vorbehalt, sie freut sich wirklich, denkt der Karl. Da wird doch auch der letzte kritische Geist sein Einsehen haben müssen, sie schubst den Karl, war das liebevoll? Sorgt sie sich um sein Wohlergehen? Doch der Karl sieht das alles gar nicht, ist beschäftigt mit sich selbst, denn er sieht in sich hinein. Sieht sich als schmollenden Jungen, der mit Stimmbruchstimme nur sagen will: seht her, der Karl kann, was ihr nicht könnt. Ist es also Trotz? Übermut? Oder ist hier ein Spieler am Weg das größtmögliche Risiko einzugehen. Und alle werden's wissen. Hier bleibt nichts geheim.

Er drängt sie zur Seit, was bist denn selbst nicht bei der Mess? Und geht weiter. Entschlossen, das Dumme zu tun, das für ihn das einzig Denkbare, für den werdenden Juristen aus Innsbruck, der sich mit dem Recht rumschlägt und manchmal mit Gerechtigkeit, der als Studierender noch nicht aufgegeben hat, auch die Gerechtigkeit im Recht zu suchen. Geh, Karl, redest wieder so oberlehrerhaft, kannst dir dein Reden in deinen Juristenarsch, und er kriegt einen Tritt nun von der Cilli, von hinten, dann läuft sie weg, das Lachen von davor ist nun bösartig angeschwollen, es wird bald aus allen Häusern hier so gelacht werden. Und er muss sich halten jetzt, der Karl, der nicht sonderlich von der Statur, der wenig an Muskelmasse, schwach auf der Brust. Hätte lieber Pfarrer werden sollen, wie der Vater es vielleicht gewünscht: die was im Kopf haben in der Familie, sollen ins Kloster, da haben's ein Auskommen und die Familie ein Ansehen, aber was ist der Jurist im fernen Innsbruck? Wie kann er sich's Leben leisten? Ist der Vater stolz auf den Sohn? Und macht der Sohn dem Vater, der hier im Dorf ein angesehener Mensch, nicht eine Schande heut. Kaum zurück aus der Stadt, in seinem städtischen Gang , in seiner städtischen Bekleidung, fast befremdlich, keiner mehr von uns! Ja, wer denn sonst, könnt das Dorf heut hier verraten, wenn nicht der Karl?

April 1938 und der Zurückgekehrte ist der letzte Uneinsichtige. Denn seit dem sonderbaren Licht im Jänner haben es hier im Dorf doch alle schon gesehen, eine Vorahnung war's, so sehr, dass die Ahnenden bereits Überzeugte: die neue Zeit ist da. Hat gestrahlt, das Licht im Jänner, so rot und sonderbar, als ob ein Feuer über den Feldern, im Wald. Sind rundum in den Gemeinden im Jänner die Feuerwehrleut sogar ausgerückt, um den Brandherd zu suchen, aber war kein Brand, ein Sonnenphänomen. Später wird's ein Flächenbrand der verführten Herzen gewesen sein. Und vom Kalvarienberg aus hat man den besten Blick gehabt, alle sind's gestanden, haben sich's angeschaut, was als Verheißung bald, als Prophezeiung. Der Führer leuchtet uns. Das hat so sehr die Augen aller verdreht, dass es nicht lang gedauert hat und die Nazisburschen haben am Hochkogel ein Feld ausgebrannt, sodass von weither das Hakenkreuz. Haben das Hakenkreuz ins Feld rein. So hat es die Mutter am Vorabend erzählt. Gebranntmarkt mein Dorf, das denkt der Karl noch heut. Und alle lachen mich aus. Und alle werden mich davonjagen. Und was passiert mit der Familie? Ist das das Verderbnis, in das ich laufe? Was zählt eine lächerliche Stimme? Der Gemeinderat ist an dem Tag, an dem der Karl die Ortsstraße raufgeht, schon aufgelöst. Der Altbürgermeister abgesetzt, wie konnt das so ohne Gegenwehr?

Wo war die Gegenwehr? Das hat er die Schwester gestern vorm Schlafen gefragt, bei einem Schnaps vor dem Haus, und die Schwester hat nur gemeint, verbrenn dir nicht die Zung. Er hat sich in einen Wahn geredet, heißt es später, hat da wohl die Welt retten wollen, hat halt gedacht, er tue was Gutes. Aber das Gute, Karl? Ist es nicht manchmal fehl am Platz? Wie weit kannst du denken, als Einzelner, wenn die Zeit schon nicht mehr vor der Tür, wenn sie schon mit dem Auto über die Grenze herein und durch die Straßen des Landes und das Jubeln doch in einer Übermacht. Übermacht, Karl. Und dann ist sie schlafen, die Schwester. Aber wo stehst denn du, auf welcher Seit? Wollt er ihr noch nachrufen. War aber das Schweigen schon zwischen ihnen. Die Nazis hab ich nie gemocht, wird sie später immer sagen, weil die doch gegen Jesus waren.

