05. Dezember 2018 — Demokratisierung

Im Rahmen von ÄNGST IS NOW A WELTANSCHAUUNG im Juni diesen Jahres im Ballhaus Ost Berlin entstand die Idee eines Ministeriums für Mitgefühl. Als Schwester der Hydra spricht nun die Ministerin ihre Antrittsrede:

Die Ministerin sagt: Ich möchte kein Wort mehr verlieren. Wieso eigentlich 'verlieren'?

Sie ist ein Mensch – und doch gut. Und sie ist kurz davor, ihr Mitgefühl zu verlassen …

Sogar Napoleon sagte: „Ein wirklicher Mann hasst niemanden.“

Meine Ärztin sagt, essen Sie 1 Gedicht. Ich weiß nicht wie man es kocht, sage ich.

Das Wort „Profit“ bedeutete einst: „Gewinn für die Seele."

Es ist Heuchelei, zu sagen, dass es um die freie Debatte ginge. Hass lässt sich verkaufen. Hass ist Geld. Literaten machen Minus. Es bräuchte Minus 100 Literatinnen, um einen Sarrazin zu ersetzen.

Das Problem mit einem Buch ist, dass man nie weiß, was drin steht. Bis es zu spät ist.

Die Ministerin sagt: Ich brauchte lange, um zu verstehen, warum die Tür geschlossen bleibt. Dass die Lichtschranke nie auf meinen Körper reagiert hat, sondern immer nur auf den Körper des Mannes vor mir.

Dont ́cry – work.

Ich habe auf Eurem Markt nichts verloren.

Diese Anstrengung muss man sich einmal vorstellen. Da gibt es dieses Ur-Buch, das den Mann an sich erst mal überflüssig macht. Was anderes ist denn bitte die unbefleckte Empfängnis? Und aus diesem Buch musste die Kirche das Patriarchat stricken.

Darf ich Ihnen mein Buch zu Füssen legen.
- Wenn Sie mir meinen Fussboden nicht schmutzig machen.
Sie wollen mein Buch nicht lesen? Macht nichts. Mein Buch ist schwer und gut geschnitten. Es eignet sich bestens zum Werfen.
Aua. Sind Sie verrückt. Die Poesie ist doch eine erbärmliche Form, sich zu entschuldigen.

Die Ministerin sagt: Schreiben und weinen steht auf dem Tagesprogramm. Ich trage einen Flieder im Ärmel.

Ich weine noch immer, wenn Menschen im Mittelmeer ertrinken. In letzter Zeit werde ich selten zu Geburtstagen eingeladen.

Wieviel Gewalt steckt in meinem Mitgefühl? Es ist einfach, auf den Gräbern der Nazis rumzutrampeln. Sehr viel schwieriger: ihre Spuren in sich selbst zu suchen.

Es gibt Wissen, das hält ein halbes Jahrhundert vor. Wir haben nichts verlernt. Wir wissen noch, wie man Steine schmeißt, wir wissen noch, wie man Menschen jagt.

Die Ministerin sagt: Ich möchte fast glauben, wir alle sind Gespenster. Es geht in uns um, was wir von Vater und Mutter geerbt haben.

Und dann öffnet sich sein Mund in deinem Licht.

Ab 42 wusste fast jeder, was im Osten geschah. Es war Berechnung und Angst, die alle weitertrieb. Angst vor der Rache.

Angst ist keine politische Kategorie.

Eis dir zwischen die Zehen, Zarthäutiger. Ich bin die Nachfahrin der Denunzianten. Meine Vorfahren haben die Briefe geschrieben, die ihre Nachbarn in die Lager gebracht haben. Ich bin die Nachfahrin derer, die davon nicht sprechen.

Diese Texte waren doch mal Stimmen in einer oralen Gesellschaft. Warum gingen die verloren, oder warum hört die keiner mehr?

Ich lege den Text mit dem Gesicht nach unten.

Die Ministerin sagt: Ich mache mir Vorwürfe. Du pflegst dann einige solidarische Kraftworte in die Debatte zu werfen. Aber so einfach ist das nicht.

Das Mitgefühl ist eine vom Aussterben bedrohte Art. Das Mitgefühl hat einfach keine Lobby.

Empathie ist das Produkt einer Anstrengung. Anstrengung: diese glanzlose Cousine des Impulses.

Und natürlich hatte ich, weil ich doch zu Übertragungen neige, als sie sich den linken Schneidezahn ausbrach, sogleich das leibliche Gefühl, ich hätte meinen linken oberen Schneidezahn eingebüßt, und ich tastete mit meiner Zunge immerzu dorthin wo er gewesen war, eigentlich wo er noch immer war.

Mein Denken kann sich manchmal nur schwer von meinem Körper emanzipieren.

Die Ministerin sagt: Ich schreibe für die Unsichtbaren, die Vergessenen, die Verlorenen. Aber ich bekomme nichts als Fehlermeldungen. Dieses Glück ist in deinem Land nicht verfügbar.

Ist es so, dass man im Land der Täter kein Gehör für Opfer findet?

Warum wird alles Reden über diese Dinge abgewürgt? Warum mit einer Mischung aus Desinteresse und Angst betrachtet?

Geht bloß weg. ich will Eure Angst nicht.

Kritik ist kostenloser Unterricht.

What can you do for your country?