Und so stapft der Bleimfeldner Karl weiter, die Hand aufgeschürft, weil er sich abstützen hat müssen, weil ihn doch die Bürgermeistertochter in ihrer Grobheit, hätt er sich das nicht gefallen lassen sollen? Er ist nicht da, um irgendeine Rechenschaft abzulegen, ein Eingeständnis zu verlangen, der werdende Jurist will hier nicht sein Heimatdorf zurechtweisen, geht ihm um keinen Stolz, oder doch? Selbstherrlich, der Rechtsuchende?

Nun steht er auf Höhe Friedhof, unterhalb der Gitter, da hat sich der Hubert fast aufgespießt, als er wieder in einer Selbstüberschätzung zu viel gesoffen, der kleine Bruder, Sorgenkind, Schwarzes Schaf, hätt er sich fast derrannt. Recht g'schieht ihm, dem Unruhestifter. Da war der Karl immer der Anständige, auf den ist Verlass, der hat was gemacht aus sich. Und es gibt sie ja doch, die Sätze, die von der Hochachtung erzählen, die ihm von der Familie entgegengebracht wurde, alle Achtung! Der Karl! Und jetzt wird der Fall noch tiefer, der Anstandssohn, wie konnt er nur! So schaut er jetzt direkt rauf, aufs Stift. Die beiden Türme, darunter die steil ansteigende Schotterstraße, rechts lugt das Volksschuldgebäude hervor. Er könnt diesen Blick mit geschlossenem Auge zeichnen, weil er hier immer hoch hat müssen, der kleine Karl mit der großen Taschen im Arm, die Schläg schon spürend, die er vom Herrn Oberlehrer, die tun dir gut, Karli, nur so wirst dir ein Rückgrat zulegen. Hat er es den Oberlehrerschlägen zu danken, dass er als ausgewachsener Mensch nun seine erste wirkliche Dummheit vorhat? Will mich nicht mehr brechen lassen, wimmert der kleine Karl unter der Tuchent. Wo beginnt die Gegenwehr? Wie kann sich Widerstand äußern, im schmächtigen Körper, der zur Anpassung erzogen. Oder wächst die Courage erst dort, wo die Schläge des Daheims schon hinter dir? Die Glocken schlagen, reißen ihn aus den Gedanken. Neun ist's. Und alle sitzen's in der Mess.

Das ganze Dorf hört den Herrn Pfarrer, der spricht jetzt von der Kanzel. Eine schwere Zeit, sagt er, eine Zeit, die den Glauben braucht, sagt er, die das Vertrauen braucht, auf Gott, und er liest aus dem Evangelium. Was für ein Evangelium soll denn für diese Zeit hier herhalten, Herr Pfarrer? Schande, wer die Worte so weit von sich weg auszulegen beginnt, dass einem der Arm zu kurz wird, um das Gesagte zu begreifen. Was Auslegung heißt, nennt der Karl Lüge. Das will seine Schwester nicht hören. Die Kirche kann ja auch nicht aus ihrer Haut. Jetzt singt ein Chor in einer weit entrückten Schönheit. Der Mund des Karls geht ungewollt auf, als ahmte er nach, was im Kirchenschiff drinnen nun die Seelen trösten soll: der Stein ist weg, das Grab ist leer. Und in einer großen Nervosität tritt der Karl in den Stiftshof, wann war er denn das letzte Mal, wie gottlos hält'st du's denn in der Stadt? In Innsbruck sind die Nazis ja noch viel schlimmer, und die Schwester meint damit wohl das Verhalten des Dorfes entschuldigen zu können. Der Karl geht die Stiftsmauer ab, die Finger krallen sich in weißen Kalk, er schaut zwischen die Gitter der Fenster, sieht die spaltbreit offene Tür zum Konvent, da huscht er hinein, was treibt ihn?

Jetzt schleicht er durchs Halbdunkel, hört drinnen im Kirchenschiff das Gebet, und vergib uns unsere Schuld. Wie ein Verräter umrundet er tatsächlich nun sein versammeltes Dorf, zittrig lehnt er da, riecht den alten Staub. Da war er als Gymnasiast. Hat auf lateinisch das Vaterunser heruntergeleiert, sich im Internat auf harte Betten gelegt, im Hof seine Runde gedreht, die Tugend einer zisterzienserischen Demut sich einverleibend, das Regiment einer harten Zeit am Knabenkörper erfahrend, und somit die Erkenntnis, dass schon lange vor den Hakenkreuzen am Hochkogel und am Heldenplatz in diesem Lande den starken Führern gehuldigt worden ist. Wann hat's begonnen, mit der Unterwerfung des aufgeklärten Geistes? Wie bringst einen Menschen zum Runterdrücken des Kopfes? Wer ohne Narbe ist, werfe den ersten Stein. Und welcher Blick ist dir gestattet, ohne Zucht und Ordnung zu fürchten: der aufs Kruzifix, die Händ beisammen, im Herzen nur wimmernd und dürstend nach welcher Erlösung auch immer, oder jener auf die Straße raus, wo Heimwehren und Schutzbünde lang schon aufgerüstet haben, für eine Welt, die sich zum Abschlachten versammeln wollte: der neuen Zeit gehen immer schon andere neue Zeiten voran! Und voll Zorn schlägt der Karl nun in die Mauern seiner Jugend, es bröckelt der Stein, er will schreien, ein bislang ungehörtes Aufbegehren, wir wussten doch alle, was wir tun. Der Segen wird drinnen gesprochen, jetzt ist die Messe aus und das Dorf wird seine Stimme abgeben. April 1938, ein Bekenntnis des Frevels.

Er flieht ins Freie, braucht frische Luft. In so einem Klostergang atmet man die Jahrhunderte, da rast die Geschichte am inneren Auge, marschiert über dich hinweg, zertrampelt dich. Da werden Bauernkriege geführt und Kaiserreiche verheiratet, Aufrührer geköpft und Hochzeiten am Baronteich gefeiert, ein Großaufgebot damals für den Baron, und das ergebene Lehnsvolk winkt mit Blumen, da war der Karl noch nicht auf der Welt, aber erzählt hat man's ihm, tausendfach. Was für ein Märchen, Karl. Waren's die selben Blumen, Mutter, die du nun deinem Führer? Und der Vater schustert die Kriegsmontur zurecht, der Bruder rennt kopfüber in die nächste Selbstüberschätzung und die Schwester schmiert, panisch das Messer, unheilvoll der Blick auf die Madonna im Eck, das Brot, jetzt iss doch was, Karl, schaust schlecht aus, vielleicht tut das Denken einem nicht so gut wie der Glauben. Und das Hoffen. Bekreuzigt sich. Sie betet jetzt sicher für ihn.

Nun geht er schnell, der Bleimfeldner Karl, ist ins Wanken geraten. Er rennt vorbei an der Außenmauer durch den kleinen Tunnel am hinteren Stiftstrakt, hoch zum Kalvarienberg, den Kreuzweg, Station für Station, oben steht eine Bank vor der Kapelle, da wird er übers Tal blicken, das ihn immer noch kennt, das Tal, es muss ihn kennen. Er ist kein Fremder. Er tut es, weil er eben genau einer von hier. Und das Hier und Jetzt erfordert's, so denkt es sich der Karl. Und irgendwer wird sie verstehen. Meine Tat.

Er ist zusammengesunken, atemlos, am Hang abgerutscht, es hat doch geregnet am Vortag, die Hand im Dreck, der Mantel, die Hose, die schönen Schuhe. Er wird dreckig zur Wahlurne schreiten. Und die Blicke der Dorfgemeinschaft sitzen ihm im Nacken. Es wird ihm egal sein. Und er wird nicht fliehen. Er wird nicht davonrennen. Er wird gemütlich seinen Sonntag verbringen. Er wird mit der Mutter und dem Vater eine Wanderung unternehmen, beim Bauern einen Schafkäse essen, einen Most trinken und nicht mehr von Politik reden wollen. So denkt er sich das und weiß um die Verlogenheit seiner Vorstellung. Rollt sich eine Zigarette, wendet den Blick, raucht. Tränen in den Augen, die eine bekannte Gegend finden wollten. Vergebens. Kein Tal mehr, das ihn auffängt. Drunten rattert nur ein Zug hinaus, wohin? Auch Züge werden nun kontrolliert, brauchst Unbescholtenheit fürs angenehme Leben in Diktatur. Er muss sich übergeben. Wirst in den Krieg hineingezogen, Karl, das weißt. Als einer der ersten, und keiner wird dich schützen können. Der Führer kennt seine Feinde.

Jetzt raucht er fertig, zertritt den Stummel, das Ausgespiehene sickert in den Untergrund. Und der Bleimfeldner Karl geht zur Abstimmung.

Am 10. April 1938 stimmte Karl Bleimfeldner, der Onkel meines Vaters, als einziger in der Gemeinde Schlierbach gegen den bereits vollzogenen „Anschluss“ Österreichs an das nationalsozialistische Deutschland. Sein Studium musste er bald nach Kriegsbeginn für den Kriegsdienst abbrechen. Diese Erzählung ist Beginn einer ersten Annäherung an eine Familiengeschichte.


Thomas Arzt — geboren 1983 in Schlierbach (Oberösterreich), lebt in Wien. Studium der Theater-, Film- und Medienwissenschaft an der Universität Wien. Schreibt Lyrik, Prosa, Essays, Hörspiele und Theaterstücke.

→ http://www.thomasarzt.at