Die Ministerin sagt: Nicht: die einen sind reich UND die anderen sind arm. Die einen sind arm, WEIL die anderen reich sind. Wo soll ich denn jetzt bloß mit den 30 Plasmafernsehern hin? Wir fressen dem Rest des Planeten die Haare vom Kopf. Und dann reden wir von „Wirtschaftsflüchtlingen".

Ich kann in diesem System keinen melodischen Fluss erkennen. Nur systematische Mieterhöhungen. 

Wünschen Sie sich auch manchmal mehr „Sichtbarkeit“, anstatt mehr „Schichtarbeit“? Wollen Sie auch manchmal ein bisschen mehr „Halt“? Oder doch lieber mehr „Gehalt“?

Was ist denn da draußen los? Lauter Millionäre, die sich im Schnee wälzen.

Geld ist ein kaltes Thema. Ich bade sehr viel.

Nicht die Farbe der Haut, die Farbe der Macht, entscheidet für oder gegen das Leben.

Ach deshalb gewinnen die immer … Ich darf ja noch nicht mal nein sagen, wenn mich dieser Scheißer ohrfeigen will ...

Je mächtiger die Macht ist, desto stiller wirkt sie.

Die Ministerin sagt: Jedem Weltbild, jeder Haltung, jeder Veränderung geht Sprache voraus.

Was denkt ihr, was macht ein schwuler Kommunistenaraber in Marzahn? Er kauft sich vielleicht Marzipan, aber sicher kein Lakritz.

Einer sagt: Ich hab nichts gegen Homos. Weil ich nämlich was gegen Muslime habe. Die haben was gegen Homos. Deshalb hab ich ja auch was gegen Muslime.

Lesen Sie da den Koran? Oder ist das Ihre Asylakte? Oder Goethes Faust in arabischer Übersetzung?

Aber Schengen ist doch keine Religion!

Fünfzig Jahre ist es her, dass ein Flugzeug die erste Gruppe anatolischer Frauen nach Deutschland geflogen hat. Zum Arbeiten. Fünfzig Jahre ist es her, dass Bauern zu Fabrikarbeitern wurden und die Gitter über ihnen wurden zum Rautenmuster auf dem Rock der Geliebten. Fünfzig Jahre und seit siebzig gibt es die Republik. Deutschland ist nur zwanzig Jahre älter als ich, aber ich bin immer noch Türkin.

Die Ministerin sagt: und die Worte meiner Sprachen liegen aufgelöst in mir. (Wiederholen auf Türkisch, wiederholen auf Farsi, wiederholen auf Englisch)

Frage: Wie lange hält man es eigentlich in der Wüste aus? Antwort: Ich bin in einer Millionenmetropole aufgewachsen.

Die Ministerin sagt: Einen migrantischen Hintergrund hat so ziemlich jeder Mensch in diesem Land.

Die Augen sind staubverklebt, die Finger klamm, die Landnahme wütet in unseren Herzen, aber so gut wie heute ging's uns doch selten. Oder vielleicht noch nie? Oder?

Habe 1 lichterlohes Frühstück mir einverleibt, brandneues Frühstück.

Und mein körper bleibt verschont. Hinter mir brennt meine familie. Und wie ich im feuer nicht verbrenne wie mein körper dem feuer entkommt wie ich nicht mit allen anderen zusammen und dann brennt mein haus und meine familie springt aus den fenstern und meine familie brennt in meinem haus.

Es ist ein Irrtum zu glauben, man wäre nicht betroffen. Nur weil man nicht betroffen ist.

Die Ministerin sagt: Schon immer wurde von der Gefahr von Links geraunt. Fast immer kam die Gefahr von Rechts.

Kennen Sie den Mond Europa? Man sagt unter seiner dicken Wassereishülle gibt es einen warmen Ozean, 100 km tief.

So altmodisch, Zusammenhänge wirklich verstehen zu wollen. Das dauert einfach zu lange. Während ich versuche, zu verstehen, was eigentlich passieren muss, damit ein Mensch nicht mehr mit unserem Mitgefühl rechnen kann … //

(unterbricht)/ / Bitte keine Vatertränen. Ich kann keine Vatertränen mehr sehen.

Eine Frau im Himmel. Schwieriger als man denkt. Da gab es diesen Streit, ob eine Frau mit ihrem Geschlechtsorgan überhaupt in den Himmel kommen dürfe. Da sie Gott damit Konkurrenz mache.

Die Ministerin sagt: Ein Mann, der sich selbst verliert, wehrt sich gegen die Angst, indem er seine Frau das Fürchten lehrt.

Liebe ich wirklich so, wie ich zu lieben glaube?

Und jetzt … langsam … steigt meine Körpertemperatur. Der Tastsinn spürt die ersten zärtlichen Reize. Wir schauen uns in die Augen und denken:

Manchmal pocht mein Herz gegen meine Rippen. Und dann sind meine Rippen glücklich.

Your body is poetry.

Verliebt sein heißt, sein Gesicht verlieren und es hinnehmen. Also kein Gesicht verloren zu haben.

Die Ministerin sagt: Ich brauche Vergebung. Vergebung für das, was ich nicht vollständig weiß.


Ministerium für Mitgefühl — Das Ministerium für Mitgefühl ist ein Kollektiv von Autorinnen und Künstlerinnen, das emphatischen Widerstand leistet: gegen die Verrohung der Sprache und soziale Kälte.
Die Idee zum Ministerium für Mitgefühl entstand im Rahmen der von Nazis & Goldmund veranstalteten Konferenz ÄNGST IS NOW A WELTANSCHAUUNG. https://ministerium-fuer-mitgefuehl.net